Im zweiten Ring sah die Welt schon anders aus. Aus den Mauern wuchsen Würfel mit Fenstern und Türen. Schmale Brücken überbrückten die Straße, fraßen sich grau in den schmalen Streifen blauen Himmels. Das alles engte diesen Distrikt noch mehr ein, als es bereits die Hütten im letzten getan hatten. Auch die Menschen sahen kaum vertrauenswürdiger aus.
Sie hielten einen gesunden Abstand, nicht nur, weil Baldor und seine Begleiter wie die Trillianische Beulenseuche stanken und aussahen wie Sumpfmonster. Nein, man musste schon lebensmüde sein, wenn man den Ring aus Ratten durchqueren wollte, der sie schützend umgab.
"Können wir nicht etwas gegen diesen Gestank tun, Boss?", beklagte sich Ngi.
"Erzähl mir nicht, du hättest ein Geruchsmodul ..."
"Nein hab ich nicht. Aber ich habe nachgedacht."
Oha, war das gut, wenn Roboter so etwas sagten? War das nicht ein sicheres Zeichen dafür, dass sie demnächst die Herrschaft an sich reißen und alle Nethuf auslöschen würden, nur um sie vor sich selbst zu schützen? Baldor schnaufte, doch das beeindruckte den Roboter nicht.
"Meinst du, irgendjemand schlägt dir nicht die Tür vor der Nase zu, wenn du ihm so begegnest, Boss?"
Baldor hob die Arme und vollzog eine entschuldigende Geste. "Und was soll ich deiner Meinung dagegen tun?"
War ja nicht so, dass er hier irgendwo eine öffentliche Badehöhle finden würde. Und Sarah, die sich hier auskannte, sah nicht so aus, als würde sie ihm verraten, falls es doch eine gab. Sollte er – als Sohn des Präsidenten – den Befehl geben, ein Wohnhaus zu stürmen?
Sergej rettete ihn vor der Peinlichkeit. "Es gibt in diesem Bezirk einen Vergnügungsbereich. Kneipen und so."
"Und die lassen uns rein, so wie wir aussehen?" Baldor zweifelte da irgendwie dran.
"Mit etwas Glück müssen wir nicht mal hinein. Ich habe mal als Rauschmeißer in einer Kneipe gearbeitet, die hatte im Eingangsbereich Reinigungsgeräte. Keiner will einen Minenarbeiter am Tresen sitzen haben, der nach Feierabend in voller Montur und mit dem halben Erdreich ankommt."
"Worauf warten wir dann noch?"
"Etwas Geduld, mächtiger Tentakoloss." Klara streckte ihm die Zunge raus, während Sergej etwas aus einem Brustfach seines Panzers herausholte und aufklappte. Ein halbdurchsichtiger Balken mit zwei Stangen, die er sich auf Nase und Ohren setzte.
"Was ist denn das?"
"Gibt es sowas nicht bei euch?" Klara schüttelte den Kopf. "Das ist eine Brille. Eine Datenbrille. Damit findet Sergej den kürzesten Weg zur nächsten Kneipe."
Wie auf Kommando marschierte Sergej zielstrebig los und alle hinterher.
Die Gebäude vollzogen eine weitere Wandlung. Weniger Stockwerke und – Baldor hielt den Atem an – knallige Farben statt monotonen Graus. Dass es tatsächlich Farbe in dieser Welt gab, überraschte ihn nun doch. Die Medienpanels warben hier mit lauter Stimme und schnellen Bildern für das, was sich hinter den bunten Fassaden verbarg. Doch wo waren die Menschen? Hatten sie von ihnen gehört und waren geflüchtet?
"Sagt mal, warum ist hier niemand?"
"Abends und Nachts ist hier mehr los", erklärte Sergej. "Die meisten Menschen arbeiten jetzt."
"So, wie die, die uns grad umbringen wollten?"
"Die haben keine Arbeit. Oder sie warten darauf, dass sie wieder in die Gesellschaft integriert werden, wenn die Stadt mitbekommen hat, dass sie nun alle hier oben, statt dort unten sind." Sergej murmelte etwas, das offensichtlich nicht für Baldor bestimmt war, und wechselte dann die Richtung. "Die, die uns angegriffen haben, das waren fast alles Minenarbeiter, die ihren Arbeitsplatz an dieses allesfressende Monster verloren haben."
"Deswegen waren sie so sauer?"
"Ach, Minenarbeiter sind immer unzufrieden", brummte Sarah. "Wenn die ihren Stoff nicht bekommen, zeigt sich ihre wahre Natur. Agrressiv und brutal."
"Stoff? Die hatten doch Kleidung an, oder nicht?"
Sarah seufzte. "Drogen. Keine Ahnung, was ihr in eurer Sprache dazu sagt. Wenn den Unterweltlern ihre Unterhaltung nicht ausreicht, werden sie aggressiv. Zu ihrem und dem Schutz ihrer Mitmenschen wird ihrer Nahrung Beruhigungsmittel hinzugefügt. Ein Nebeneffekt: Sie machen süchtig."
"Oh."
"Riesige Sauerei!", schimpfte Sergej. "Eigentlich sollten die Minenarbeiter in der Oberwelt auf den Putz hauen. Nicht hier, sondern dort wo die Leute sitzen, die das zu verantworten ha ...."
Klara zog an seinem Ärmel und Sergej blieb abrupt stehen. Er nickte und machte eine einladende Handbewegung. "Zu Ihrer Linken sehen Sie den weltberühmten 'Hort des Schrottsammlers'" Er nahm seine Brille ab und ging auf den Eingang zu. Die Ratten bildeten einen Korridor für ihn und verstärken dafür an anderer Stelle ihr Bollwerk gegen Zivilisation und Hygiene.
Der Eingang, sofern es sich dabei um die riesige Tür in der Mitte handelte, war in einer kleinen Halle versenkt, die auf jeder Seite von einer Reihe stahlgrauer Zylinder gesäumt war.
Sarah drückte sich an Baldor vorbei und hielt auf eines dieser Objekte zu. Eine Tür öffnete sich und für einen Moment wurde ein weiß ausgekleideter Innenraum sichtbar, bevor sich die Tür wieder hinter ihr schloss. Baldor versuchte, es ihr gleichzutun, doch für ihn wollte sich keine der Türen öffnen.
"Wieder ein Chip-Problem?"
Sergej nickte. "Aber du hast Glück, dafür habe ich ja einen."
"Muss ich da etwa mit ... dir zusammen reinklettern?"
"Nein,nein, keine Sorge. Meiner ist mobil. Ein Freund hat ihn jemandem aus dem Kopf geschnitten, der ihn nicht mehr brauchte."
"Aus dem Kopf ge..." Baldor verzog das Gesicht bei dem Gedanken. "Du hast ja tolle Freunde."
"Hatte. Er lebt nicht mehr."
"Oh."
"Mach dir keinen Kopf, das Leben kann hier schnell vorbei sein. Fang!" Mit den Worten warf Sergej ihm ein kleines schwarzes Kästchen zu.
"Was mach ich damit?"
"Schieb den Deckel auf und stell dich vor die Tür."
Baldor gehorchte. Es war einfach, den Deckel herunterzuschieben, und mit der gleichen Leichtigkeit glitt auch die Tür beiseite, sobald er davor stand.
"Und was mache ich jetzt?"
"Geh hinein. Du wirst es schon merken."
Baldor zögerte. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Sergej ihn den ganzen Weg bis hierher gebracht hatte, nur um ihn jetzt in einem Stahlzylinder einzusperren. Aber er konnte eine gewisse Angst vor dem Unbekannten nicht leugnen. Mutig trat er vor. Ein kleiner Schritt für einen Nethuf, doch ein großer Schritt für die Nasen aller Beteiligter.
Die Tür schloss sich und eine Melodie erklang. Baldor, der noch keine menschliche Musik gehört hatte, fand sie beruhigend. Sie gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit.
Eine Schale schob sich vor die Tür – jetzt war er nur noch von weißem Kunststoff umgeben. Auf der Oberfläche öffneten sich winzige schwarze Löcher, zu Kreisen angeordnet. Baldor kniff die Augen zusammen und senkte seinen Kopf, um besser zu erkennen, was das war. Da färbten sich die Löcher des Kreises rot und warfen kleine Lichtkreise auf seinen Oberschenkel. Ein Zischen erklang, wie das Aufspritzen einer Welle, die an einem Felsen gebrochen wird. Mit großen Augen sah er an sich herab.
Seine Rüstung hatte sich an dieser Stelle aufgelöst und ein Fleck seiner nackten, roten Haut lachte ihn an. War das doch eine Falle? Ihm brach der Schweiß aus.
"Hilfe!", schrie er und hämmerte gegen die Wand.
Sein Schrei ging im Zischen der anderen Kreise unter.
Jedes verschwundene Stück Kleidung hinterließ ein Prickeln auf seiner Haut. Tausend Oktopussaugnäpfe, die mit einem Schlag von seinem Körper gerissen wurden. Was würde passieren, wenn seine Haut selbst dran war? Er wollte definitiv nicht wissen, wie sich das anfühlte! Er tastete in seinem Verstand schon nach Nethufia, dann hielt er inne. Statt Schmerzen überkam ihn ein sonderbares Wohlgefühl.
Seine Haut wurde mit einem unnachgiebigen Druck an den Stellen eingedrückt, auf die das Licht mit fiel, doch er wurde nicht verletzt. Das Einzige, das verschwand, war der Schmutz der Kanalisation, der sich durch die Öffnungen seiner Rüstung vorgearbeitet hatte. Und mit ihm verschwand auch der Gestank.
Da er immer noch lebte, ließ er von der Wand ab und genoss stattdessen die Massage, die mit der Reinigung einherging. Als beides beendet war, tauchte seine Rüstung auf dieselbe mysteriöse Weise auf, wie sie verschwunden war – in vollkommen gereinigtem Zustand.
Die Schale schob sich von der Tür, welche ihn anschließend in die Freiheit entließ. Das grinsende Gesicht von Sergej empfing ihn und Baldor grinste verlegen zurück. Klara war ernst – hatte sie sich am Ende Sorgen um ihn gemacht?
Er gab den Chip an Sergej zurück, und als der ihn wiederum Klara geben wollte, schüttelte die energisch den Kopf.
"Ach komm, du hast die Dusche doch am dringesten von uns allen nötig. Wie viele Tage warst du da draußen?"
Sie reckte nur verbissen das Kinn in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Muss ich dich etwa zwingen, da reinzugehen?"
"Versuch es lieber nicht. Meine Ratten mögen es gar nicht, wenn jemand grob zu mir ist!"
"Klara, in deinen Haaren krabbelt es, und du stehst vor Dreck."
"Gerade weil es in meinen Haaren krabbelt, kann ich da nicht rein!"
"Oh." Sergej warf einen vorsichtigen Blick in die Untiefen des verfilzten Gestrüpps. "Freunde von dir?"
Klara nickte.
"Aber wir werden es echt schwer haben, in irgendein gesichertes Gebiet hineinzukommen, wenn du weiter so aussiehst. Und den Weg freikämpfen können wir nicht, wenn wir wollen, dass uns die Enklave wirklich hilft."
Klara schnaubte und reckte ihr Kinn noch höher. "Mir doch egal."
"Können wir deine Haustiere nicht irgendwie umsiedeln, solange du duschst?", schlug Baldor vor – und bereute es gleich wieder.
Sergejs Haare waren dafür eindeutig zu kurz und er konnte sich vorstellen, dass Sarah ihn erschoss, wenn er sie als geeignetes Reservat präsentierte. Am Ende blieb nur noch er selbst übrig. Er lächelte verlegen und Klara verdrehte die Augen.
Es kam nicht der erwartete Protest. Sie dachte nach, oder? Vielleicht kommunizierte sie auch mit Bip. Ihr Blick wurde wieder klar und sie griff nach einem Stück verdreckten Fells, das in ihrer Rüstung hing. Erst leistete es Widerstand, dann sah Baldor, wie die Rüstung Finger um Finger seinen Griff aufgab. Den Vorgang wiederholte sie mit all ihren Beutestücken und bildete damit einen kleinen Haufen. Als sie fertig war, beugte sie sich nach vorne, bis ihre Haarspitzen ihn berührten. Kleine, schwarze Kugeln hüpften und kullerten über die Haare hinab. Anschließend streckte sie sich, schnappte Sergej das Kästchen aus der Hand und stapfte auf eine der Duschen zu.
Heraus kam ein anderer Mensch.
Baldor staunte nicht nur darüber, dass ihre Rüstung sandfarben war, nein, die Dusche hatte ihre Haare geglättet und unter dem Dreck rosige Wangen und eine kleine Stupsnase freigelegt. Als sie seinen Blick bemerkte, streckte sie ihm frech die Zunge heraus. Bei Nethufia. Hatte er sie gerade wirklich so unverhohlen angestarrt?
"Pass auf, dass sich unser Gast nicht in dich verguckt, jetzt wo du wieder wie ein Mensch aussiehst", scherzte Sergej.
Klara kniff die Augen zusammen und zog die Nase hoch, bevor sie auch ihn mit einer herausgestreckten Zunge belohnte.
Am Ende mussten nur noch Sergej und auch Ngi die Reinigung antreten, dann konnten sie ihren Weg ins Innere der Stadt fortsetzen. Aus irgendeinem Grund bevorzugten die Heckenläuse nun die Ratten und verteilten sich auf ihnen. Waren die Kleinen nun groß und konnten eine eigene Familie gründen? Baldor stellte sich die Trennungszeremonie wirklich rührend vor. Klara verzog das Gesicht, betrachtete den verdreckten und nun unbewohnten Haufen ihrer ehemaligen Schmuckstücke und entschied sich, sie dem Besitzer dieser Kneipe als Geschenk dazulassen.