Baldor taumelte durch die Regalreihen und ihr Inhalt verschwamm hinter einem glasigen Tränenschirm. Eine Schmerzwelle im Unterleib ließ ihn zusammenzucken und er griff nach einem Regalbrett. Er verfehlte es, stattdessen wischte sein Arm über die Ablage und er riss den Inhalt herunter. Mit einem gedämpften Platschen landeten durchsichtige Behälter auf dem Boden.
Abgepacktes Wasser. Alles war hier abgepackt. Er griff sich eine der Flaschen, zerrte am Verschluss, drehte daran, als er nicht abging, und knackend fügt er sich seinem Willen. Baldor legte den Kopf in den Nacken und schüttete das Wasser in seinem Mund. Es war schal, spülte aber den Geschmack der ungenießbaren Ravioli raus. Dann nahm er vorsichtig einen ersten Schluck, vergaß die Vorsicht augenblicklich und leerte die ganze Flasche.
Unterbewusst war ihm klar, dass es riskant war, aber sein Verstand hatte den Kampf gegen die natürlichen Bedürfnisse seines Körpers bereits verloren. Diesmal blieb der Inhalt in seinem Körper. Mit dem Essen würde er von nun an vorsichtiger sein.
"Wie lange brauchen wir noch bis zur Stadt der Menschen?", fragte er Ngi und wischte sich über den Mund.
"Das hängt von einigen Faktoren ab, die es zu -"
"Wenn wir ab jetzt ohne Pause laufen?", unterbrach Baldor.
"Etwa 22 Stunden Erdzeit, 14 Minuten und 39 Sekunden. Wünscht du noch eine Angabe in Millisekunden, Chef? Dann müsste ich die Strecke aber erst neu berechnen."
"Nein danke, das reicht mir." Würde hart werden, so lange nichts zu essen. Besonders, da auch die Krabben von seinem geringen Energievorrat zehrten. Er sah auf sein T-Shirt hinab. Er konnte nur hoffen, dass er und sie so lange durchhielten und die Menschen in der Stadt anders drauf waren, als der Typ von gestern. "Komm, lass uns aufbrechen."
Während sie die Treppe in die obere Etage des Supermarkts erklommen, dachte er über eine Alternative nach. Vielleicht fand sich ja eine nützliche Naturdokumentation in den Untiefen von Ngis Speichern. Natürlich wollte er immer noch nicht selber jagen, aber wenn das Zeug hier alles schlecht war, blieb ihm nichts anderes übrig. Bevor er ihn danach fragen konnte, schwankte er und musste sich erst einmal am Geländer festhalten. So schwach war er also schon.
Das Schwanken ließ nicht nach und ihm wurde klar, dass nicht er schwankte, sondern alles um ihn herum. In einem gleichmäßigen Takt hüpfte der Inhalt der Regale auf und ab. Aus einem fiel eine durchsichtige Glaskugel und zerbrach auf dem Boden in ein Meer an Scherben. Baldor hielt den Atem an und machte sich auf noch mehr Zerstörung gefasst, da hörten die Stöße auf.
"Was war das?", fragte Baldor "Ein Erdbeben?"
Ngi sah sich um und seine Lichter erloschen.
"Was tust du das?"
"Ich habe auf Wärmeerkennung umgeschaltet, Boss."
"Und? Erkennst du dabei mehr, als mit Licht?"
"Ja!", rief Ngi. "Renn!"
Das Klacken der Metallfüße auf dem Boden zeigte, dass der Roboter seinen eigenen Rat bereits befolgte. Klasse. Wohin sollte Baldor eigentlich rennen, wenn er nichts mehr sah? Und warum bestand hier jede zweite Begegnung aus irgendetwas, das ihm trampelnd nach dem Leben trachtete?
"Hey Chef, hier lang!" Ngis Licht flackerte auf. Baldor verlor keine Sekunde, um darauf zuzurennen. Gerade rechtzeitig, um dem zu entgehen, was mit einem Knall durch die Wand des Supermarkts brach und auf seinem Weg Staub, Regalsplitter und Haushaltsgeräte durch die Luft schleuderte. Eine Kelle schoss durch Ngis Lichtkegel und zertrümmerte in der Dunkelheit hinter ihnen eine Glasscheibe.
Baldor warf einen Blick zurück, als er sich an Ngi vorbeidrückte. Das Ding, das durch die Wand gebrochen war und sich gerade von den Resten eines Schranks befreite, war bestimmt drei Köpfe größer als Baldor. War das ein Mensch? Ein Mensch, der statt mit Haut von schwarzen Panzerplatten bedeckt war? Anstelle von Augen leuchtete um seinen Kopf ein Ring aus roten Punkten, der eine Arm glomm außerhalb des Lichtstrahls grün auf, der andere gab einen unangenehm surrenden Ton von sich.
"Bei der Großen Qualle!", keuchte er und wich einem Regal aus. Er würde auf diesem Planeten noch religiös werden. "Was ist das? Ein richtiger Kampfroboter?"
"Nicht ganz." Ngi holte auf und seine Scheinwerfer tanzten über den Boden, beleuchteten den Weg nach draußen. "Da sitzt ein Mensch drin."
"Kannst du dagegen kämpfen?"
"Machst du Witze?", fragte der Roboter ohne Humorprotokoll. "Würde ich dann rennen?"
Er gab Baldor einen unerwarteten Stoß, sodass er in einen Gang geschleudert wurde, stolperte, mit dem Regal kollidierte und noch ein Meter weiter schlitterte.
"Was soll die Sch- ", wollte Baldor sich beschweren, aber sein Satz wurde von einem ohrenbetäubenden Lärm übertönt, der so klang, als würde die Schiffsschraube eines Motorboots durch einen Algenwald gejagt. Der Lärm verstummte für einen Moment erwartungsvoll. Dann brach eine Wand im Ausgangsbereich zusammen. Das Licht, das sich in dicken Strahlen in den Raum stürzte, beleuchtete den Robotermenschen, wie er mit ausgestrecktem Arm in der Halle stand. An der Unterseite des Arms glühte eine Vielzahl an Röhren.
Baldor konnte sich vorstellen, was das war. Etwas, das viele Kugeln verschoss und absolut tödlich war.
Er rappelte sich auf und rannte ans andere Ende des Ganges, am Regal vorbei und auf die eingestürzte Wand zu. Hinter ihm begann das Surren erneut, zerschnitt das Mobiliar des Supermarkts und durchpflügte den Boden. Baldor schwang sich über einen massiven Tresen, ging dahinter in Deckung und die Waffe verstummte. Er konnte nur hoffen, dass der aufgewirbelte Staub dem Schützen die Sicht verdeckte. Baldor spähte vorsichtig am Tresen vorbei. Ob er Baldor noch sah? Zumindest er konnte den Angreifer nicht mehr erkennen.
In der anderen Richtung, außerhalb des Supermarktes, gab es eine Häuserruine. Die sah massiv aus. Massiver jedenfalls als sein Tresen. Ob er ihn dort komplett abschütteln konnte? Er würde es darauf ankommen lassen. Wenn er hierblieb, dann starb er, so viel war klar. Ehe er sich versah, hatten seine Fluchtinstinkte die Kontrolle übernommen, und er befand sich auf der Straße zwischen den beiden Gebäuden.
"Was tust du, Boss?", rief Ngi ihm nach. "Er hat dich voll im Visier!"
Zur Bestätigung prasselte ein Kugelhagel auf die Fassade des Gebäudes ein, auf das Baldor zusteuerte, bewegte sich einmal quer hindurch und ließ sie in sich zusammenfallen. Sie leistete so wenig Widerstand, wie die Sandburgen, die er als Kleinkind am Strand zertrümmert hatte, wenn er seinen Willen nicht bekam. Dahinter hatte er sich verstecken wollen?
Der Robotermensch trat aus der Staubwolke und baute sich vor ihm auf. Die mehrläufige Waffe zeigte auf Baldors Brust, die freie Faust stemmte er gegen seine Hüfte. Der Mond spiegelte sich als einzelner Punkt in den Schulterplatten seiner Rüstung wider und die Vielzahl seiner Augen hielt ihn mit ihrem roten Leuchten fest im Blick. Er sagte etwas, eine einzelne, feste Silbe. Auch ohne Ngis Übersetzung verstand er, dass es ein Befehl war. Baldor hob langsam die Hände.
Hinter ihm fielen weitere Trümmer des Gebäudes in sich zusammen, unterstrichen die Sinnlosigkeit jeder Art des Widerstands, und Baldor fragte sich und ihn mit zittriger Stimme: "Was willst du von mir?"
Aus sicherer Entfernung hörte er Ngi, wie er seine Worte übersetzte. Die Rüstung drehte sich nicht zu Ngi, sondern fixierte weiter Baldor. Sie sprach mit der schrecklich abgehackten Art der Menschen zu ihm:
"Er sagt: Vetis, bevor ich dich zurück in die Hölle schicke, sollst du wissen, wer ich bin."
"Hey, ich bin kein Vetis!", wehrte sich Baldor gegen diese Behauptung, doch sein Gegenüber hört nicht auf zu sprechen und auch Ngi fuhr pflichtbewusst mit der Übersetzung fort.
"Ich bin 'Die Faust des Calu' und nehme stellvertretend für all jene Rache, die sich nicht mehr selbst gegen das Übel wehren können, dass du über sie und unsere Welt gebracht hast!"
Baldor schluckte. "Ngi, sag ihm sofort, dass ich kein Vetis bin, oder willst du, dass er mich abknallt?" Baldors Stimme steigerte sich in eine panische Höhe und sicher war das der Grund, warum Ngi diesmal auf ihn hörte und übersetzte. Nur schien es 'Die Faust' nicht zu überzeugen, denn sie stellte nur fest: "Du bist kein Mensch, was solltest du sonst sein? Allein das wäre schon Grund genug, dich zu töten. Bereite dich auf dein Ende vor!"
"Ngi, tu doch was!"
'Die Faust' hob ihren Arm und justierte die Waffe, aber Ngi blieb untätig. Das war es jetzt also? Das Ende seiner Reise? Er starb, weil er vor den Vetis geflohen war und hier auf der Erde selber für einen gehalten wurde? Was war mit diesen Menschen bloß los, dass keiner von ihnen zuhören wollte und alle unverrückbar an ihren irren Vorstellungen festhielten? Fast wie er selbst, schoss es ihm durch den Kopf. Sollte er zur großen Qualle beten, sie um ein Wunder bitten? Mit dem Versprechen, sein Leben danach zu ändern? Was für ein Quatsch.
Die Läufe setzten sich in Bewegung, bis sie so schnell rotierten, dass er ihnen nicht mehr mit bloßem Auge folgen konnte. Er konnte immer noch weglaufen, oder? Sollte er. Nur gab es nichts mehr, hinter dem er sich verstecken konnte.
Die Kugeln prasselten auf ihn ein, rissen ihn von den Füßen und pressten ihn gegen das letzte Stück Mauer des eingestürzten Hauses. 'Die Faust des Calu' schoss auf seine Brust, dort, wo sich die Cariff-Krabben häuslich eingerichtet hatten. Die Schüsse des verblendeten Rächers drangen nicht durch sie hindurch, sie prallten wirkungslos ab! Er wollte triumphierend aufspringen und ihm mit Häme ins Gesicht lachen, aber die Wucht der Kugeln hielt ihn am Boden. "Du kannst mich mal!", presste er deshalb mit gefletschten Zähnen hervor. "Aber sowas von."
Er musste die fehlende Wirkung bemerkt haben, denn er riss die Waffe herum und ließ eine Salve über seinen erhobenen linken Arm streichen. Baldur war einmal in einen Seeigel getreten. Genauso stach und brannte es anfangs, während die Kugeln Stoff, Haut und Fleisch abtrugen und den Arm in eine triefende Keule verwandelten. Für die Schmerzen, die folgten, hatte er keinen Vergleich mehr parat. Er schrie, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte, und verstummte abrupt, als der Kugelhagel erneut auf seine Brust wanderte und die Luft aus seinen Lungen presste. Dort verweilte er einen Moment, als ob dieser sadistische Mörder sich überlegte, welchen Körperteil er ihm als Nächstes nehmen würde.
Bevor er zu einem Entschluss kommen konnte, brach die Mauer über Baldor zusammen und begrub ihn. Baldor wimmerte, Tränen liefen ihm das Gesicht hinab und Blut aus seinem Arm. War es besser, hier drunter zu verbluten, als zerfleischt zu werden? Durch die Steine hindurch sah er, wie die Dunkelheit dem Licht der aufgehenden Sonne wich. Das war irgendwie ironisch. Nun war er bereits den dritten Erdtag hier und hatte diese Welt nur bei Nacht zu Gesicht bekommen. Jetzt würde er nie wieder eine Gelegenheit haben, das zu ändern. Panik setzte ein, er atmete schnappend, dann zog sich seine Brust zusammen. Gleich würde der Schock ihm das Licht ausknipsen und ihn erlösen.
Einer der Sonnenstrahlen fiel auf sein Gesicht und etwas Unerwartetes passierte.