Eine Katastrophe! Es war widerlich! Nicht nur, dass sie bestialisch stanken, sie berührten ihn auch noch mit ihren glibberigen Körpern. Dicht an dicht drängten sie sich neben Baldor in die Einstiegsrampe des kleinen Raumschiffs, an deren metallisch grünen Innenwänden rote Warnsignale darauf hinwiesen, dass nicht alle Türen verschlossen waren und auf keinen Fall ein Start durchgeführt werden dürfte.
Gegen einen frühzeitigen Start hätte er allerdings nichts gehabt, dann hätten sie gleich etwas unnützen Ballast verloren, denn das kleine Raumschiff platzte bereits aus allen Nähten. Sein Privatflieger war vollgestopft mit Individuen, die er nicht kannte, und die mit ihrem Gemurmel und Gemurre seinen Sauerstoff verschwendeten. Der Lärmpegel war unerträglich, aber wenn er es erst einmal nach vorne geschafft hatte, würde sein Personal sich um das Problem kümmern.
Mit einem göttlichen Akt der Selbstüberwindung drückte er sich zwischen zwei Nethuf hindurch, die den Weg zum Cockpit versperrten. Sein Arm verfing sich zwischen ihnen und er befreite ihn mit einem kräftigen Ruck. Dann schloss er die Tür. Gut vierzig Zentimeter vor dem Rahmen wurde sie langsamer, stockte schließlich und er hämmerte ein paar Mal verzweifelt auf den Knopf des Schließmechanismus'. Nichts rührte sich und sein Blick fiel auf den Boden, wo eine Tasche die Öffnung blockierte, und er gab ihr einen energischen Tritt. Mit einem wüsten Fluch von außen und dem folgenden, zufriedenen Klacken rastete die Verriegelung endlich ein. Baldor lehnte sich erschöpft dagegen und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung zu Boden rutschen.
"Ähem", räusperte sich jemand über ihm.
Baldor hob müde seinen Kopf und sah in das fragende Gesicht eines rot-weiß gefleckten Nethufs, den er ebenfalls nicht kannte.
"Hör auf, mich so anzustarren!", wies er ihn unverzüglich zurecht. Immerhin befand sich der Kerl im Cockpit seines Raumschiffs, aber der Blick seines Gegenübers lies die Vermutung zu, dass dieser das genau anders herum sah. "Wer bist du und was hast du auf meinem Schiff zu suchen?" Das Fragezeichen auf dem Gesicht des Mannes wurde noch größer und er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Baldor noch eine Frage hinterher schoss, nur um ihn komplett aus dem Konzept zu bringen: "Und was machen all die anderen dort hinten? Ist das hier der Bus zu einem Baro-Basar? Ein Glück, dass keiner seine Hauskrokodile mitgebracht hat. Die würden sonst auch noch glucksend durch den Gang rennen."
"Ich bin Captain Koi", entgegnete der andere, als er den ersten Schock der Begegnung mit Baldor überwunden hatte. "Ich habe das Kommando über dieses Schiff."
"Das Kommando über mein Schiff? Das Schiff ist so klein, es braucht nicht einmal einen Captain!"
"Nun, ich beaufsichtige diesen Teil der Evakuierung", beeilte sich Koi, den Widerspruch aus dem Weg zu räumen. "Eine Aufgabe, die nur von einem hochrangigen Offizier wahrgenommen werden kann."
Ein Prusten kam aus einem anderen Teil des Cockpits, die Quelle hinter dem Rücken einer der gigantischen roten Wohlfühlsessel verborgen, die es nur in den Raumschiffen des Präsidenten gab. "Das ist doch Schellpisse, Koi! Mission? Von wegen, du willst doch nur deinen Hintern retten. So wie wir alle. Sogar Baldor. Wobei der eigentlich nur seinen eigenen Hintern und außer dem keinen anderen retten will." Der Sessel drehte sich und gab den Blick auf die Sprecherin frei. "Hallo Baldor."
Es war Pangasius, seine Pilotin. Sie hatte bereits als junge Rekrutin unter seinem Opa gedient, war also eine harte Meersau. Nachdem es kaum noch Verwendung für Soldaten gab, hatte sie den gut bezahlten, aber oft auch anstrengenden Job bekommen, erst Baldors Dad rumzufliegen, als er noch jünger und kein Präsident war, und nun ihn. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, einige der wenigen, die sich das in seiner Gegenwart trauten. Dennoch, nein gerade deswegen, achtete er sie. Sie hatte es echt drauf und ihm sogar den einen oder anderen Kniff beim Surfen gezeigt. Ein Sport, den sie, obwohl sie in seinen Augen schon uralt war, immer noch meisterhaft beherrschte.
"Hallo Pan. Wenigstens eine Sache, die in meinem Schiff am richtigen Fleck zu sein scheint. Okay, Evakuierung, jeder will seinen Arsch retten. Ich hab kapiert, dass irgendwas nicht passt. Kannst du mich aufklären, was genau hier los ist? Eben war ich noch surfen und dann ist das ganze Meer weg, alle Fische verschwunden und halb Nethufia will mit meinem Raumschiff flüchten."
"Erklär du es, Koi, während ich aktiv dazu beitrage, dass unsere Hintern wirklich gerettet werden." Mit den Worten schwang sie ihren Sessel wieder herum und widmete sich den piepsenden und blinkenden Anzeigen auf ihrer Armatur. Sie legte klackend eine Reihe von Schaltern um und mit einem Röhren, das sämtliche Wale Nethufias angelockt hätte, starteten die Triebwerke.
"Dann schieß mal los", verlangte Baldor energisch, während er sich einem Mikrokorallendisplay zuwandte, das sofort Farbe und Form wechselte und eine nahezu detailgetreue Kopie seines Kopfes widerspiegelte. Sogar die leichten Zuckungen seiner Tentakelhärchen wurden in Mikrosekunden nachempfunden. Winzigen Korallen, die wuchsen, starben und über Mikroalgen im Displaytank die richtigen Farbstoffe aufnahmen, machten das möglich. Mikroalgen, ihr biologisch sauberes Gegenstück zu den Medientechnologien des bekannten Universums. Ihr Exportwunder seit dem Eintritt in die galaktische Gemeinschaft.
"Nun", begann Koi. "Es scheint, als würden wir angegriffen."
Baldor fuhr sich durch seine Haarpracht und schüttelte Sand und Wasser heraus, hoffentlich nicht die letzten Tropfen Nethufias. "Wir befinden uns im Krieg?"
Koi schwieg.
"Jetzt rede schon, sonst finde ich sicher jemanden, der dich durch die Luftschleuse aus meinem Schiff befördert!"
"Ich würde Krieg so definieren, dass sich mindestens zwei Parteien gegenseitig bekämpfen. Also eine angreift und die andere wenigstens Widerstand leistet", antwortete der Captain vorsichtig.
"Und du willst mir sagen, dass keiner versucht, das da", Baldor deutete aus dem Fenster auf die Kraterlandschaft unter ihnen, die einst das Meer dargestellt hatte, "zu verhindern?"
"Natürlich haben die Nethufischen Verteidigungskräfte versucht, dieses Desaster zu verhindern, aber der Feind ist einfach zu übermächtig. Der Angriff begann vor zwei Stunden, von den Verteidigungssystemen ist jetzt schon nichts mehr übrig. Ich fürchte, bald ist auch nichts anderes übrig, das an unser geliebtes Nethufia erinnert."
Je weiter das Raumschiff nach oben stieg, desto klarer wurde das Ausmaß der Zerstörung. Nicht nur das Meer war verschwunden, es schien regelrechte Löcher in der Oberfläche seiner Heimat zu geben, als hätte ein Gigant herzhaft in eine Belugagrabenfrucht gebissen.
"Bei der Großen Qualle!", entfuhr ihm der Satz, den er sonst scherzhaft im Kreis seiner Freunde losließ, nun voll Ehrfurcht. "Wer ist zu so etwas imstande?"
"Die Vetis"
Ein Name, der Grauen in Baldor hervorrief. Nicht nur der Grund für den Tod seiner Mutter, sondern auch Bestandteil kindlicher Schauermärchen. Wenn du nicht artig warst, kamen die Vetis. Sie nahmen dir alles. Rissen dir deine Tentakel aus, stahlen die Erinnerung an deinen schönsten Tag, manche fraßen angeblich sogar dein Herz. Sie ließen dich als Schatten deiner selbst zurück, damit du auf ewig auf dem Grund des Meeres umhergeistertest. Letztes war offensichtlich eine Lüge, denn sie schienen nicht einmal den Meeresgrund zurückzulassen. Und nun waren sie hier und nahmen ihm seine Heimat. Über die er eigentlich eines Tages Präsident sein sollte.
"Es kann doch nicht sein, dass wir nichts dagegen tun können? Wo ist die Unterstützung, die uns vom Galaktischen Rat zusteht?"
"Wir konnten niemanden außerhalb unseres Systems erreichen, alle Kommunikationskanäle sind gestört", kam es gedämpft hinter dem Pilotensitz hervor. "Deswegen solltest du auf Wunsch deines Vaters auch unverzüglich evakuiert werden."
"Mensch Dad!", rief Baldor verärgert aus, "Konntest du mir nicht sagen, dass es wirklich wichtig ist, dass ich mich in das Raumschiff setze?" Er konnte natürlich nicht antworten, aber er musste das einfach loswerden. "Wo ist mein Vater grade?"
"Ich hatte gehört, dass er Verhandlungen mit dem Mutterschiff der einfallenden Vetis aufnehmen wollte", erklärte Pan. "Aber wenn ich diese Zerstörung sehe, glaube ich nicht, dass er viel Erfolg damit hatte."
"Und er ist immer noch dort unten?"
"Wahrscheinlich. Falls du jetzt aber auf die Idee kommst, dass wir umkehren und ihn in einer waghalsigen Rettungsaktion aus dem Blauen Haus holen, kannst du dir das abschminken. Dann gehen wir alle drauf. Dein Vater ist nicht umsonst der Präsident und weiß genau, was er tut."
Eigentlich sollte Baldor jetzt tatsächlich schreien und verlangen, dass sie umkehrten. Aber seine Unterrichtsstunden hatten sich auch mit Weltraumtheorie befasst. Er wusste, wie knapp bemessen die Ressourcen eines Raumschiffs dieser Größe waren. Würden sie jetzt dort unten landen, würden sie erst auftanken müssen, das Raumschiff musste geprüft werden und sicher gab es dafür kaum noch Personal, das nicht geflohen war. Vielleicht würde er sich rückblickend Vorwürfe machen, wenn er an diesen Tag zurückdachte, falls sein Vater nicht auch entkommen war. Aber jetzt im Moment war er einfach nur froh, das Chaos, die Verwirrung und die Gewissheit auf den Tod, der ihn dort unten ereilen würde, zurückzulassen.
"Was ist unser Ziel?"
"Da hat dein Vater dir die Wahrheit gesagt. Wir versuchen, uns zum Galaktischen Bankenzentrum durchzuschlagen, das ist neutrales Gebiet und dank der Verteidigungsmaßnahmen sogar für Vetis unantastbar."
Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis sie den Orbit verließen und ins All vorstießen. In der Zeit würde er schauen, ob sich im SpaceNet noch Lebenszeichen seiner Freunde fanden.