Baldor hatte aufgehört, die Etagen zu zählen, aber so langsam kam ihm der Verdacht, dass sie trotz Sarahs Anwesenheit nicht als Gefahr eingestuft wurde. Keine Siks, die sie an den Türen attackierten, kein Aufzug, dem sie panisch kreischend ausweichen mussten. Beinahe langweilig. Vielleicht hätte sich Baldor doch für die Tour durch die Kanalisation entscheiden sollen. Der andere Gedanke war, dass sie bereits als tot abgeschrieben wurden. Sie begaben sich hinab in die Unterwelt. In die Höhle eines menschenfressenden Monsters, aus dessen Gegenwart sonst jeder floh.
Die Gruppe murrte nur noch selten, wenn Baldor einmal den Halt verlor und es ruckelte und inzwischen hatte sich auch der Letzte von ihnen mit dem schleimigen Zustand seiner Kleidung abgefunden.
"Jetzt weiß ich, warum hier kein Aufzug mehr fährt", rief Sergej nach oben. Ihn hatte Baldor als Späher ganz nach unten gehängt, zusammen mit Ngi, dessen Scheinwerfer den Schacht in flackerndes Licht hüllte. "Die Wände sind hier im Arsch. Überall Rissen und da unten fehlt sogar ein ganzer Brocken."
"Meinst du, der Schacht hält uns noch aus?" Klara klang verunsichert. Ja, das war kein Baum. Keine Äste, an denen sie sich elegant entlangschwingen konnte, wenn sie fiel.
"Das können wir nur hoff–"
Etwas brach aus der Wand, Baldor rutschte ab und Sergejs Worte wurden abgeschnitten. Ein Betonregen rieselte durch das Licht hinab in die Dunkelheit und Baldor griff hastig mit zwei seiner Arme nach neuem Halt.
Sergej räusperte sich. Als er seine Worte wiedergefunden hatte, fuhr er fort: "Also, wir könnten immer noch durch die anderen Schächte."
"Und die sind in einem besseren Zustand?" Mal abgesehen davon, dass Baldor erst einmal herausfinden musst, wie er seine Tentakel loswurde, um nicht stecken zu bleiben.
"Ich stürze lieber hier ab und verlasse mich darauf, dass Baldor uns festhält." Sarah hatte die meiste Zeit der Strecke geschwiegen. "Wenn eines der Kanalisationsrohre einstürzt, sind wir mit Sicherheit tot."
"Ihr müsst euch nicht mehr entscheiden." Ngis Stimme hallte durch den Schacht und hörte sich noch künstlicher an, als sonst. "Ich kann den Boden sehen!"
Sergej sah nach unten, lehnte seinen Oberkörper vor und Baldor musste seinen Tentakel noch enger um ihm schließen, damit er ihm nicht herausrutschte. Sergej stöhnte. "Scheiße. Das ist ein ganzes Stück, bis zum Boden. Baldor. Wie weit kannst du deine Tentakel ausfahren?"
"Weiß nicht. Unendlich weit? Immerhin wachsen die Dinger ja aus dem Nichts."
'Oh nein', hallte es in seinem Kopf. 'Sie kommen nicht einfach aus dem Nichts. Die Materie, die hier entsteht, verschwindet in einem der anderen Universen.'
"Okay? Ist das schlimm? Ich meine, was ist das für Materie?"
'Die anderer Lebewesen, die sich dort an derselben Stelle befinden, an der du dich gerade hier befindest. Zunächst aus den naheliegenden Universen. Zum Beispiel aus dem, das mit der Wahl entstanden sind, ob ihr dort oben kämpft oder nicht. Aus dem nächsten, in dem sich die Frau entscheidet, ob sie den Mann erschießt, beide oder gar keinen. Ob du sie stehen lässt und all den weiteren, unbedeutenderen Entscheidungen ...'
"Jede unserer Entscheidungen erzeugt ein neues Universum? Das eine Kopie unseres eigenen ist, mit leichten Veränderungen?" Baldor sponn den Gedanken weiter und ihm lief ein kalter Schauer den schleimigen Rücken hinunter. "Du meinst, ich habe Materie aus mir oder meinen Freunden gerissen, in einem Universum um die Ecke?"
'Ja.'
"Ugh …" Baldors stellte sich vor, wie jemandem, der ihm ähnlich sah, dort oben vor dem Fahrstuhl ein Stück Fleisch aus der Brust gerissen wurde. Ihm, Sergej oder … Klara. Sein Blut wanderte bei dem Gedanken aus seinen Tentakeln in den Rumpf. Eine natürliche Schutzreaktion bei brenzligen Situationen, wie er im Unterricht gelernt hatte. Eine natürliche Reaktion, bei dem Schrecken, den diese Bilder in ihm auslösten.
'Hör auf! Konzentrier dich darauf, dass du nicht auch noch eure Versionen im Hier und Jetzt umbringst. Diese Vorstellung sollte dir mehr Unbehagen bereiten. Wenn es dich beruhigt, die Versionen von euch, die oben geblieben sind, hätten auch ohne dein Eingreifen nicht viel länger existiert.'
"Ich dachte, du könntest die Auswirkungen der anderen Universen nicht mehr spüren?"
'Es hilft ungemein, dass ich jetzt wieder einen festen Körper habe.'
"Hey! Das ist immer noch meiner!"
'Natürlich.'
Und damit verstummte sie wieder und ließ ihn mit seinem Unbehagen allein. Was richtete er mit seinem Handeln an? In anderen Universen oder auch hier? Er hatte hier einen Weg eingeschlagen, den sie vielleicht nicht überleben würden.
Nethufia nahm in seinem Inneren keine Rücksicht auf seine Gefühle, gab ihm einen Stoß und die Tentakel wuchsen. Für jeden verdammten Zentimeter wurde irgendwo ein anderes Ich verletzt und für jedes bisschen mehr starb es. Oder eine Kopie seiner Freunde. Verdammte Schellpisse! Warum konnte er nicht ausblenden, dass ihm das Schicksal anderer inzwischen nicht mehr egal war? Warum konnte er sich nicht einfach nur für sich selbst interessieren, so wie früher? Mit jedem Meter, den sein Körper nach unten gelassen wurde, flackerten Bilder seiner verstümmelten Freunde auf und jagte einen Schauer durch die Tentakel.
Der Boden war von Schutt bedeckt. Einzelne Pfeiler ragten hier und da in die Luft. Irgendwann mussten sie einmal die marode Decke getragen haben. Er löste seine Tentakel vom Schacht des Aufzuges und sein Blick folgte Ngis Scheinwerfern, die einen Bogen über Wände und Decke vollzogen und noch mehr der Zerstörung zeigten. Sie befanden sich in einer gigantischen Höhle. Wie bei einer Stadt, die auf dem Kopf stand, hingen einzelne, bodenlose Gebäudekomplexe von der Decke, die der Zerstörung noch nicht vollständig zum Opfer gefallen waren.
"Das soll ein einziges Monster angerichtet haben?", fragte Sergej. "Wie ist das möglich?"
"Auf Nethufia haben die Vetis auf einen Schlag das ganze Meer verschlungen und dann Brocken aus dem Planeten herausgerissen." Baldor knirschte mit den Zähnen. "Nachdem, was Madun angestellt hat, ist es ein Wunder, dass eure Zitadelle überhaupt noch steht."
"Jede Etage ist seitlich im umgebenden Felsen verankert", erklärte Sarah.
"Da pfeif ich drauf." Sergej spuckte aus. "Erzähl uns endlich was Wichtiges! Über das Monster!"
Sarahs Gesicht wurde im fahlen Scheinwerferlicht blasser, was den Kontrast zu den schwarzen Schatten verstärkte, die es einrahmten.
"Jetzt mach schon!"
Sarah atmete durch und ihr Körper zitterte dabei. Sie fuhr sich durch die Haare und schloss die Augen. "Es frisst. Es frisst einfach alles."
"Und jeden", fügte Baldor hinzu. Das hatten sie alle gesehen.
"Ja, und jeden", stimmte Sarah zu. "Aber das ist nicht das Schlimmste. Wir ... wir haben versucht, es zu töten, als es angefangen hat, das Labor zu fressen. Das war ihm egal. Es hat einfach weitergefressen und die Wunden haben sich verschlossen."
"Na großartig. Das sind mir die Liebsten. Hoffen wir, dass wir ihm nicht begegnen." Sergej wischte sich den Schleim Baldors Umarmung vom Panzer und sah sich um. "Könnt ihr euch an Details aus Moritz' Video erinnern?"
"Warum sollte ich?" Klara befreite sich von ihrem Tentakel und ließ sich auf einen Geröllhaufen fallen. "Willst du, dass ich kotze? Schon schlimm genug, dass er tot ist."
"Tut mir leid, aber es muss sein. Er ist bestimmt nicht mit dem Aufzug runtergefahren, er muss den alten Tunnel genommen haben."
"Stimmt!" Baldor erinnerte sich auch an einen Tunnel, nur von hier aus konnte er ihn nicht sehen. "Müssen wir nicht einfach nur bis zum Rand der Höhle gehen und so lange an ihm entlanglaufen, bis wir den Tunnel finden?"
Ngi drehte sich mit seinen Scheinwerfern im Kreis. "Chef, ich kann auch keine Wand sehen."
"Der Aufzug, den wir benutzt haben, befindet sich in der Mitte der Zitadelle." Sergej warf einen Blick hinauf zum Loch, aus dem sie sich herabgelassen hatten. "Der Tunnel müsste … nein, ich habe keine Ahnung. Klara, gibt es hier Ratten, mit denen du den Raum auskundschaften kannst?"
Oh Mist, Klaras letzte Ratte hatte er oben vergessen, genauso, wie Roy. Auch die beiden waren Opfer seines verdammten Abenteuers geworden, wie seine Kopien, wie die Menschen in der Enklave. Alles nur, weil er nach Hause wollte. Das es nicht einmal mehr gab.
Klara sah mit glasigen Augen ins Leere und schüttelte langsam den Kopf. Sie sah so müde aus. Was hatte sie mitmachen müssen, nur um ihm zu helfen? Sie wollte zu einer Antwort ansetzen, dann wich die Müdigkeit Schrecken. "Alle Tiere sind geflohen. Ausnahmslos. Dafür spüre ich was anderes. Es ist groß und … gemein."
"Einfache Lösung." Sergej schlug die Fäuste gegeneinander. "Wir gehen dorthin, wo es sich nicht befindet. Klara, du gibst die Richtung vor!"
Die wilde Königin ohne Untertanen sprang von ihrem Sitz auf und huschte zwischen Schrott und Trümmern davon. Hinein ins Dunkel. Ngis Lichtkegel fing sie wieder ein, als sie auf allen vieren auf einen Geröllhaufen kletterte, zwischen Pfeilerrümpfen in die halbdunkle Ferne spähte, nur um kurz darauf wieder hinabzuspringen und weiterzulaufen. Der Rest gab sein Bestes, ihr zu folgen. Baldors Tentakel schrumpften mit jedem Schritt, wurden schlanker. Doch sie blieben und halfen ihm mühelos über jedes Hindernis hinweg. Sarah fluchte alle paar Meter, gefolgt von einem Schlag, wenn Sergej ein Hindernis und den Grund für den Fluch aus dem Weg räumte. Ngi folgte ihnen stumm.
Bald schon erreichten sie eine Wand aus weißem Metall, durchzogen von grünen Lichtspuren.
"Das Netzwerk scheint ihm wohl nicht zu schmecken", meinte Sergej, als er mit der Hand darüber fuhr.
"Netzwerk?" Baldor schwebte, von seinen Tentakeln getragen über dem Boden. Er ließ seinen Körper näher an Sergej sinken, um zu erkennen, wovon er sprach.
"Das Datennetzwerk der Zitadelle. Die Leitungen sind in die Wände eingearbeitet."
Auch Ngi berührte die Wand und seine Scheinwerfer flackerten. Ob die Zitadelle wohl so etwas wie ein großer Bruder für ihn war? Er löste seine Finger und drehte sich nach links. "Boss, dort ist eine Lücke im Netzwerk. Da muss der Tunnel sein."
"Habe ich dir schon einmal gesagt, was für einen verdammt guten Job du machst?" Baldor kringelte sich innerlich. Deswegen fügte er noch schnell einen weiteren Kommentar hinzu: "Also, selbst, wenn du nicht kämpfen kannst."
"Danke Boss. Das bedeutet mir so viel! Ich erinnere dich später daran, wenn es um die Bezahlung geht."
"War ja klar." Doch irgendwie freute er sich inzwischen über diesen Charakterzug seines Roboters. Bei der Großen Qualle, seine Gefühle und Gedanken waren heute auf der ganzen Skala verteilt! Sollte er sich über seine Freunde freuen oder über den Mist grämen, den sie gerade durchmachten?
Klara keuchte und holte ihn aus seinem Gedankenwirrwar zurück. "Das ist schlecht." Ihre Stimme klang erstickt und sie krümmte sich.
Sergej legte ihr eine Hand auf die Schulter "Was ist los, Kleine?"
"In der Richtung ist das Monster. Es bewegt sich."
"Auf uns zu?" Sarahs Stimme war schrill. Panisch "Bitte nicht!" Sie umklammerte die Waffe und drückte sie fest an sich.
"Ja, auf uns zu." Klara schnaufte, presste die Worte unter Anstrengung aus sich heraus. "Und es ist schnell!"
"Verteilt euch!", brüllte Sergej. "Sucht Deckung hinter großen Dingen. Wir müssen dem Ding ausweichen! Dann entkommen wir!"
"Du bist witzig", beklagte sich Baldor. "Hinter was soll ich mich bitte verstecken?"
'Kämpfe! Töte den Vetis!', ertönte es mehrtönig in seinen Gedanken.
Wie denn? Was sollte er tun?
"Nethufia will, dass ich kämpfe ..."
"Sie hat einen Plan? Großartig!" Sergej klang hoffnungsvoll.
'Kämpfe, kämpfe, kämpfe!', hallte es in den Tiefen seines Schädels.
"Öhm, ich denke nicht, dass sie wirklich einen hat."
"Aber das ist doch eine fantastische Idee!", rief Sarah in panischer Euphorie, während sie ihre Waffe vor sich hin und her schwenkte. "Der Tentakeljunge kann ruhig kämpfen! Wir hauen so lange ab. Ich bin so dankbar für dein Opfer!"
"Es ist hier!", schrie Klara.
Alle anderen sahen sich verblüfft zu ihren Seiten um. Da war nichts. Dann spürte Baldor einen Windhauch, begleitet vom fauligen Geruch eines prähistorischen Jägers ohne Zugriff auf Zahnpflege. Der Gestank nahm ihm den Atem und mit einem Schlag wurde sein Mund trocken. Er wich zurück. Das Monster kam aus der Luft, stürzte mitten in ihre Gruppe, trieb sie auseinander. Sein Gewicht verwandelte einen massiven Betonklotz in kleine graue Brocken und die Druckwelle des Aufpralls riss Klara von den Füßen.
Bei der großen Qualle! Wie konnte so ein fettes und riesiges Vieh fliegen? Bei der Masse seines Körpers, besonders beim Anblick des überhängenden blauen Bauchs, zweifelte Baldor an den Gesetzen der Physik. Seine Flügel waren einfach zu klein!
Wenn er sich die vielen spitzen Zähne und die gewaltigen Fängen wegdachte, stand da einer der gemütlichen Touristen aus Welschia vor ihm. Das einzig gemütliche an dem hier war sein Blick, mit dem er einen nach dem anderen maß. Abschätzte, wer von ihnen am besten schmeckte oder das leichteste Opfer abgab. Oder vielleicht das Ziel, das am meisten Gegenwehr bot? Sein Blick blieb an Sarah hängen.
"Oh nein. Nein, nein, nein!" Sie kauerte sich zusammen, versuchte, hinter einer ehemaligen Metalltür unsichtbar zu werden.
"Er hat dich erkannt!", rief Klara.
"Kannst du seine Gedanken lesen, Kleine?", wimmerte Sarah "Kannst du es kontrollieren? Es … es tut mir leid, wenn ich gemein zu dir war."
"Halt einfach den Mund. Ich versuche es."
Doch der Vetis machte schon einen Satz auf Sarah zu, die instinktiv die Waffe abfeuerte. Ein Energiestrahl bohrte sich wie ein Speer in seine Brust und trat am Rücken wieder aus. Unbeeindruckt landete er vor ihr, wischte mit einem Arm die Tür beiseite und packte sie mit der anderen Hand.
'Kämpfe!', erschallte Nethufias Ruf nun eindringlicher. Baldor rannte bereits auf das Monster zu, Sergej auch. Der war näher dran, holte zum Schlag aus, doch der Vetis wischte auch ihn mit einer beiläufigen Handbewegung davon. Noch bevor Baldor ankam, warf das Monster den Kopf zurück und biss zu. Er sah nur den Rücken des Ungetüms und Sarahs zappelnde Beine, die in einem Spalt zwischen Seite und Flügel hervorblickten. Das Zappeln wich einem Zucken, dann wurden die Beine steif. Das Monster biss er ein zweites Mal zu. So schnell. Es war so schnell gegangen, wie schon bei der 'Faust des Calu'.
"Wie ... wie soll ich dagegen kämpfen?", stammelte Baldor entsetzt vor sich hin, während er seinen Ansturm bremste, und versuchte, auszuweichen.