Kentin wandte sich zu dem Rothaarigen um und warf ebenfalls einen Blick in das Zimmer. Was er sah, war verstörend. Die Fenster waren vernagelt wie alle anderen, doch durch die Ritzen schien noch etwas der roten Frühabendsonne und erhellte eine bedrückende Szenerie.
Sie standen in einem Kinderzimmer, ganz offensichtlich. Auf einem alten Regal saßen ein paar verstaubte und von Motten zerfressene Stofftiere, aber viel zu hoch, als das ein Kind sie erreichen könnte. Die zwei schmalen Fenster in dem Raum waren massiv vergittert und das Bett, das auf den ersten Blick normal aussah, wies eine erschreckende Besonderheit auf.
»Sind das ... sind das Handfesseln?«
Leo blickte schockiert auf die ledernen Ringe, die mit massiven kurzen Ketten an dem Bettrahmen befestigt waren.
»Was ist hier geschehen?« Kentin trat an den Kamin und betrachtete einige Utensilien, die jemand dort hatte liegenlassen. Spritzen und kleine Fläschchen, die allesamt leer waren. Er nahm eine davon in die Hände und drehte sich wieder um.
»Das hier sind starke Beruhigungsmittel ... stark genug für einen großen Hund oder gar ein Pony. Haben die das einem Kind verabreicht?«
Nathaniel lehnte sich an die Tür und sein Blick war gehetzt. Er atmete hörbar und sein Blick funkelte.
»Ich ... ich warte auf dem Flur. Ich kann diesen Anblick nicht ertragen ...« Und weg war er. Die anderen ließen ihn ziehen und sahen sich weiter um. Die Gitter waren fest eingemauert.
»Was war hier nur los?« Leo blickte Kentin an, der ebenfalls keinen Schimmer hatte. Sein Blick fiel auf einen alten Bilderrahmen auf einem Tischchen und er griff danach. Die Gesichter der Menschen, zwei Erwachsene und ein hellhaariges Kind, waren mit einem scharfen Gegenstand zerkratzt worden.
»Das hier muss es sein. Vielleicht war es krank? Eine Gefahr für sich und andere? Kommt, ich möchte auch hier raus, hiervon wird mir schlecht.«
Leo und Kazuya folgten ihm nach draußen, wo Nathaniel an der Wand gekauert hockte.
»Alles ok?«, fragte der Schwarzhaarige und der Blonde nickte leicht.
»J-ja ... es waren mir nur zu viele Personen in dem kleinen Raum. Ich bin ein bisschen klaustrophobisch.«
Langsam erhob er sich und Kentin öffnete eine gegenüberliegende Tür. Auch dieser Raum unterschied sich von den vorangegangenen. Das war kein Schlafzimmer, sondern sah wie ein altes Arbeitszimmer aus. Es enthielt einen großen Schreibtisch, Aktenschränke und einen Schrank mit jeder Menge Flaschen und Phiolen.
»Und hier wurden diese Mittel also aufbewahrt ... Gott, ist das krank.« Kentin nahm einen alten Ordner aus einem der Schränke und klappte ihn auf.
»Hier steht kein Name, aber hört euch das mal an: Das Kind neigt zu gewalttätigen Wutausbrüchen, die es erforderlich machen, es nachts an das Bett zu ketten, damit es sich und andere nicht verletzt. Ich sah mich gezwungen, ihm stärkere Beruhigungsmittel zu verabreichen, um seine Stimmen, wie es sagt, zum Schweigen zu bringen. Ich glaube, es schlägt ganz gut an. Es wird ruhiger. Mr. F. lehnt meinen Vorschlag, es in eine geschlossene Anstalt zu geben, nach wie vor ab. Ich weiß nicht, ob es aus Scham geschieht oder aus Scheu vor den enormen Behandlungskosten. Ich kann nicht mehr tun, als das Kind zu beruhigen. Ich bin nicht ausgebildet in der Behandlung von Schizophrenie und psychotischen Wahnvorstellungen ... Wow ... die haben hier ein geisteskrankes Kind gefangen gehalten. Abartig. Je schneller wir hier raus sind, desto besser geht es mir.«
Die anderen nickten und schlossen die Tür hinter sich. Leo wanzte sich wieder etwas an Kentin heran und murmelte leise: »Was, wenn er es ist?«
»Was meinst du?«
Kazuya und Nathaniel sahen gespenstisch aus im bläulichen Licht der Handylampen.
»Dieser Mod ... wenn er das Kind war? Ich meine ... wenn er dieses Haus hier zu einer Todesfalle umarbeiten konnte, muss er ja eine Verbindung dazu haben ...?!«
Die anderen grübelten über Leos Worte nach.
»Vielleicht. Das würde erklären, warum sich ein Mensch so etwas Krankes hier einfallen lässt. Lasst uns hier die Treppe runtergehen und die anderen beiden suchen.« Vorsichtig stiegen sie die Stufen wieder nach unten und sahen sich im Gang um.
»Jonathan?! Viola?!«, rief Kentin durch die Dunkelheit. Das Rot des Abends verblasste allmählich und der Tag neigte sich dem Ende zu. Ihnen stand eine weitere Nacht bevor und das Licht funktionierte nicht mehr.
»Hier muss es doch irgendwo Taschenlampen oder wenigstens Kerzen geben?!« Kazuya und Leo blickten sich um, als Nathaniel ein aufmerkendes Geräusch machte.
»Aber ja ... ich bin vorhin an einer Kommode vorbeigekommen, darauf stand ein Kerzenleuchter ... ich laufe rasch zurück und hole ihn. Hat einer von euch ein Feuerzeug?«
Kentin nickte und zog eines aus der Tasche. »Alte Angewohnheit. Ich hab bis vor ein paar Monaten noch geraucht. Aber pass auf dich auf, wenn du zurückgehst, ja?«
Der blonde Nathaniel nickte und huschte in der Dunkelheit davon. Die anderen riefen unterdessen nach den beiden anderen und gingen ein paar Schritte weiter den Flur entlang, bis sie in einer kleinen Halle ankamen.
»Sieht so aus, als hätten wir eine der Ecken des Anwesens erreicht. Seht, da geht der Flur weiter. Wir sollten hier auf Nathaniel warten und uns mal die Schränke ansehen. Aber seid vorsichtig, nicht das irgendwo noch ein Beil rauskommt oder so.« Kentin versuchte, einen Scherz zu machen, aber niemandem, nicht mal ihm, war zum Lachen zumute.
Langsam und auf alles gefasst öffneten sie Schubladen und Schranktüren auf der Suche nach Gegenständen, die die Finsternis vertreiben konnten.
»Ich habe eine Taschenlampe, aber ... die funktioniert nicht ... Kacke«, brummte Kazuya und legte das Gerät auf den Schrank.
»Ich hab hier eine Handvoll Kerzen. Hier, jeder von euch nimmt welche. Vielleicht finden wir den Sicherungskasten und können das Licht wieder einschalten.« Kentin verteilte die Stumpen und sah sich weiter um, als ein gellender Schrei durch den dunklen Flur zu ihnen drang, gefolgt von einem lauten Klirren. Sie alle zuckten heftig zusammen und sahen sich an.
»War das ... Nathaniel?«
Kentin rannte in den Gang zurück, in dem der junge Mann verschwunden war und fand ihn schon nach wenigen Metern. Er sah am Boden, weiß wie ein Laken, mehrere alte Kerzenleuchter in den Armen und zitterte fürchterlich. Vor ihm lagen im Licht des Handys bläulich schimmernde Scherben.
»Was ...? Alles in Ordnung?«
Nathaniel schnatterte und musste sich erst einen Augenblick beruhigen. »J-ja ... ich dachte nur, ich hätte hinter mir einen Schatten gesehen und als ich mich umgedreht habe ... war es ein verdammter Spiegel!« Der junge Mann keuchte und wischte sich seine Hand an der Hose ab. Kentin konnte sehen, dass sie blutete.
Hatte er das Glas mit der bloßen Hand eingeschlagen?
Diese Dunkelheit und dieses kranke Spiel würde sie noch wahnsinnig machen!
»Komm zu den anderen. Wir haben Kerzen gefunden.« Kentin half dem noch immer leicht zitternden Nathaniel auf die Beine und gemeinsam gingen sie zügig in den kleinen Raum zurück. Leo und Kazuya, die sich schon auf das Schlimmste gefasst gemacht hatten, atmeten erleichtert durch, als sie den verschreckten, aber nur leicht verletzten Nathaniel sahen.
»Mann, wir dachten schon, es hätte wieder jemanden erwischt ...«
Eine Weile herrschte Schweigen, da jeder versuchte, sich zu beruhigen und die Stille des Hauses legte sich wie ein Grab über die jungen Leute.
Schritte zogen die Aufmerksamkeit in den Gang, der aus dem Raum wegführte und sie sahen im Licht der angezündeten Kerzen die blassen Gesichter der bereits vorangegangenen Mitglieder Jonathan und Viola.
»Hey ... wir haben euch schon gesucht. Und wir dachten, dich hätte es erwischt, Nathaniel. Du warst plötzlich einfach weg ...«
Der Angesprochene nickte, schwieg aber. Kentin ging auf die beiden zu.
»Habt ihr etwas gefunden?«
Jonathan nickte. »Es gibt eine Tür, die führt in den Innenhof. In der Eingangshalle vorne muss auch eine sein, man kann sie von dem einen Ende des Hofes aus sehen. Aber wir haben sie wohl übersehen. Erstmal müssen wir zusehen, dass wir den Strom wieder zum Laufen bringen, der geht nämlich nicht. Ich habe eine Treppe gefunden, die könnte in den Keller führen.«
Kentin bestätigte, dass es wohl seine Schuld gewesen war, dass die Sicherung herausgesprungen war und sah seine Mitstreiter an. Sie sahen nicht so aus, als wollten sie in einen unterirdischen Raum steigen, in dem sie sich noch mehr wie in einem Grab gefangen fühlen würden. Aber ohne Licht würden sie keine Chance haben, versteckte Fallen zu entdecken. Es wunderte den Soldaten ohnehin schon, dass sie einen ganzen Tag herumgelaufen waren und nichts weiteres geschehen war. An die leblosen Körper von Iris und Kim wollte er nicht denken.
»Na gut, dann gehen wir in den Keller und machen den Strom wieder an. Wer kommt mit? Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit«, sagte Kentin entschlossen. Jonathan nickte und auch Leo griff nach Kens Hand.
»Ich komme auch mit. Kazuya und die anderen stehen dann Schmiere.«
Kazuya, dessen Nerven schon ziemlich angespannt waren, war so erschöpft, dass er am liebsten geschlafen hätte. Die jungen Leute folgten also nun dem Gang, aus dem Jonathan und Viola aufgetaucht waren und stießen nach nur wenigen Schritten tatsächlich auf eine niedrige Tür, die nach unten führte. Kazuya nutzte die Gelegenheit, um einige Kerzen mit Kentins Feuerzeug zu entzünden und nahm in einem Sessel Platz, der dort zur Zier herumstand. Er musste sich ausruhen. Viola war aschfahl und wagte nicht, sich weiter als ein paar Schritte von ihm zu entfernen und Nathaniel rieb sich die aufgeschürfte Hand.
»Danke«, sagte Kentin, als Kazuya ihm einen der Kerzenständer überreichte und Jonathan öffnete die Tür.
Der dunkle Schlund erinnerte an den Abstieg in einen Gully. Es war eng und irgendwie feucht und der Geruch nach Moder schlug ihnen entgegen. Leo warf einen letzten Blick auf seinen besten Freund und klammerte sich an Kentin, als sie sich an den Abstieg machten.
»Vorsicht ... hier unten ist es rutschig und alles voller Moos.« Jonathan, der mit seinem Handy leuchtete, wartete auf die beiden anderen und gemeinsam sahen sie sich in dem Loch um.
»Oh Gott, hier war bestimmt seit einem Jahrhundert niemand mehr«, murmelte Leo und bekam zustimmendes Nicken von den anderen beiden.
»Aber da! Da ist der Kasten.« Jonathan ging vorsichtig an den Stahlschrank heran und öffnete ihn problemlos.
»Pass auf dich auf.«
»Ja ...«, murmelte der bebrillte Mann und betrachtete die Sicherungen in dem Schrank. Vorsichtig legte er Hand an einen der Schalter und Leo kniff verängstigt die Augen zusammen. Doch nichts geschah.
Wenige Augenblicke später hörten sie aufgeregte Stimmen von oben und Kazuya rief nach unten: »Es geht wieder!« Eine Sekunde später flammte auch eine nackte und sehr schwache Glühlampe über ihren Köpfen auf.
Jonathan drehte sich mit einem Grinsen zu den beiden anderen um, die hinter ihm standen, und schlug den Schrank wieder zu. Niemand bemerkte den schmalen metallenen Streifen, der sich über den Boden zog und als Jonathan den Rückzug antreten wollte, traf sein Fuß ebendiesen direkt. Er stoppte mitten in der Bewegung und das ohnehin notdürftige Licht begann zu flackern. Kentin und Leo sahen sich fragend an und blickten schließlich zu dem jungen Mann.
»Was ist ...?«, wollte Ken zu einer Frage ansetzen, als der Mann fürchterlich zu zucken begann und die halblangen Haare auf seinem Kopf begannen, sich aufzustellen. Schaum blubberte ihm aus dem Mund und ein immer lauter werdendes Knistern war zu hören. Jonathan schien in Flammen zu stehen, doch war nicht in der Lage, seinen Fuß von dem leitenden Metallband am Boden zu nehmen. Er war wie festgewachsen, zuckte schrecklich wie eine elektrische Puppe und es begann, nach verbrannten Haaren und Haut zu stinken.
»Jonathan!«, rief Leo und wollte nach ihm greifen, doch Kentin zog ihn weg.
»Nein, mach das nicht, sonst ergeht es dir wie ihm. Wir müssen hier raus. Gott, warum haben wir nicht aufgepasst, worin wir stehen. Der ganze Boden ist nass. Raus hier, sonst sind wir auch gleich dran ...« Ken packte den etwas kleineren Schwarzhaarigen, presste ihn mit dem Gesicht an seine Brust und sprang die Stufen hoch, weg von der Wasserlache am Kellerboden.
»Was passiert da unten, das Licht flackert!« Kazuya steckte seinen roten Kopf in die Kellertür und sah einen verängstigten und weinenden Leo und einen geschockten Kentin auf den schmutzigen Stufen sitzen.
»Wir müssen hier raus, Kazuya. Nimm Leo und raus mit euch.« Der Rothaarige zog seinen besten Freund nach oben und Kentin folgte ihm erschöpft. Mit einem verkniffenen Gesicht schloss er die Tür hinter sich.
»Jonathan?«, fragte Viola leise.
Ken schüttelte den Kopf. »Es war eine Falle, wie immer. Der eingeschaltete Strom führte auch über den Boden. Er ist auf einen Draht getreten.«
»Oh Gott ...«, würgte die kleine Frau und musste sich an der Lehne von Kazuyas Sessel festhalten. Auch dieser und Nathaniel sahen bestürzt aus.
»Lasst uns in den Hof gehen, ich halte es nicht mehr aus hier drin. Der Gestank seiner Haut klebt mir in der Nase ...« Kentin ging ein paar Schritte und riss ruckartig die Tür zum Innenhof auf. Kalte Herbstluft fuhr ihm in die Lungen und er atmete tief durch. Jetzt waren sie nur noch zu fünft.
Verdammt, wenn das so weiterging, waren sie bis zum nächsten Abend alle tot!
Und als wäre der Horror nicht schon groß genug, erschallte auch dieses Mal diese schaurige Melodie durch die verlassenen Gänge des Hauses, als wollte sie den Tod eines weiteren Mitstreiters beklagen.
»Ich halte das nicht aus!«, kreischte Viola und rannte nach draußen.