Kazuya drückte Leos Hand und der stand mit offenem Mund da. Kentin blinzelte und rümpfte die Nase.
Sie standen in einem schmalen Gang, vielleicht zwei Meter breit, der rechts und links mit Fackeln – ja, richtigen Fackeln – beleuchtet war, die leicht rußten und die Ursache des Ölgeruches sein mussten.
»Das ist ... Gott ... total krank.« Kazuya murmelte und sah sich in dem Gang um. Das Feuer hatte ihn aufgeheizt und das Flackern warf sonderbare Schatten an die Decke. Es war, als würden irgendwelche Dämonen über die Decke tanzten.
»Das macht mir Angst.«
Kentin machte einen vorsichtigen Schritt in den Gang und sah sich um. Die sonderbare Holzvertäfelung ließ nicht erkennen, ob sich Fallen in den Wänden befanden.
»Macht leichte Schritte. Je schneller ich hier weg bin, desto beruhigter bin ich.«, wisperte er und tappte vorwärts.
Die anderen taten es ihm nach. Leo kniff die Lippen zusammen, da der Ölgeruch sich auf seinen Kopf legte.
Erschrocken hielten die Drei plötzlich inne und sahen sich an. Die Musik hatte wieder eingesetzt. Das Knarzen der alten Spieluhr war nur leise, aber deutlich zu vernehmen. Kälte kroch in Kentin hoch und er schluckte. Die Melodie kündigte den Tod einer seiner Gefährten an, doch was sollte das?
Es ging ihnen doch gut.
»Seid vorsichtig, irgendwas geht hier vor«, hauchte er und hörte die langsamen Schritte seiner Freunde hinter sich. Kentin konnte spüren, wie seine Hände zitterten und vor Angst feucht wurden. Er wollte die beiden beschützen. Er wollte, dass die beiden nach Hause kamen.
Die Musik setzte eine Sekunde aus und ein sonderbares Geräusch drang in sein geschultes Soldatenohr. Ein leises Zischen, gefolgt von einem Schnappen.
Er erschrak fürchterlich, wandte sich um und brüllte: »Runter auf den Boden!«
Die jungen Männer ließen sich reflexartig auf die Bäuche fallen, als kleine, haarnadelspitze Dolche aus versteckten Löchern in der Wand plötzlich über ihre Köpfe hinweg schossen. Doch Kentins ausgebildetes Gehör nahm es dennoch war.
Das leise, fürchterliche Geräusch, wenn ein Geschoss auf menschliches Fleisch traf.
»Hilfe ... Hilfe ... Hilfe ...«, murmelte Leo wie ein Mantra, um sich zu beruhigen. Kentin verzog das Gesicht, denn eines der kleinen Messer hatte seinen Arm gestreift und der begann zu bluten.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja ...«, flüsterte Leo in seinen Singsang hinein, doch Kazuya schwieg, sodass Kentin den Kopf umwandte. Seine Augen wurden groß und ein stummer Fluch lag auf seinen Lippen, als er den Blutfleck am Bauch des jungen Mannes sah, der schnell größer wurde.
»Leo, kriech zum Ende des Flures und bleib dort sitzen. Kazuya, ich helfe dir.« Kentin schob den Schwarzhaarigen an sich vorbei und robbte zu dem Rothaarigen zurück.
»Alles okay?«
Kazuya schwitzte und seine Augen flackerten. Als Kentin unter sein T-Shirt sehen wollte, hielt er dessen Hand fest.
»Kentin ... du musst mir versprechen, ihn hier rauszubringen, klar? Lass ihn hier nicht verrecken.«
»Kazuya, hör auf. Ich bringe uns alle hier raus. Keiner wird noch hier bleiben, verdammt.« Ohne weiter groß auf die Proteste des Rothaarigen zu achten, zog er ihn so vorsichtig wie möglich aus der Schusslinie.
»Ka-Kazu?« Leos lila schimmernde Augen wurden groß und füllten sich augenblicklich mit Tränen, als er das Blut am T-Shirt des anderen erblickte. Er rutschte an seinen Freund heran, während Kentin einen Streifen von dessen T-Shirt abriss, um die Wunde zu verbinden.
»Ich kann das Messer nicht herausziehen. Das würde die Wunde schlimmer machen«, murmelte der Soldat.
Kazuya lachte ein spöttisches Lachen. Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein. Er hatte es so weit geschafft und Leo beschützen können und jetzt streckte ihn ein kleines Messer nieder?
Gott, warum tat das so verdammt weh? Und warum hörte es nicht auf zu bluten?
Kentin schüttelte den Kopf und ließ die Hände sinken.
»Was? Was ist, Ken?!«, fragte Leo erstickt.
»Ich kann nichts tun. Die Blutung ... sie geht nach innen. In den Bauch. Ohne eine Operation wird er verbluten.«
Leo schüttelte den Kopf und seine Tränen verschmierten sein Gesicht. »Nein! NEIN!«
Er sah mit riesigen Augen in das Gesicht seines besten Freundes, der immer blasser wurde, je mehr Blut auch sein helles T-Shirt verfärbte.
»Du kannst ... Kentin, du musst ... so ... Gott, hilf ihm doch!« Leo schüttelte Kentin und seine Stimme wurde lauter, hysterischer. Kentins Blick lag auf dem Rothaarigen.
Sein Blick war besorgt. Aber nicht um sich selbst. Er lag auf dem Schwarzhaarigen, der nun weinte und sich hin und herneigte.
»Kazu, das kannst du nicht machen, Mann. Du kannst hier nicht einfach verrecken. Oh Gott, das ist alles meine Schuld. Hätte ich doch nur nicht hier herkommen wollen ... Kazu ...«
Der Rothaarige lachte leise.
»Leo ... jetzt hör auf. Ich bin ... doch hier eigentlich der Masochist«, er hustete. »Ich gebe dir nicht die Schuld. Hör auf zu heulen. Ich war einfach zu langsam!«
Ein feines Blutrinnsal sickerte aus Kazuyas Mundwinkel und er hustete wieder. Leo griff nach der Hand seines Freundes und führte sie an seine Lippen.
»Verlass mich nicht, okay? Ich lieb‘ dich doch, Mann.«
Kazuyas Lachen wurde leiser.
»Das weiß ich. Ich hab dich auch immer geliebt. Wir ... wir waren ein tolles Team ... hm?« Ihn verließ die Kraft, um seine Worte flüssig aneinanderzureihen. Er hustete immer wieder und der Fleck an seinem Bauch glänzte nass. Kazuya zitterte und verkrampfte sich vor Schmerzen. Das Blut in seinem Bauchraum verursachte starken Druck.
Leo wandte seinen Blick nicht ab, obwohl Blut ihn anwiderte. Er war es seinem Freund schuldig, seine letzten Minuten bei ihm zu sein.
»Ich ... drehe durch. Diese Schmerzen ...« Ein weiteres Zittern ließ Kazuya aufkeuchen.
Leo wandte sein tränenverschmiertes Gesicht dem Soldaten neben sich zu, der ebenso bestürzt und traurig aussah.
»Kannst du nicht was tun? Es ... leichter machen für ihn?«
Kentin sah sein Gegenüber geschockt an. Was verlangte Leo da von ihm? Sollte er Kazuya töten? Nicht das er das in seiner Ausbildung nicht gelernt hatte, aber er hatte es noch niemals tun müssen.
»Ich ... ich kann das nicht. Wie sollte ich das auch tun?«
Kazuya stöhnte leise und Leo weinte noch mehr. Er konnte Kentin nicht sagen, wie er es machen sollte, aber wollte, das Kazuya aufhörte zu leiden.
»Eine Verletzung des Magens ist die langwierigste Art zu sterben ...«, murmelte Kentin abweisend und starrte auf das kleine Messer, das noch immer aus Kazuyas Bauch ragte. Der Stoff darum war längst durchnässt. Leo zog geräuschvoll die Nase hoch und Kazuya, der inzwischen leichenblass war, wimmerte.
»Okay. Kazuya ...«, setzte der Soldat an und fing den Blick aus den bernsteinfarbenen Augen auf. Er flackerte, doch der Angesprochene nickte leicht.
»Ich ... halt das nicht aus, bitte ... Mach irgendwas ... Bitte.«
Leo weinte noch lauter, als Kentin nach dem Griff des kleinen Dolchs griff und ihn mit einem Ruck aus der Wunde zog. Kazuya gab keinen Laut von sich. Dazu war er bereits zu schwach.
Mit Horror blickte er auf seine blutige Hand mit dem kleinen Messer und schluckte.
»Bitte Kentin ... er hat Schmerzen.«
Der junge Soldat nickte und stand auf. Er lehnte sich neben den tödlich Verletzten und strich ihm sanft über das Gesicht.
»Kazuya ... ich werde auf ihn Acht geben. Selbst wenn es mein Leben fordert, okay?« Der Rothaarige nickte sacht und seine Augen drückten Dankbarkeit aus.
In der nächsten Sekunde packte Kentin den Kopf des Jungen und brach ihm mit einer kräftigen Bewegung das Genick. Etwas, das wie ein erleichtertes Seufzen klang, drang aus Kazuyas Mund.
Leo ließ dessen Hand sinken und lächelte durch seine sprudelnden Tränen.
»Das hier ist die Hölle. Ganz sicher. Das ist die Hölle.« Er lachte und es klang leicht hysterisch. Kentin zog den Jungen in seine Arme und drückte ihn fest.
»Beruhige dich, bitte. Bitte. Du wirst ihn wiedersehen. Irgendwann. Wir beide müssen hier raus, okay? Für Trauer ist gerade keine Zeit.«
Leo nickte an seiner Schulter und stemmte sich ein wenig von ihm weg.
»Kentin, dein Arm ... lass ihn mich schnell verbinden.«
Der Soldat reichte ihm dem Stofffetzen, denn er für Kazuya verwenden wollte und ließ die Wunde behandeln.
»Komm, lass uns weitergehen. Ich will hier entweder raus oder so schnell wie möglich abkratzen. Ich kann nicht mehr.«
Der Schwarzhaarige wischte seine Hände an seinem Shirt sauber. Sein Blick wurde unzurechnungsfähig, als die knarzende Musik wieder einsetzte.
»Wenn ich diese Spieluhr in die Finger bekomme, zerschlage ich sie in tausend kleine Einzelteile!«, murmelte Kentin und Leo stimmte ihm zu.
»Lass den Scheiß mit der Musik, du kranker Wahnsinniger! Wem willst du damit noch Angst machen?!«, schrie der Schwarzhaarige und trat gegen die Holzvertäfelung.
»Hör auf. Lass uns weiter gehen.« Kentin hielt den Jungen fest und versuchte, selbst die Ruhe zu bewahren. Jetzt waren nur noch sie beide da.
Vorsichtig machten die beiden ihre nächsten Schritte, nachdem sie Kazuya bequem gebettet und seine Augen geschlossen hatten. Leo hatte seinen Lippen einen letzten Kuss gestohlen und sein Gesicht mit seinen Tränen benetzt. Mehr würde er nie wieder haben können von ihm.
Und schuld daran war dieser Wahnsinnige.
»Dort hinten ist eine Tür ... und hörst du, da kommt die Melodie her.«
»Also sitzt der Typ echt auf dem Dachboden?«
Kentin zuckte die Schultern und sah sich noch genauer um. Er hatte Kazuya versprochen, Leo zu beschützen und das würde er tun.
Er musste überleben!
Die Tür am Ende des Flurs entpuppte sich eher als eine schmale Luke, die sich jedoch problem- und geräuschlos öffnen ließ. Die Musik der Spieluhr wurde prompt etwas lauter, als sie einen sehr dunklen und hohen Raum betraten, dessen Decke direkt das Ziegeldach bildete. Es war kalt in dem Raum und zugig und man konnte Tauben hören, die in ihren Verschlägen vor sich hin gurrten.
Nach ein paar Schritten eröffnete sich eine Plattform vor ihnen, die Bruce Wayne Konkurrenz gemacht hätte. Eine riesige helle Leinwand, mehrere Computer und Monitore waren aufgebaut und zeigten verschiedene Orte in dem Haus. Kentin konnte das Esszimmer erkennen und das Tischtuch, das sie über Kim ausgebreitet hatten. Auch Iris, die in der Eingangshalle lang, war zu sehen. Es gab kein Bild des Kellers, in dem der bedauernswerte Jonathan umgekommen war und auch keines vom Brunnen. Aber das ganze Haus schien voller Kameras zu sein. Ein Monitor zeigte den leblosen Kazuya im Gang zu diesen Räumlichkeiten.
»Hier hat er das alles mit angesehen, dieser kranke Bastard?«, murmelte Kentin und griff nach Leos Hand.
»Angesehen nicht, meine lieben Freunde. Das war nicht nötig, war ich doch die meiste Zeit direkt bei euch.«
Eine Stimme, die den beiden vertraut vorkam, kam hinter der hellen Leinwand hervor und den beiden jungen Männern klappte vor Unglauben und Schock die Kinnlade runter.
Das konnte doch nicht wahr sein!
»DU?!«