Der nächste Tag begann früh für Tirzah. Der Rat fand sich bereits kurz vor Sonnenaufgang in der Halle der Räte ein. Mit einem sachten Streicheln über ihre Wange verabschiedete er sich von Laryn, die noch immer schlief. Kein Wunder. Der gestrige Tag war lang und anstrengend gewesen. Sie hatte es sich mehr als verdient, auszuschlafen. Thanos nahm er mit sich. So bekam er vielleicht eine Ausrede für eine Pause.
Einige Stunden später meldete die Comanlage, dass jemand vor dem Schiff stand.
Laryn hatte nur am Rande wahrgenommen, dass Tirzah ging. Auf seine zärtliche und ebenso liebevolle Berührung konnte sie nur noch mit einem Murren antworten. Verdammt, das war ja härter als gedacht, ihn gehen zu lassen. Irgendwann stand auch sie auf und bemerkte erst dann, dass ihr Gefährte sogar Thanos mitgenommen hatte. Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie ihn gefragt hatte, ob sie das Tier nicht behalten dürfte und er sich dagegen gesträubt hatte. Das Läuten der Comanlage ließ sie minimal die Stirn runzeln. Wer das wohl war? Ohne auf sich warten zu lassen öffnete sie das Schott. Ein Weibchen stand vor ihr und augenblicklich bohrten sich die Krallen der Eifersucht in ihr Herz. Ein Weibchen stand vor dem Schiff von Tirzah. Während sie innerlich schon brüllte vor Wut, war sie nach außen hin ruhig und schaffte es endlich, sie mit einem simplen Nicken zu begrüßen.
„Guten Morgen“, grüßte das Weibchen höflich und neigte den Kopf. „Ich bin Delia. Der Älteste Talin hat mich gesandt, um dir zur Seite zu stehen.“ Sie machte eine Geste, die wohl eher die Stadt als das Flugfeld einbeziehen sollte. „Als Jägerin steht dir auch eine eigene Bleibe zu.“ Verstohlen musterte sie Laryn. Es war nicht so, dass sie sie noch nie gesehen hatte, nur eben noch nie aus der Nähe. Es unterschied sie nicht nur das menschliche Äußere von einem durchschnittlichen Weibchen, sondern vor allem auch diverse Narben, die auf der hellen Haut deutlich sichtbar waren. Unwillkürlich fragte sich Delia, wie es sich wohl anfühlte 'Jägerin' zu sein.
Augenblicklich entspannte sich Laryn. Die Hand, die bereits von dem Weibchen unbemerkt nach dem Messer getastet hatte, zog sie wieder zurück. Schließlich verschränkte sie ihre Arme, um eine gemütliche Position einzunehmen.
„Mein Name ist Laryn“, stellte sie sich persönlich vor. Natürlich wusste Delia das sicherlich schon. „Darf ich dir eine Frage stellen?“
Delia nickte. „Natürlich.“ Sie war ohnehin auf einige Fragen eingestellt. Zwar wusste sie, wie wohl jeder andere der Cobras auch, wer Laryn war und dass sie bereits eine Zeitlang auf Yautja-Prime gelebt hatte. Allerdings weder als junger Jäger, noch mit Aussicht darauf. Sie war nur... eine Streunerin gewesen. Ohne Bindung, ohne Rang, ohne Ansehen. Lediglich die Verbindung zu dem Cleaner Tirzah war es gewesen, die ihr ein Bleiben ermöglicht hatte. Dies hatte sich nun geändert. Grundlegend.
Laryn lächelte sanft auf die Antwort von Delia. Als so selbstverständlich sah sie das nicht an, vor allem, wenn sie daran dachte, wie es zuletzt ausgesehen hatte, als sie hier war. Natürlich hatte sie nun den Rang einer Jägerin und das war nicht nur für sie neu. Vor allem konnte sie sich vorstellen, dass ihr Aussehen wohl mehr als nur befremdlich wirken konnte.
„Kannst du mir zeigen, was sich seit meinem Verlassen von Yautja-Prime sich geändert hat?“
Wieder neigte Delia respektvoll den Kopf. „Viel hat sich nicht geändert“, warnte sie vor. „Veränderungen brauchen Zeit.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, um den Weg frei zu machen. „Aber ich zeige dir gern die Stadt.“ Nicht mit einer winzigen Geste zeigte sie, wie neugierig sie mit jedem weiteren Moment wurde. Diese Menschenfrau war nichts von dem, was sie sich vorgestellt hatte.
Für einen Moment hielt Laryn inne. Sie sollte vorgehen? Selt…sam. Mit einem Blick zu Delia tat sie es dann. Sie war noch nie alleine in Yautja-Prime unterwegs gewesen und sie hatte auch niemals die Möglichkeit, den Planeten und die Stadt zu entdecken. Sie kannte das Trainingsgelände in und auswendig und an einen Teil des Waldes konnte sie sich gut erinnern. Auch an den Weg zu den Zamteh. Aber alles andere? Es war, als wäre sie zum ersten Mal hier.
„Danke“, meinte Laryn. Auch wenn es im Auftrag des Rates war, dass Delia ihr helfen sollte, wollte sie dies anerkennen.
Einen halben Schritt hinter Laryn folgte ihr Delia. Mit der Hand wies sie ihr den Weg. Da sie nicht wusste, was die Jägerin interessieren würde, hatte sie den Plan gefasst, ihr einfach alles zu zeigen, was das Leben im Clan ausmachte. „Wenn du Fragen hast, frage einfach und wenn ich erzähle, was du ohnehin schon weißt, zögere nicht, mich zu stoppen“, informierte sie sie.
Der erste Weg führte sie zu der großen Gemeinschaftsküche. So wie die Weibchen das Privileg hatten, vom ganzen Clan versorgt zu werden, so hatten die Jäger das Privileg, dass sie sich nicht direkt um ihre Verpflegung kümmern mussten. Natürlich mussten sie jagen und das Grundnahrungsmittel Fleisch beschaffen, doch die Weibchen verarbeiteten es mit gesammelten Früchten, Wurzeln und Beeren zu nahrhaften Mahlzeiten, die mitunter auch lange haltbar gemacht wurden. In der Küche war einiges los. Nicht nur ein gutes Dutzend Weibchen war anwesend, ebenso einige Kinder. Allesamt Mädchen, die zwischen den Weibchen hin und her liefen. Einige brachten Gewürze und Zutaten, wenn sie angewiesen wurden, die jüngeren flitzten spielend umher und spielten Verstecken hinter den Regalen. Das ganze Gebäude war, dem Klima sei dank, offen gehalten, selbst wenn es überdacht war.
Nicht nur ein interessierter Blick traf Laryn, als sie ankamen. Auch die Kinder versammelten sich und starrten sie an. Ein Mädchen ließ beinahe einen Krug fallen und bekam eine leichte Kopfnuss für diese Unachtsamkeit.
Interessiert beobachtete Laryn die Gegend. Auch als sie zu der großen Küche kamen, hörte sie aufmerksam zu, was Delia ihr alles über das Leben erzählte. Die neugierigen Blicke erwiderte sie somit fast gleichermaßen, auch wenn ihr Äußeres totale Ruhe ausstrahlte. Als ein Kind vor lauter Starren beinahe ihren Krug hat fallen lassen, konnte sie nicht anders, als leise in ihre vorgehaltene Hand zu lachen. Natürlich konnte sie sowas nicht übel nehmen. Nachdem sie sie ein wenig beobachtet hatte, ging sie weiter.
„Sag, ist nicht seltsam für dich?“, erkundigte sie sich nach einer Weile bei Delia. „Mich herumzuführen.“
Diese zuckte mit den Schultern. „Es ist eine Abwechslung“, gestand sie. „Wir wechseln uns in den Aufgaben ab, doch wirklich aufregend ist unser Leben hier nicht.“ Einen Moment lang stockte sie. Vielleicht interessierte es die Jägerin gar nicht, was sie ihr hier zeigte. Immerhin war das eigentlich nur langweiliger Alltag.
Laryn blieb stehen und drehte sich zu Delia um. „Ist das dein ernst?“, fragte sie. „Vor ein paar Jahrzehnten war ich nichts weiter als ein unerwünschter Mensch und heute führst du mich als Jägerin hier herum und nennst es eine Abwechslung?“ Sie konnte gar nicht anders als zu lachen. Schließlich legte sie ihren Kopf leicht schief und schmunzelte zu ihr hoch. „Dein Leben ist aufregender als du glaubst, Delia“, meinte sie. „Du hast ein zu Hause, kannst dir Gefährten anlocken so viele du willst und Kinder haben, ihnen das Leben zeigen! Was gibt es aufregenderes als das?“
Delia begegnete Laryns Blick, doch sie verstand nicht, was an ihrem Leben aufregend sein sollte. Sie sah zu den Weibchen, die mit ihrer Arbeit fortfuhren. Was taten sie schon groß. Sie kochten, stellten Kleidung her oder reparierten sie und zogen die Kinder auf. Die einzige Abwechslung war tatsächlich nur das Fruchtbarkeitsfest, das alle paar Jahrzehnte stattfand. „Es ist nicht so aufregend, wie das Leben eines Jägers“, meinte sie schließlich.
Die Jägerin lauschte den Worten Delias und musste schmunzeln. „Wie wäre es mit einem Deal?“, fragte sie. „Du zeigst mir deinen Alltag und ich zeige dir meinen.“ Es überraschte Laryn, wie einfach sie sich überhaupt mit ihr unterhalten konnte. Eigentlich hatte sie viel eher damit gerechnet, dass sie auch weiterhin niemanden zum Reden hatte, außer Tirzah. „Schließlich lehrst du mich gerade, es wäre nur fair.“
Einen Moment lang sah Delia Laryn überlegend an. Meinte sie das ernst? Es war ja nicht so, dass sie unbedingt ausbrechen wollte. Sie war nicht unzufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte einen großartigen Gefährten, der starke Kinder mit ihr zeugte, ihre Pflichten machten ihr ebenso Spaß, wie die Unterhaltungen mit den anderen Weibchen. Auch die Vorstellung eines weiblichen Jägers war nicht neu. Tatsächlich hatte ihre eigene Schwester diesen Weg verfolgt. Nur war sie nicht sehr erfolgreich gewesen und hatte diesen Versuch mit dem Leben bezahlt, ohne jemals Kinder gehabt zu haben. Trotzdem war nun ein neuer Aspekt zutage getreten.
Laryn war eine Streunerin, eigentlich keine von ihnen und doch hatte sie die Initiation erfolgreich bestritten. Auch die Narben auf ihrem Körper zeugten von erfolgreichen Jagden und Kämpfen, die sie bestritten hatte. „Mein Alltag ist aber nicht wirklich aufregend“, schränkte sie ein.
Laryn legte Delia ihre Hand auf den Oberarm. Völlig gegensätzlich zu dieser sanften Geste, war ihr Gesicht ernst, beinahe hart. „Das habe noch immer ich zu entscheiden“, antwortete sie und da stahl sich schon ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich schätze, wir haben einen Deal“, meinte sie, als sie wieder weiterging. Was wohl Tirzah heute Abend dazu sagen würde? Womöglich würde er ihr den Kopf abreißen. Ach, sollte er es versuchen...
Ja, es sah ganz so aus, als hätten sie einen Deal und Delia konnte ein Lächeln nicht mehr verstecken. „Bevor ich dich allerdings in meinen langweiligen Alltag einweihe, muss ich noch meine Aufgabe erfüllen und dir einige Wohnungen zeigen“, schränkte sie ein. „Der Älteste hat es so angeordnet. Dir steht eine eigene Wohnung zu.“ Das war wohl das, was sie mit von den anderen Weibchen unterschied. Sie würde ein eigenes Heim haben. Ein einfaches Weibchen lebte so lange im Hausstand ihres Erzeugers, bis sie einen Gefährten fand. Trennte sie sich von ihm, brauchte sie einen neuen oder sie zog ins Gemeinschaftshaus. Zwar stand Laryn als gerade geweihter Jägerin nur eine kleine Wohnung zu, doch es würde ihr eigenes Reich sein.
Sie führte sie zu einem großen Haus. Auf drei Stockwerken waren insgesamt zwölf Wohnungen für junge Jäger untergebracht. Erst mit zunehmender Ehre bekamen sie das Recht mehr Wohnraum zu fordern.
Sie war völlig überrascht, dass Delia ihr das mit den Wohnungen verriet. Und viel schlimmer war es, dass ihr erst jetzt wirklich bewusst wurde, dass sie alleine leben würde. Ohne Tirzah. Wie lange es wohl dauern würde, bis er verriet, dass sie eigentlich seine Gefährtin war? Hoffentlich nicht lange. Als sie mit den Besichtigungen fertig waren und Laryn sich alles von Delia hat erklären lassen, musste sie sich entscheiden. Ihre Wahl fiel auf die Wohnung, die dem Wald am nächsten war und sich im Erdgeschoss befand. Daraufhin verbrachte sie auch ihren ganzen Nachmittag mit ihr, um sie näher kennen zu lernen. So erfuhr sie, dass sie bereits einen Gefährten hatte, von dem sie sehr angetan war. Ihr ältester Sohn würde bald ins tägliche Training gehen und ihre Tochter war gerade mal zwanzig Jahre alt. In den Menschenjahren verglichen gerade mal fünf.
Erst als es dämmerte, kehrte sie zum Schiff zurück. Nur langsam begann Laryn zu packen…
Tirzah war der Tag endlos vorgekommen. Das erste Mal hatte er miterlebt was es bedeutete im Rat zu sitzen. Nicht, dass er sich überfordert fühlte, es war eher das Gegenteil. Es waren unter anderem administrative Aufgaben, doch ebenso Rechtsprechungen. Bei manchen Dingen fragte er sich ernsthaft, ob es tatsächlich sein musste den Rat mit solchen Belanglosigkeiten zu belästigen. Hauptsächlich kleinliche Streitereien, bei denen sich die beiden Parteien nicht einigen konnten, wer im Recht war. Geschweige denn, dass sie allein einen Kompromiss finden konnten. Schon, als sie gegen Mittag eine Pause machten und er die Gelegenheit nutzte, um Thanos Auslauf zu gönnen, war er äußerst gereizt. Leider ging der Tag so weiter.
Als er letztendlich das Schiff betrat, war er so weit, dass er sich selbst nicht mehr leiden konnte. Eigentlich hatte er nur vor gehabt, sich ein paar Waffen zu schnappen und noch jagen zu gehen, doch als er das Schlafgemach betrat, stockte er. Laryn packte. Im selben Moment wurde ihm bewusst, was das bedeutete. Der Tag wurde immer besser und besser.
Thanos sprintete ganz ungeniert auf seine liebste Gefährtin zu und sprang an ihr hoch. Stürmisch schleckte er ihr das Gesicht ab.
„Thanos!“, entkam es ihr und irgendwie bemühte sie sich um eine fröhliche Stimme. Sie strich über seine Schuppen und klopfte auf seine Brust, die dabei ein dumpfes Geräusch von sich gab. Nur schwer ließ er wieder von ihr ab. Mehr wehmütig wischte sie sich über ihr Gesicht und entfernte somit den Speichel des Dusoq. Dann endlich traf sie den Blick von ihrem Geliebten.
„Tirzah…“ In seinem Namen lag alles, was sie gerade fühlte. Sie musste gehen, ihre Wohnung beziehen und würde die nächste Zeit alleine sein. Sie würde weder an ihn geschmiegt einschlafen, noch mit ihm das Leben feiern oder einfach nur mit ihm reden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, fiel sie ihm in die Arme und vergrub sich bei ihm.
Tirzah schlang die Arme um seine Gefährtin und drückte sie an sich. Es kam nicht unerwartet, dass sich ihre Wege trennten, doch es war deshalb nicht weniger lästig. Selbst wenn Laryn noch keine eigene Bleibe bekommen hätte, er hätte in den nächsten Tagen das Schiff verlassen und in das Quartier eines Ratsmitglieds ziehen müssen. Es wurde gerade noch vorbereitet, doch in ein bis zwei Tagen würde er dort einziehen müssen. Vorbei war die vertraute Zweisamkeit, die sie die letzten Jahrzehnte auf dem Schiff geteilt hatten.
„Nimm Thanos mit“, bat er sie, ohne wirklich loszulassen. Gerade dieser Tag war beispielhaft dafür gewesen, dass er in Zukunft nicht mehr die Zeit haben würde, den Dusoq mit auf die Jagd zu nehmen. Dieser sollte nicht darunter leiden müssen.
Als er meinte, dass sie Thanos mit sich nehmen sollte, verstärkte sich ihr Griff um ihn. Sie wollte nicht gehen! Sie brauchte auch keine Wohnung! Sie könnte doch noch länger hier mit Tirzah wohnen, völlig egal! Doch auch er würde ein Zuhause bekommen und um einiges größer als das ihre. Auch wenn Laryn sich schon vorgenommen hatte, schnellst möglich dafür zu sorgen, dass sie mehr an Ehre und Status gewann, aber nicht alleine wegen der Wohnung. Sie wollte nicht die Vertrautheit zu ihrem Gefährten aufgeben. Jahrzehntelang waren sie einfach nur zu zweit gewesen. Sie hatten jeden Moment gemeinsam geteilt und es grauste ihr, wenn sie daran dachte, dass es so sein könnte, wie damals auf der Erde. Auch wenn es unmöglich war. Einerseits war sie doch noch immer seine Gefährtin und andererseits hatte sie den Rang einer Jägerin. Sie war auf Yautja-Prime und so wenig sie auch akzeptiert wurde, sie fühlte sich hier wohler, als unter Menschen. Trotzdem wollte sie dem Gefühl der Einsamkeit nicht noch einmal erliegen.
Wie lange sie so da standen, wusste er nicht, doch es war, als würden sich ihre Wege für immer trennen, sobald sie auch nur ein winziges Stückchen voneinander abrückten. Zärtlich ließ er seine Hand durch ihr Haar streichen. Wieder und wieder. „Bald“, murmelte er irgendwann. Bald würden sie offenbaren, dass sie Gefährten waren und dann würde sie niemand mehr trennen können. Doch selbst für ihn war dieses 'bald' irgendwie noch so unendlich weit weg.
tbc...