Seinen Körper wiederzubekommen gestaltete sich einfacher als gedacht, dafür umso ekliger.
In einer Explosion violetter Flüssigkeit und Tentakelstückchen ähnlicher Pigmentierung verteilte sich der fremde Körper über den Strand. Mit einem Mal sah er die Welt nicht mehr durch die Augen des Monstrums … sondern sah gar nichts mehr. Etwas umschloss ihn, hinderte ihn daran, sich zu bewegen – und zu atmen!
Baldors Finger glitten über eine weiche Oberfläche, seine Nägel kratzten darüber. Schleimige Substanz blieb unter ihnen hängen. Er bäumte sich auf, drückte seine Arme nach oben, sog Luft ein, die nicht da war. Tränen stiegen ihm in die Augen und gerade als er seine Arme kraftlos sinken lassen wollte, durchstießen seine Finger das Gefängnis, das ihn umgab.
Köstlich salzige Meerluft kitzelte in seiner Nase und strömte in seine Lungen. Er schälte sich aus seiner zweiten Haut und sah an sich herab. Seine Kleidung hing nur noch in Fetzen an ihm, aber die Fleischreste verbargen seine Nacktheit. Glück im Unglück.
"Hey, bist du noch da?"
Der Wal blieb stumm. War es hier draußen anders als in seinem Kopf? Vielleicht war es auch besser so. Er ließ seinen Blick über das Schlachtfeld gleiten und schloss die Augen. Was hatte er da nur angerichtet?
"Hey Chef, alles klar bei dir?"
Baldor nickte, doch innerlich schüttelte er den Kopf. "Lass … lass uns unsere neue Eroberung ansehen." Den Schweber, den die Angreifer zurückgelassen hatten. Ngi hatte den anderen sabotiert, diesen würde er vielleicht starten können.
Eine ausgeklappte Treppe führte in einen kleinen Raum mit einer Bank und Schränken. Eine der Türen war ein Stück geöffnet, davor und darin lagen schwarze Plättchen, die herausgefallen sein mussten, als er den Schweber gepackt hatte.
Er drückte eines der Plättchen und schwarzer Stoff quoll daraus hervor, der sich nach zwei Sekunden zu einer Hose entfaltet hatte. Wahllos probierte er andere von ihnen aus. Was konnte schon passieren? Bei allen handelte es sich um synthetische Textilwaren. Kleidung, Planen, Säcke. Ersatzklamotten für die Killer und Zeug, um den Tatort danach wieder aufräumen zu können. Das war ihm sofort klar.
Er fand eine Rüstung in Schwarz, die ihm gefiel. Aber so würde er sie nicht anziehen.
"Ich gehe eine Runde ins Wasser."
Der Roboter stand noch immer vor dem Schweber und sah hinaus aufs Meer. Nun, ihm konnte es egal sein. Solange er sich bewegte, wenn er den Schweber starten sollte, würde ihm das reichen. Baldor tapste durch den Sand, der angenehm zwischen seine Zehen glitt. Er streckte sein Bein aus und berührte mit seinem großen Zeh die Wasseroberfläche, um dann …
"Boss, hältst du das wirklich für eine gute Idee?"
Baldor tippte mit dem Zeh ins Wasser und hob eine Augenbraue. "Wieso? Hast du Angst davor, dass ich danach sauber sein könnte?"
"Nein, das würde mich nicht im geringsten stören. Doch weißt du, was dort unten im Wasser auf dich wartet? Ich habe hier eine Dokumentation zu weißen Haien …"
"Ngi …" Baldor stöhnte. "Bitte verschon mich mit deinen Dokumentationen. Zufällig weiß ich, dass es in diesem Küstengebiet überhaupt keine gefährlichen Tiere gibt."
"Du hast dir auch eine Dokumentation angesehen? Ich bin beeindruckt, Boss?"
"Pfff. Nein, ich habe mich mit Klara unterhalten und die sollte es wissen." Mit diesen Worten schritt Baldor, fest entschlossen, Gestank und Dreck loszuwerden, ins Meer.
"Sag nachher nicht, ich hätte dich nicht …" Im Rauschen der Wellen ging der Rest des Satzes unter. Das Bild des Wals und des Meers in seinem Kopf? Es hatte seine Sehnsucht geweckt, endlich wieder mit seinem richtigen Körper in das richtige Meer einzutauchen. Nun, es mochte nur das Meer der Erde sein, aber das beste Meer, das ihm im Moment zur Verfügung stand. Oh, was hätte er nur für ein Surfbrett gegeben?
Als sich der Boden weit genug von der Wasseroberfläche entfernt hatte, begann er zu schwimmen. Kraulte durch die Wellen, die hier draußen stärker wurden. Baldor spürte, wie er von einer Strömung erfasst wurde. Für einen Menschen wäre das vielleicht ein Grund zur Sorge gewesen – nicht für einen Nethuf. Das Meer war seine Heimat und er wusste, wie er die Strömungen nutzen konnte, um wieder sicher ans Ufer zu kommen. Doch wollte er das überhaupt? Tief in seinem Inneren machte sich die Sehnsucht nach der Weite des Ozeans bemerkbar. Die Lust, weiter hinaus zu schwimmen, für immer dortzubleiben. Er wollte untertauchen und in den eiskalten Tiefen dieses Meeres verschwinden.
Er spürte, dass diese Sehnsucht nicht seine eigene war. Nicht in diesem Ausmaß jedenfalls. Es musste der Wal sein, der da aus ihm sprach, und nicht Baldors eigene Seele. Die Frage war nur, wer die Oberhand behalten würde. Eine alberne Frage. Er selbst natürlich. Er würde er es unter Wasser nicht ewig aushalten, brauchte die Luft zum Atmen. Das musste auch sein Gast wissen und einlenken, wenn er seinen Körper nicht verlieren wollte.
Der Wal wusste es und tauchte unter.
Nur einige Minuten, denn die Unterwasserwelt der Menschen stellte sich als sehr enttäuschend heraus. Karg, dunkel, leer. So hielt sich die Wehmut des Wals in Grenzen, als Baldor wieder an die Oberfläche schwamm.
"Ich denke, ich bin jetzt sauber genug", murmelte Baldor, ohne eine Antwort zu erwarten, und hielt wieder auf das Ufer zu.
Schwarzen Wolken zogen sich über ihm zusammen. Mit denen würde er um die Wette schwimmen müssen. Als seien sie über diesen Gedanken amüsiert, donnerte es in ihrem Inneren. Baldor lachte nervös. Um das Wetter hätte er sich mehr Gedenken machen müssen. Ngi hatte in seiner Warnung nur das Wildleben erwähnt. Andererseits hätte der die Zeichen für diese Gefahr, falls es vorher schon welche gab, sowieso nicht erkannt. Er war ja kein Wetterexperte. Andererseits. Nein, dafür gab es sicher auch eine Doku.
Den Auftakt des Sturms bildeten kaum merkbare Spritzer, die sich ohne weitere Übergänge in einen Schauer verwandelten. Hatte er es gerade noch gesehen, war das Ufer jetzt hinter einer grauen Wand verschwunden.
"Vielen Dank, blöder Wal!", brüllte Baldor in den Sturm und verschluckte sich dabei an einer Welle, die über ihn wegrollte.
'Nenn mich nicht Wal!', brüllten Sturm und Meer zurück, in einem Konzert von brodelnden Wellen, Blitzen und Donner, nur um dann in einer sanften Pause hinzuzufügen: 'Ich habe einen Namen.'
"Dann sollten wir uns endlich miteinander bekannt –", er tauchte unter einer Welle hindurch "– machen, bevor wir ertrinken. Ich bin Baldor."
'Ich weiß.'
Hinter Baldor stieg eine Welle an und trug ihn mit sich nach oben. Würde sie ihn auf die Küste zuschwemmen? Genau wie das Wasser stieg auch seine Ungeduld.
"Du solltest etwas kooperativer sein, solange du in meinem Körper steckst!"
'Du meinst, ich soll dir gehorchen, Sohn des Präsidenten?'
"Haha, nein. Ich habe schon gemerkt, dass so was nur ein Traum bleiben wird."
'Gut, denn mich kann man nicht zähmen. Ich bin wilder als der Sturm, den du gerade erlebst.'
Baldor bereitete sich darauf vor, dass die Welle einbrach und ihn in der Tiefe versenkte. "Ich hoffe, du erlebst den Sturm genauso, wie ich", rief er mit einer Spur der Verzweiflung, bevor er wie erwartet in die Tiefe gerissen wurde.
'Oh, keine Sorge, ich kann verhindern, dass du ertrinkst. Ich muss mich vor dem Meer nicht fürchten. Das Meer sollte sich vor mir fürchten!' Die Worte drangen dumpf und blubbernd zu ihm, während er senkrecht in die Tiefe gestoßen wurde.
"Wer bist du?", stieß er ebenso blubbernd hervor und verfluchte sich selbst, weil er für diese Frage gerade seine ganze Luft verschwendet hatte. Er kniff den Mund zusammen, um so für ein paar Sekunden zu verhindern, dass sein Körper versuchte, unter Wasser zu atmen.
Plötzlich brannte sein Hals. Genau an der Stelle, an der er in Kopf überging. Reflexartig drückte er seine Hand darauf. War er gerade von etwas geschnitten worden? Hautlappen glitten durch seine Finger. Sein Hals schwoll an und die Stelle fühlte sich an, als hätte sie jemand mit einer Gabel aufgerissen. Er tastete sie vorsichtig ab. Vier Schlitze, die parallel zueinander verliefen.
Kiemen?
'Siehst du. Du hast erlebt, was ich aus unserem Körper machen kann. Hast du geglaubt, dass mich das Wasser schreckt?'
Baldor verkniff sich, dem Wal zu sagen, dass er im gleichen Maße an Land versagt hatte, wie er jetzt sein Genie zeigte. Stattdessen atmete er ein. Wasser füllte seinen Mund, Luft seine Lungen.
"Das ist echt toll", blubberte er vor sich hin, sorgloser als zuvor. "Jetzt da wir in Ruhe miteinander reden können, ohne dass ich Angst haben muss zu ertrinken, kannst du mir endlich deinen Namen verraten?"
'Du kannst mich Nethufia nennen.'
Baldor prustete. "Das ist wahnsinnig kreativ. Ich soll dich wie meinen Heimatplaneten nennen? Klar …"
Die Antwort des Wals war Schweigen. So still wie die Welt hier, weit unter der stürmischen Oberfläche. Es war sonderbar. Der Name fühlte sich richtig an. Ihm kam ein aberwitziger Gedanke.
"Das ist dein Ernst, oder? Du willst mir nicht wirklich sagen, dass du der verdammte Planet bist, oder?"
'Nein. Der Planet ist tot. Gefressen von den Vetis. Ich bin das, was übrig ist – seine Seele.'
"Planeten können Seelen haben?"
'Offensichtlich. Alles hat eine Seele. Sie ist nur bei vielen Dingen kaum zu sehen.'
"Dinge? Lebewesen, bei denen könnte ich es noch verstehen, aber bei Dingen?"
Ein langer Fisch zog an ihm vorbei. Der Erste, den er hier sah.
'Zerbrich dir nicht den Kopf über etwas, das für ein so kleines Lebewesen wie dich zu groß ist.'
Jetzt war Baldor ein klein wenig beleidigt. "Immerhin habe ich deine Seele in meinem Körper. So unbedeutend kann ich doch nicht sein, oder?" Aber es stimmte. Er wollte sich wirklich keine Gedanken darüber machen, ob etwa ein Stein eine Seele hatte. Und ein Planet war nichts anderes, nur viel, viel größer – und mit Zeug drauf.
Dafür dachte er an etwas anderes. Er erinnerte sich an den Kupferwal, den er an seinem letzten Tag auf Nethufia gesehen hatte. Und seine Narben. Das musste der Gleiche gewesen sein, dem er gemeinsam mit Klara in seinem Inneren begegnet war. "Hey, du hattest echt Glück, dass ich zum Zeitpunkt des Angriffs Surfen war."
'Oh das war kein Glück, ich wusste, dass du da bist.'
"Du wusstest es? Bin ich so etwas, wie ein … Auserwählter? Einer, der die Welt retten muss? So wie in diesen Kindermärchen?"
In seinem Kopf blubberte es. Nethufia lachte. 'Nein, du warst einfach nur der Einzige, der um diese Zeit surft.'
"Aber du hast mich beobachtet? Wie solltest das sonst wissen? Alter Stalker-Planet! Oder … weißt du einfach alles, was so auf dir abgeht?"
'Nein, ich weiß nicht alles. Dazu ist es zu viel und vieles ist einfach zu unwichtig. Die meiste Zeit habe ich es so gemacht, wie jetzt. Ich habe mir ein interessantes Wesen gesucht und sein Leben verfolgt. So wie deines. Doch der Grund, warum ich wusste, dass ich dich dort finde, ist ein anderer.'
"Ja?"
'Stell dir vor, es gäbe nicht nur dieses Universum.'
Von dieser Idee hatte er bereits gehört, Universen, zwischen denen man beliebig hin und her springen konnte. Nicht wirklich, das war Stoff für Spielfilme. "Ein Paralleluniversum?"
'Nein, nicht eins und nicht parallel. Denk an die Droge, die deine Mutter genommen hat.'
Warum brachte sie jetzt seine Mutter und diesen unglückseligen Tag zur Sprache?
"Ja, was ist damit?",
'Diese Droge lässt einen nicht nur glauben, Dinge zu sehen, die so gar nicht passiert sind. Man sieht sie wirklich. Alle auf einmal. Jede Entscheidung, die jedes einzelne Wesen im Universum trifft, erschafft ein neues Universum für sich. Es reicht schon ein Gedanke daran, was passieren könnte, wenn irgendeine Entscheidung getroffen wird.'
"Dann sind Schachspieler also Meister darin, Universen zu erschaffen?"
'In der Tat. Gefährliche Wesen.' Nethufia machte eine Pause und lenkte das Gespräch zurück in die Richtung, in die sie zuvor unterwegs gewesen waren. 'Diese Universen sind nicht unabhängig voneinander. Nicht vollkommen. Nicht jedem Wesen ist das offensichtlich. Die Vetis sind von dieser Tatsache besonders geschlagen und profitieren andererseits auch davon. Mir hat dieses Wissen das Leben gerettet.'
"Wie das?" Über all das ganze Universen-Zeugs wollte Baldor nicht nachdenken, nur die Auflösung interessierte ihn.
'Ich kann spüren, wenn es Veränderungen in anderen Universen gibt. Besser gesagt: Ich konnte es.'
Baldor malte sich für einen winzigen Moment aus, wie er diese Fähigkeit in einem Kasino einsetzen könnte. Der zweite Satz ließ diesen Traum zerplatzen – und die Tatsache, dass er noch viel zu jung für legales Glücksspiel war.
"Du konntest es, bis du in meinen Körper eingedrungen bist?"
'Ja. Der Großteil der Veränderungen ist unbedeutend. Die meisten dieser Universen vereinen sich nach einer Weile wieder mit ihrem Ursprungsuniversum. Dir würde kein Unterschied auffallen, ob du beim Surfen einen Fisch mehr oder weniger siehst. Es hat keinen Einfluss darauf, dass du am Ende doch wieder aus dem Wasser steigst.'
"Es sei denn, die Vetis fallen über deinen Planeten her und lassen alle Fische verschwinden?"
'Ja, das war ein Ereignis, das sich in vielen Universen ereignet hat. In wenigstens einem aber eine Stunde früher.'
"Und deswegen wusstest du, wo du mich finden kannst?"
Ein zustimmendes Brummen ertönte, dann wurde das helle Schimmern der Sonne auf der Wasseroberfläche sichtbar.
'Du kannst auftauchen, der Sturm ist vorbei.'
Das ließ sich Baldor kein zweites Mal sagen und stieß mit ein paar kräftigen Bewegungen an die Oberfläche. Vor sich sah er den Strand und die Schemen von Menschen, die auf das Meer blickten. Waren das Freunde oder Feinde? Die Kleinste von ihnen winkte ihm zu und er erkannte Klara.
Mit festen Kraulzügen hielt er auf das Ufer zu, mit der Hoffnung, Nethufia und die Last, die mit ihrer Existenz auf seinen Schultern lastete, einfach im Meer zurücklassen zu können.