Leo wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab und schniefte. Drei Leute hatte dieser Wahnsinnige schon erwischt und langsam bekam er es schrecklich mit der Angst zu tun. Was war denn, wenn sie es hier nicht rausschafften?
Was war, wenn er Kazuya nicht retten konnte? Was, wenn Kentin etwas geschah? Oder den anderen beiden.
Leo wollte nicht, dass noch jemand starb. Warum tat ein Mensch so was? Das gräßliche Jaulen der Spieluhr trieb auch ihn nach draußen zu Kentin, der tief einatmete und versuchte, ein bisschen seine Ruhe wiederzufinden.
»Ich kann nicht mehr ...«, murmelte er und lehnte sich an den jungen Soldaten.
»Ich weiß. Ich auch nicht.«
»Ich will hier wieder raus, ich will nicht, das Kazu etwas zustößt ... oder dir.«
Kentin legte einen Moment seinen Arm um den Kleineren und drückte ihn sanft.
»Wenn ich draufgehen muss, um euch hier rauszukriegen, dann mache ich das gerne. Ihr beiden solltet schließlich zusammenbleiben.«
Leo blickte in die meeresblauen Augen des jungen Mannes und spürte, dass ihm schon wieder die Tränen kamen. Waren sie tatsächlich an dem Punkt angekommen, wo sie einander opfern würden?
Klar, gestand sich Leo insgeheim ein, würde er jeden hier draufgehen lassen, um seinen Freund zu retten. Das war schändlich, aber das einzige Gefühl, das ihn beherrschte. Aber da war eben auch noch Kentin, auf den er sich monatelang gefreut und in den er sich verknallt hatte in der Sekunde, in der er ihn auf dem Bahnhof gesehen hatte.
Kazuya kramte in seinen Taschen rum und stellte sich neben die beiden.
»Ich brauche eine Zigarette!«, nörgelte er und trat gegen einen Stein.
»Es wird eng. Wenn wir nicht bald einen Weg finden, dieses Arschloch in die Finger zu kriegen, gehen wir hier alle drauf ...«
Nathaniel schlenderte mit einer trügerischen Ruhe über den Hof und blieb bei einem Rosenbusch stehen. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte man die Schönheit dieses Augenblickes sicher angemessen würdigen können, als er mit sanften Fingern nach einer Rose griff und an ihr roch.
Die Spieluhr verklang leise und ein unangenehmes Knarzen erklang im Hof, auf das sich alle umdrehten und sich ansahen.
»Meine lieben Freunde«, erklang die verzerrte Stimme des Mods. Alle Köpfe gingen herum, um auszumachen, von wo der Klang kam.
»Macht euch nicht die Mühe, über den Lautsprecher werdet ihr mich nicht finden. Gratuliere euch, die ihr noch am Leben seid. Ehrlich, ich hätte vermutet, dass es im Laufe des Tages mehr von euch erwischt. Ihr seid vielen meiner Fallen erfolgreich aus dem Weg gegangen. Schade eigentlich, da waren einige dabei, deren Effekt ich nur zu gern gesehen hätte. Aber sei es wie es sei. Ihr müsst erschöpft und hungrig sein. Ich möchte mich nicht wie ein Monster aufführen, also werdet ihr in einem der Zimmer im Westflügel ein Abendmahl für euch vorfinden. Und auf die Gefahr hin, dass ihr mir Grausamkeit unterstellt ... nein, es ist nicht vergiftet. Immerhin habt ihr noch eine Nacht vor euch, in der es darum geht, mich zu finden, nicht wahr? Also ich wünsche euch guten Hunger und viel Erfolg ... obwohl ich denke, dass das Glück eher mir hold sein dürfte ...«
Wieder erklang das schreckliche, blasierte Lachen und das Knarzen verklang im Abendrot.
»Dieses verrückte Arschloch. Er und kein Monster, nur weil er uns etwas zu essen hinstellt? Dass ich nicht lache. Und diese ... wenn ich dieses Hausmädchen und den anderen Affen in die Finger kriege ...!« Kazuya knurrte und Leo legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Lasst uns wieder reingehen, es fängt an zu regnen.«
Tatsächlich begann es erst zu tröpfeln und sie fanden sich plötzlich in einem wahren Wolkenbruch wieder. Die jungen Männer wollten schon durch die Tür schlüpfen, als sie den spitzen, erschrockenen Schrei Violas hörte, die noch immer auf dem Hof war. Alle Köpfte wandten sich um und sie sahen gerade noch, wie die junge Frau das Gleichgewicht verlor und der Saum ihres Kleides über den steinernen Rand des offenen Brunnens glitt.
Ein lautes tiefes Klatschen versicherte ihnen, dass sie zumindest in einem Stück unten angekommen sein dürfte.
»Los, schnell, wir müssen sie da raus holen.«
Erstickte Hilfeschreie drangen aus dem Brunnenschacht nach oben und die Männer sahen hinein. Die Wände des Schachtes waren mit groben Steinen gefertigt worden, überall gab es spitze Kanten und Ecken.
»Warte, Viola, wir lassen den Eimer runter... Halt dich irgendwo fest.«, rief Leo und Kazuya und Kentin kurbelten den Eimer über den Flaschenzug. Das Seil und auch das Behältnis machten einen schlechten Eindruck, doch das war alles, was sie hatten.
Sie mussten es versuchen, sonst würde das Mädchen im kalten Wasser erfrieren.
»O-Okay ...«, kam es leise und zitternd aus dem Brunnenschacht. Der Flaschenzug quietschte beängstigend, als sie den alten Eimer runterkurbelten. Es klatschte leise, als er unten ankam. Es ging ziemlich tief hinein.
»Hast du ihn?«
»Ja ...«, fiepste Viola zurück und ein Zittern des Seils zeigte an, dass sie sich fest an den Eimer klammerte.
»Okay, halt dich fest. Wir ziehen dich vorsichtig hoch.« Kentin und Kazuya waren von den Männern die kräftigsten und so griff Kentin nach dem Seil und Kazuya nach der Kurbel und gemeinsam zogen sie.
Es ging nur langsam voran und der Regen prasselte noch immer unnachgiebig auf die jungen Leute hinab. Nathaniel und Leo lehnten sich über den Rand, bereit, nach Violas Händen zu greifen, wenn sie in Reichweite war.
Kentin und Kazuya hatten die Zähne aufeinander gebissen, denn sie hatten nicht nur das Gewicht von Viola zu bewältigen, sondern auch das des bis oben hin gefüllten Eimers. Und der war nicht gerade klein gewesen.
Sie konnten Violas auberginefarbenen Haarschopf schon erkennen und Nathaniel und Leo streckten bereits die Arme aus, als ein sonderbares Geräusch zu hören war. Verwundert blickten der Blonde und der Schwarzhaarige sich an und dann auf die Männer, die zogen.
Woher kam dieses Geräusch?
»Oh Gott ...«, nuschelte Nathaniel schließlich und deutete auf das Seil über dem Flaschenzug. Es war aufgedröselt und so verschlissen, dass diese reißenden Geräusche nur davon stammen konnten.
»Macht schnell, Jungs, das Seil wird gleich reißen.«
Kentin und Kazuya blickten sich geschockt an und verdoppelten ihre Anstrengungen. Leo streckte seine Finger nach der jungen Frau aus, dessen Gesicht zu ihnen nach oben blickte und er konnte bereits ihre Fingerspitzen berühren.
Doch plötzlich ging ein Ruck durch Kentin und er ließ mit einem Schreien das Seil locker, als der uralte Flaschenzug abbrach und das Seil endgültig riss. Kazuya wurde von der durchdrehenden Kurbel nach hinten in eine Pfütze geschleudert und Kentin von der Wucht des abstürzenden Gewichts gegen die Außenwand des Brunnens gedrückt. Er schrie auf, als das alte Seil seine Handflächen aufriss und ein gellender Schrei war von Viola zu hören, die in freiem Fall zurück in den tiefen Brunnen stürzte. Ein gräßliches Geräusch ertönte, gefolgt von einem lauten Platschen.
Leo wagte nicht, über den Rand zu schauen und Kazuya rappelte sich klatschnass aus der Pfütze heraus.
Kentin erhob sich wackelig und das erste Blut tropfte aus seinen verwundeten Handflächen auf das nasse Gestein des Brunnenrandes. Mit einem Schaudern, das nicht von der Kälte des Regens kam, starrte er in die Dunkelheit des Schachtes.
»Verdammt ...«, murmelte er zittrig.
Leo richtete sich auf und stemmte sich über den Rand.
»Viola!!«, rief er, doch es blieb still. Kentin legte ihm seine weniger wunde Hand auf den Rücken und fummelte das Feuerzeug aus der Tasche.
»Hat einer von euch eine Kerze?«
»Was hast du vor?«, schniefte Leo und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.
»Eine Kerze in den Schacht werfen. Ich will sehen, was mit ihr passiert ist.«
Kazuya drückte dem Soldaten eine kleine, robuste Kerze in die Hand und hielt die Hand darüber, als er sie anzündete.
»Okay ... fertig?«
Die anderen nickten und Kentin ließ die Kerze in den Schacht plumpsen. Durch den engen Durchmesser des Schachtes wurde er durch das wenige Licht gespenstisch erleuchtet, wenn auch nur für eine Sekunde und die reichte den jungen Leuten aus, um das Blut an den scharfen Gesteinskanten zu erkennen und die Lache, die sich um den leblosen Körper des Mädchens gebildet hatte, das mit dem Gesicht nach unten in dem schmutzigen Wasser lag.
»Scheiße ... wenn ... wenn wir nichts machen, wird sie ertrinken ...«, stammelte Leo und sah aus, als würde er gleich hinterher springen.
Kentin zog ihn von der Brüstung und drückte ihn mit dem Gesicht an seine Brust.
»Beruhige dich bitte. Wir können da nicht runter ... das sind mehr als sieben Meter ... verdammt.«
Leo schluchzte und stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch, als Kentin ihn wieder in den Flur zog.
»Wir müssen uns umziehen, sonst holen wir uns den Tod.«
»Aber können wir es wagen, zu den Zimmern zurückzugehen?« Kazuya strich Leo ebenfalls über den Rücken, der sich immer noch an Kentin festkrallte.
»Ich weiß es nicht, aber in den Zimmern werden wir sicher nichts finden.«
Leo sah sich in der Runde um. »Es würde schon helfen, die Kleider nur auszuwringen. Dann trocknen sie auf der Haut schneller«, murmelte er benommen und zog sich den Pulli über den Kopf.
Das gleiche tat er mit der Jeans und dem T-Shirt. Er wrang die Kleider kräftig aus und zog sie wieder an.
»Gesehen? Ihr müsst nur das überschüssige Wasser loswerden.«
Kazuya, Kentin und Nathaniel taten es dem Schwarzhaarigen gleich und wenn der sich sonst an einer solchen Situation – drei halbnackte, attraktive Männer – erfreut hätte, war ihm jetzt nur noch zum Heulen zumute.
»Ich will schlafen ...«, flüsterte er und klang dabei zutiefst niedergeschlagen.
Kentin zog ihn einen Moment an sich. »Wir auch, Leo. Aber das geht nicht ...«
Die jungen Männer sahen sich an und in jedem einzelnen Gesicht war ein Gedanke abzulesen: Wen würde es wohl als Nächsten treffen?
»Lasst uns dieses Zimmer suchen, von dem der Mod erzählt hat. Vielleicht ist es dort warm. Etwas Aufwärmung kann uns allen nicht schaden.« Kentin steckte sein Feuerzeug und ein paar Kerzen in seine Hosentasche, da er dem Frieden des wieder funktionierenden Stroms nicht traute. Er ging in dem dunklen Flur entlang und die anderen folgten ihm.
Was sollten sie auch anderes machen? Sie hatten nicht viele Möglichkeiten, wo sie hingehen konnten. Es dauerte nicht lange, bis sie den Raum ausmachten, denn das Licht im Flur war so schwach, dass der Streifen, der unter der angelehnten Tür hervorstrahlte, einen deutlichen Kontrast darstellte. Ein milder Duft stieg ihnen in die Nase und jeder merkte, dass der Körper nach so vielen Stunden Herumirren und Suchen allmählich nach Nahrung und vor allem Wasser verlangte. Vorsichtig öffneten sie die Tür und fanden ein kleines stilvolles Esszimmer vor, in dessen Mitte ein großer runder Tisch stand, beladen mit Schüsseln und Terrinen. Ein Getränkewagen stand daneben und einige Kannen mit Kaffee oder Tee dampften noch leicht vor sich hin.
Sich umsehend betraten sie den Raum und schlossen die Tür hinter sich. Leo, der schon wankte vor Erschöpfung, ließ sich auf eines der Sofa fallen und schloss die Augen. Kentin und Kazuya warfen sich einen besorgten Blick zu.
Nathaniel trat an das Fenster und betrachtete den Regen, der noch immer ungemindert niederging und Kazuya setzte sich in einen Sessel nahe der eingeschalteten Heizung und legte seine Finger darauf.
Leo sah sich müde um, als Kentin neben ihm in die Hocke ging.
»Möchtest du etwas Suppe? Und einen Tee? Du musst was essen, du bist schon ganz blass.«
Der Schwarzhaarige wandte den Kopf ab, zuckte aber nur mit den Schultern und Kentin ging an den Tisch mit Essen. Tatsächlich befand sich in einer der Terrinen eine schöne dicke Eiersuppe. Er schöpfte etwas in eine kleine Schüssel und tauchte eine Brötchenhälfte hinein.
»Hier, iss«, sagte er und drückte sie dem Schwarzhaarigen in die kalten Hände. Zaghaft schlürfte dieser die Suppe, während Kentin die zweite Brötchenhälfte verzehrte.
»Vielleicht sollten wir wirklich eine Rast machen ...«, murmelte Nathaniel noch immer mit dem Blick nach draußen. »Es gibt hier in diesem Raum genug Sessel und Sofas für uns alle. Einer könnte Wache halten, damit alle in paar Stunden schlafen können.«
Kazuya nickte erschöpft und auch Kentin spürte, dass seine antrainierten Reserven schwanden. Es war mittlerweile mitten in der Nacht. Er stand auf und betrachtete die Tür.
»Wir werden alle schlafen. Diese Tür hat ein Schloss, ich schließe ab und dann ist Ruhe. Und wenn die Handlanger des Mods uns hätten direkt killen wollen, hätten sie es schon getan.«
Kentin zog die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel.
»Aber erst müssen wir alle etwas essen. Die Suppe ist in Ordnung und wohl auch ziemlich gut. Und trinkt etwas.«
Alle kamen der Aufforderung des Soldaten nach, während Leo seine Schüssel leerte und seine schmerzenden Glieder streckte.
Obwohl alle Hunger hatten, verhinderten die Sorgen und die Angst, das reichlich zugegriffen wurde. So aß jeder nur das Nötigste, um den Hunger zu stillen und machte es sich dann auf einer Schlafgelegenheit bequem. Kentin wollte sich auf den Sessel neben Leo setzen, doch der hielt seine Hand fest.
»Bleib bei mir ... hier ist genug Platz.«
Kentin löschte das Licht und zurück blieb der leichte Schein des Kerzenständers, der den Esstisch zierte. Er schob sich auf die Sitzfläche des Sofas und zog Leo an sich.
»Versucht alle, etwas zu schlafen. Wir werden hier rauskommen.« Von Nathaniel und Kazuya kam nur ein zweifelndes Brummen und Leo gab gar keinen Ton von sich. Stattdessen griff er nach Kentins Fingern und schmiegte seinen Kopf an dessen Schulter.