So sehnsüchtig wie heute hatte sich Harald noch nie ein Trainingsende herbeigewünscht. Nach der Dusche packte er seine Sachen und machte sich schnell auf den Weg. Nur Oli schaute ihm nach und hatte dabei eine vage Ahnung, wohin Harald so schnell gehen wollte. Er schickte ein Stoßgebet vom Himmel, dass Harald auch morgen noch unversehrt sein würde.
Auf dem Weg zu der Straße verfuhr sich Harald kein einziges Mal, obwohl die Straße bei Tageslicht völlig anders wirkte, fast normal. Wäre er bei Tag daran vorbei gefahren, hätte er niemals erwartet, dort bei Nacht Prostituierte zu treffen. Ein paar spärlich bekleidete Frauen lungerten zwar hier und da herum, aber sie waren nicht so auffällig daran interessiert, Geschäfte zu machen, wie am letzten Abend.
Harald parkte am Straßenrand und das schien für die Frauen das Zeichen zu sein, sich um ihn zu bemühen. Eine dralle Blondine lehnte sich mit einem breiten Grinsen auf das gänzlich geöffnete Beifahrerfenster.
"Na du Hübscher, was kann ich für dich tun heute?", säuselte sie.
"Ich suche jemanden", antworte Harald, bemüht, nicht in den Ausschnitt zu starren, der sich genau in seinem Blickfeld hin und her wiegte.
"Wen denn? Da kann ich dir bestimmt helfen."
"Salome, sie hat blaue Haare. Weißt du, wo sie ist? Ich will wieder zu ihr."
Er hatte sich überlegt, dass diese Aussage die wenigsten Leute hinterfragen würden.
Die Blondine verzog angeekelt das Gesicht, Salome war offenbar nicht sehr beliebt bei ihren Kolleginnen.
"Hier ist sie jedenfalls nicht, soweit ich weiß, arbeitet sie hier um die Ecke, du kannst das rote Geblinke überhaupt nicht verfehlen. Aber muss es wirklich sie sein oder kann ich dir nicht auch helfen?", startete sie einen letzten Versuch und übte einen besonders verführerischen Augenaufschlag.
Harald dagegen war schonwieder dabei, das Fenster zu schließen.
"Sorry, nein, aber vielen Dank für deine Hilfe. Tschüß!".
Weil er sich beeilte vom Fleck zu kommen, sah er nicht mehr, wie die Blondine beleidigt die Backen aufbließ und dem Autorücken unflätige Gestern hinterherschickte.
Sie hatte recht gehabt, das Gebäude war wirklich kaum zu übersehen. Die Leuchtschrift 'Venus' blinkte rot auf ihn herab und die Fenster waren mit überlangen, roten Vorhängen verdunkelt.
Harald parkte schräg vor dem Eingang und bevor er die schwere Holztür öffnete, zögerte er noch einmal kurz. Er war noch nie in einem Bordell gewesen und sein Herz klopfte vor Aufregung ein wenig schneller als sonst.
Die Luft im Gebäude war parfümschwer, Harald meinte, sie mit den Händen greifen zu können. Das Licht war spärlich und trug mit dem rot besäumten Möbel zu einer gewissen erotischen Stimmung bei.
Er wagte sich noch ein paar Schritte hinein, denn bei dem spärlichen Licht konnte er kaum Personen ausmachen. Viele junge und leicht bekleidete Frauen saßen an robusten Holztischen, manche hatten ein Getränk vor sich stehen. Harald tippte, dass sie auf Kundschaft warteten.
Weiter hinten im Raum gab es eine Bar aus ähnlich rustikalem Holz wie die Tische, die dicht an dicht stehende Flaschen säumte. Dort entdeckte Harald Salome, die auf einem Barhocker saß und ihm den Rücken zugewandt hatte.
Er setzte sich auf den Hocker exakt neben ihren und räusperte sich, sodass sich Salome ihm zuwandte.
Sie brauchte einen Moment, um das Gesicht im schummrigen Licht einzuordnen, erkannte Harald aber fast sofort.
"Was machst du denn hier? Willst du mich jetzt doch?", fragte sie grinsend.
"Nein, jedenfalls nicht so", gab Harald zurück und senkte den Blick. Warum genau er hier war, wusste er selbst jetzt noch nicht.
Salome wartete auf eine Antwort, aber sie spürte auch die Blicke ihrer Kolleginnen im Rücken. Es war seltsam, zu lange mit einem Mann nur zu reden.
"Komm mit. Andere gucken schon", sagte sie deshalb, fasste Harald am Handgelenk und zog ihn zu den Separeés.
Harald holte Luft um zu protestieren, war aber zu überrascht, um sich wirklich zu wehren und ließ sich hinter Salome her ziehen.
Der Gang rechts der Bar war ähnlich spärlich beleuchtet und beherrbergte rechts und links viele Türen, die nummeriert waren. Rechts gerade, links ungerade Zahlen. Schließlich schob Salome Harald in ein Zimmer mit der Nummer 23.
In dimmriges Licht getaucht wirkte das große Bett in der Mitte des Raumes einladend auf Besucher.
Dennoch traute sich Harald nicht, einen Schritt zu machen, selbst als Salome sich auf das Bett setzte.
"Komm rein, ich fress dich nicht", forderte ihn Salome mit einem amüsierten Grinsen auf und klopfte neben sich auf das Bett. "Und schließe die Tür hinter dir, sonst fällt es auf."
Harald erwachte aus seiner Schockstarre, schloss die Tür und setzte sich noch in gebührendem Abstand zu Salome auf das Bett.
Salome waren seine Blicke unangenehm, sie versprühten keinerlei Begierde, sondern eher Sorge. In ihrer Angespanntheit zog sie sich das Oberteil mehr über den Ausschnitt, aber bei derart wenig Stoff war es fast wirkungslos.
"Also, was willst du hier?", fragte sie und lenkte damit seinen Blick in ihr Gesicht.
Das machte die Sorge in seinen Augen allerdings noch schwerer zu ertragen und Salome verfluchte sich innerlich dafür.
Harald zögerte, ihm fiel es schwer, vor allem im Deutschen die richtigen Worte zu finden. Aber selbst in seiner Erstsprache, Norwegisch, hätte er sich kaum erklären können.
"Ich denke immer an dich, seit wir uns gesehen haben", setzte er an, "aber nicht so, ich meine, ich will nicht Sex haben mit dir. Also ich finde dich nicht hässlich, aber ich will nicht so Sex haben mit dir jetzt wie alle anderen...".
Harald verhaspelte sich in seinen Erklärungen und Salome wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt oder belustigt fühlen sollte. Er wirkte so unschuldig und unsicher, dass er so gar nicht in ihr Bild von Männern passte.
"Okay", stoppte sie seine Erklärungsversuche, sie hatte sich dazu entschieden, sich belustigt zu fühlen, aus Selbstschutz. "Das ist sehr nett von dir, aber was machst du dann hier auf meinem Zimmer? Warum hast du mich gesucht? Und wieso gehe ich dir nicht mehr aus dem Kopf?".
Wieder zögerte Harald, er wollte auf Anhieb die richtigen Worte finden.
"Weil... ich weiß nicht genau, vielleicht weil ich dir helfen will. Weil ich nicht will, dass eine Frau soetwas machen muss wie du hier machst und weil du mir leid tust."
Salomes Züge verhärteten sich. Ihr Wunsch, dem allen den Rücken zu kehren war zwar groß, aber über ihre Beweggründe und ihre Vergangenheit sprach sie nicht gerne, schon gar nicht mit irgendjemandem.
"Das geht dich aber leider überhaupt nichts an, tut mir leid", schnappte sie, "wenn das alles ist, kannst du wieder gehen."
"Ich will aber wissen, warum du das hier machen musst. Bitte. Das ist ja nicht normal und ich würde dir so gerne helfen", beharrte Harald etwas mutiger.
Genervt atmete Salome aus. Ihr Gegenüber schien an einem Helfersyndrom zu leiden, solche Menschen fand sie einfach nur seltsam. Warum sollte jemand etwas einfach so für jemand anderen tun? Ohne Gegenleistung?
"Ich werde dir nichts erzählen, vergiss es", meinte sie nur und hielt seinem Blick stand.
Ein diebisches Grinsen schlich sich auf Haralds Gesicht. "Gut. Dann bleibe ich so lange hier, bis du erzählst...".
"Verdienstausfall", bemerkte Salome nur knapp, aber Harald hatte schon seinen Geldbeutel hervorgezogen.
"Keine Chance, ich habe genug Geld, wenn man bei euch mit Karte zahlen kann. Kann man?".
Salome stöhnte genervt auf.
"Ja, kann man. Das würdest du wirklich machen? Du spinnst doch, oder?".
"Vielleicht", gab Harald mit einem Schulterzucken zu, "aber kann dir doch auch egal sein. Also redest du jetzt mit mir oder nicht? Wie lange willst du noch warten?".
"Du bist unmöglich", schnappte Salome und schnaubte wütend, "aber wenn du versprichst, mich dann in Ruhe zu lassen, von mir aus rede ich dann mit dir. Und danach sehen wir uns nicht mehr."
Harald wägte seine Chancen ab. Wenn er auf den Vorschlag einginge, würde er wenigstens erfahren, was mit ihr los war, und vielleicht bestand die Möglichkeit, dass sie ihn dann doch nicht mehr loswerden wollte. Die Möglichkeit war klein, aber dennoch da. Und selbst wenn nicht, er wusste wo sie arbeitete und er hatte ja keinen bindenden Vertrag unterschrieben.
"Von mir aus, dann machen wir es so. Du erzählst mir jetzt alles und danach sehen wir uns nicht mehr, wenn du es willst", stimmte er zu und Salomes Gesichtszüge entspannten sich.
"Okay. Dann werde ich uns mal was Kleines zu trinken holen gehen, damit wir nicht so auffallen - das ist so üblich bei uns. Ist Wasser in Ordnung oder willst du etwas anderes? Unsere Bar hat quasi unbegrenzte Möglichkeiten."
"Wasser ist okay, danke", meinte Harald.
Salome stand vom Bett auf und Harald konnte nicht anders, als ihrem viel zu kurzen Rock hinterherzuschauen. Allerdings widerte ihn der Anblick eher an, als dass er ihn erregte.
Bevor Salome die Tür öffnete und verschwand, drehte sie sich noch einmal zu Harald um.
"Bleib einfach hier, und wenn jemand anders reinkommen will, sagst du, du hast den Raum mit mir besetzt. Ich komme gleich wieder."
Harald nickte, noch ein wenig paralysiert von Salomes Rock, und die Paralyse legte sich erst wieder, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, Salome aus diesem Milieu herauszuholen. Er hoffte, dass sie sich für seine Hilfe entscheiden könnte, wenn sie ihm alles erzählt hatte.
Und dass sie sich dann vielleicht normal kennenlernen konnten, denn ganz abgeneigt war Harald der jungen Frau dann doch nicht, fügte er grinsend in Gedanken hinzu.