Und das tat Laryn. Sie schritt zur Tat. Ob es Stunden oder sogar nur Minuten waren, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatten ihre Zeit definitiv genutzt. Sie waren beide auf ihre Kosten gekommen und es war guter Sex gewesen. Viel zu lange hatte sie darauf verzichten müssen. Im Bett schmiegte Laryn sich an Tirzahs muskulösen Körper, während er seine Arme wie immer schützend um sie legte. Ihre Augen schlossen sich und von den sanften Schlägen seines Herzens wurde sie in den Schlaf geleitet.
Das Frauenhaus. Warum war sie hier? Sie wusste es nicht. Es war dunkel dort und die Frauen und Kinder schienen verängstigt zu sein. Sie sperrte die Türen und Fenster ab. Ein logischer Schritt, den sie tun würde, wenn sie sie schützen wollte. Aus den einfachen Szenen wurden einzelnen Bilder. Geschah das hintereinander oder war alles durcheinander? Ein Messer. Kinderlachen. Ein Messer. Spielzeug. Sie wollte schreien, aber irgendetwas hinderte sie daran. Was war es? Blut. Warum war da überall Blut? Sie wollte aufwachen! AUFWACHEN!
Laryn zuckte zusammen und schlug ihre Augen auf. „Verdammt“, fluchte sie rau auf der Sprache, die sie auf der Erde benutzt hatte. Ein Albtraum. Diesmal konnte sie sich daran erinnern. Größtenteils zumindest. Wie auch letzte Nacht, lag sie nicht mehr in den Armens ihres Gefährten. Verschlafen drehte sie sich um. Er war noch da. „Tirzah?“, versuchte sie ihn aufzuwecken. Auch wenn sie wusste, dass ein Traum ihr nichts anhaben konnte, wollte sie nun viel lieber von ihm in die Arme gezogen und beruhigt werden. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Sie hielt in ihrer Bewegung inne, als sie ihren Arm sah. Er war über und über voll mit Blut. Blut? Warum Blut?! Panisch richtete sie sich auf und besah sich selbst. „Tirzah!“ Nicht nur ihre Hände und ihre Arme waren voll damit, ihr ganzer Körper war völlig besudelt!
Er hörte leise seinen Namen. Die bekannte Stimme Laryns drang bis in seinen Traum durch, doch es war der erschrockene Aufschrei, der ihn hoch fahren ließ. Noch etwas desorientiert blinzelte er in das Halbdunkel. Dann erst registrierte er, was er sah. Tirzah war sicher, dass er wach war, doch was er sah, konnte nicht wahr sein. Laryn war über und über mit phosphoriszierendem grünen Blut beschmiert. Frisches Blut. Es glänzte, wo das Licht vom Fenster darauf fiel. Augenblicklich schaltete er das Licht an, in der Hoffnung, es wäre wirklich nur Einbildung oder ein Traum und würde verschwinden, sobald richtiges Licht darauf fiel. Doch dem war nicht so.
Laryns Herz raste. Blut! Woher kam dieses Blut?! Völlig sinnfrei versuchte sie es von ihrem Arm zu wischen, verschmierte es dadurch aber nur. Ihr Blick wanderte zum Fußende des Bettes. Es war leer. Wo war Thanos? „Nein…“, entkam es ihr. So schnell sie konnte, kam sie auf ihre Füße. Ohne lange nachzudenken, rannte sie los. Sie lief nach draußen, durch die Straßen zum Frauenhaus und… blieb schlitternd stehen. Das Bild, das sich ihr bot, veränderte sich nicht, egal wie sehr sie ihren Kopf vor Unglauben schüttelte. Leichen von Kindern und Weibchen säumten den Weg in das Gebäude, auf dem Boden hatte sich Blutschlamm gebildet. Je länger sie darauf starrte, desto schrecklicher wurde es. Laryn wollte einen Schritt machen, doch stattdessen gaben ihre Knie nach. Es platschte. Ihre Hände griffen nach einem leblosen Körper, zogen ihn näher zu sich auf ihren Schoß. „Nein nein nein nein nein“, entkam es ihr rau. Augenblicklich brach sie in Tränen aus. „Thanos!“, sprach sie die Leiche an, in der Hoffnung, dass er doch noch lebte. „Thanos!“
Bevor Tirzah reagieren konnte, war Laryn bereits aufgesprungen und nach draußen gerannt. So schnell er konnte, folgte er ihr, nur um kurz darauf von erneutem Schock getroffen stehen blieb. Das Frauenhaus der Cobras war ein Schlachtfeld über dem tödliche Stille herrschte. Lediglich Laryns Schluchzen war zu hören. Immer wieder rief sie ihren jahrelangen Begleiter an, doch dieser rührte sich nicht mehr.
Tirzah wusste noch genau, wie sie ihn damals als Jungtier gefunden hatten. Halb unter seinen toten Geschwistern vergraben, das Muttertier bereits halb verwest daneben. Die tiefe Wunde an ihrer Seite hatte offenbart, weshalb sie gestorben war. Laryn hatte ihn damals schon beinahe angebettelt, dass sie den kleinen Dusoq behielten und aufzögen. Er hatte sich überreden lassen und es nie bereut.
Und nun? Er sah das Schlachtfeld, sah Laryn, bedeckt mit all dem Blut und Thanos leblosen Körper. Er wusste, was das alles bedeutete, doch es entzog sich ihm dennoch. Es war einfach unmöglich!
Laryn schluchzte und blickte irgendwann von dem toten Dusoq auf. Frauen… Kinder… alle tot. Zerfetzt. Bestialisch auseinander genommen. Aber es waren keine Bisswunden, die von dem Tier stammen könnten, nein. Es waren ihre Hände gewesen. Sie hatte sich nicht überall die Mühe gemacht, ihnen einen gnadenvollen Tod durch die Klinge zu schenken, nein. Sie hatte sie zu Tode geprügelt oder ihren Bauch aufgeschnitten, um ihre Gedärme rauszureißen. Die Schreie hallten in ihrem Kopf wieder und jedes Bild fügte sich zu der Erinnerung zusammen…
Warum hatte sie das getan? Warum? Völlig verzweifelt und voller Schmerz schrie sie auf und schlug mit ihrer Faust auf die Erde. Das konnte sie nicht gewesen sein! Nicht sie!
Es war einfach nicht zu fassen. Je länger Tirzah auf dieses Bild sah, desto unwirklicher kam es ihm vor. Es konnte einfach nicht sein. Laryn würde so etwas nie tun. Ihr Schrei fuhr ihm durch Mark und Bein, doch es war ihm irgendwie unmöglich sich zu rühren. Er stand da, als hätte ihn jemand am Boden festgenagelt.
„Da ist sie!“, erscholl es plötzlich und kurz darauf, wesentlich leiser. „Bei allen Galaxien...“
Wie in Trance wandte Tirzah seinen Blick von Laryn und zu den Jägern, die gekommen waren. Ein gutes Dutzend in eilig angelegter Rüstung. Für einen Moment standen sie ebenso geschockt da, wie er selbst, dann kam Bewegung in sie. „Haltet sie fest“, kam schließlich der Befehl von Talin.
„Ein Traum...“, murmelte Tirzah... Es konnte nur ein Traum sein, dass er sah, wie die Jäger auf Laryn zu gingen und sie hoch zogen.
Sie wehrte sich nicht, als starke Hände ihre Arme umgriffen und sie hochzogen. Sie ging mit ihnen, ohne ein Wort zu sagen. Auch, als sie im Tempel ihr die Ketten anlegten, reagierte sie nicht. Weder auf die an ihren Füßen, noch die an ihren Händen oder an ihrem Hals. Alle Jäger, die sie festgenommen hatten, stellten sich im Kreis um sie herum auf, bereit, sich auf sie zu stürzen, sollte sie sie angreifen. Sie selbst stand vor den noch leeren Ratsplätzen…
Laryn setzte sich. Die Beine angewinkelt, ihre Hände in ihren Haaren verkrallt, wog sie sich vor und zurück. So bitter hatte sie wohl nie in ihrem Leben geweint. Das konnte nur ein Albtraum sein. Dieser furchtbare Schmerz in ihrer Brust...
Erst als Laryn abgeführt wurde, war Tirzah wieder in der Lage, sich zu bewegen. Er wollte ihr hinterher, doch jemand hielt ihn auf. Rhutvak. Seine Miene zeugte vom Ernst der Lage. „Du kannst ihr so nicht helfen, mein Freund“, meinte er ruhig, obwohl er nicht weniger geschockt war. „Der Rat versammelt sich. Und du bist Teil davon.“
Einen Moment lang sah Tirzah den Venturas an und konnte dessen Worte nicht begreifen. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass er ungewöhnlich lange brauchte, um sie überhaupt zu verarbeiten. Dann erst wurde es ihm klar. Der Rat würde eine Anhörung machen, Beweise einsehen und dann das Schicksal von Laryn entscheiden. Er nickte langsam.
Zwanzig Minuten später fand er sich im Tempel ein. Ohne die Hilfe Rhutvaks hätte er sicher länger gebraucht. Immer wieder hatte er mitten in der Bewegung inne gehalten und versucht zu begreifen, dass dies kein Traum war. Vor dem Tempel hatte sich ein Mob versammelt. Anders konnte man es schon gar nicht mehr nennen. Männchen wie Weibchen standen da. Viele offensichtlich unter Schock. Der Rat war bereits vollständig versammelt. Sie warteten nur noch auf ihn.
Noch nie hatte sich Tirzah so alt gefühlt, als er die Stufen hinauf ging. Irgendwie stand er immer noch mitten im Begreifen fest, doch er wusste nicht, ob er drüber je hinaus kommen würde. Rhutvak hatte ihn begleitet, doch er blieb an den großen Türen stehen. Die Arme vor der Brust verschränkt.
Mittlerweile zweifelte Laryn an ihrem Verstand. Sie zitterte, nein bebte. Noch immer saß sie auf dem kalten Boden, wog sich vor und zurück. Das war nicht sie gewesen und doch konnte sie sich an jede einzelne Bewegung erinnern. Sei es ein Griff gewesen, ein Schlag oder das rausziehen der Gedärme. Die Frauen hatten geschrien, sich für das Leben ihrer Kinder geopfert, aber sie hatte sie nicht gehört. Keine einzige Bitte um Gnade. Nicht einmal einen kurzen Moment hatte sie innegehalten. Sie hatte sie abgeschlachtet, wie ein Monster. Ebenso genau konnte sie sich an Thanos erinnern. Er hat es nicht verstanden. Weder, dass sie ein Kind getötet hatte, noch, dass sie plötzlich auf ihn los ging. Sie hatte ihm die Schuppen runtergerissen und ihm die Kehle durchgeschnitten...
„Beginnen wir die Anhörung“, legte Kryz fest, nachdem keine weitere Reaktion von Tirzah kam. „Laryn, clanloses Kind der Venturas, dir wird vorgeworfen, Frauen und Kinder der Cobras brutal und ehrlos ermordet zu haben.“ So kontrolliert er sonst auch wirkte, nun konnte man hören, wie sehr in die Geschehnisse mitgenommen hatten. Ein solcher Vorfall war auch noch nie geschehen. Es hatte Jäger gegeben, die einen anderen Jäger außerhalb eines Duells getötet hatten oder auch ein Weibchen, das sich geweigert hatte, einer Trennung zuzustimmen, doch nie ein solches Massaker. „Gibt es Zeugen und Bildmaterial?“
Einer der anderen Räte befragte den Computer. Wenige Sekunden darauf wurde das Material von diversen Kameras wiedergegeben. Laryn, die das Haus von Tirzah verließ. Mit nichts anderem bewaffnet, als einem Messer. Ihr Weg zu dem Frauenhaus. Kurz darauf Weibchen, die panisch flüchten wollten. Verletzt. Teils Kinder auf dem Arm oder an der Hand. Doch sie kamen nicht weit. Laryn stoppte sie auf brutale Art und Weise. Thanos stellte sich ihr entgegen. Ohne zu zögern griff sie ihn an.
Je mehr er sah, desto sicherer war Tirzah, dass das nicht Laryn sein konnte. Niemals würde sie einem unbewaffneten Weibchen Schaden zufügen. Geschweige denn einem KIND! Dennoch sah er ohne Unterbrechung, wie sie wieder zurück ging. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Laryn hielt sich die Ohren zu, als sie die Schreie der Aufnahmen hörte. Ihr war so furchtbar schlecht, sie wollte sich übergeben. Aber sie konnte nur daran denken, was sie getan hatte. Wieso war sie so ein Monster? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie von jemand gepackt und auf die Beine gezogen. Furchtbar zuckte sie dabei zusammen und blickte erschrocken einem Jäger entgegen. Dieser deutete schlicht auf den Rat. Ihre Anhörung…
Verzweifelt suchte sie den Blick Tirzahs. Das war sie nicht gewesen! Und doch hatte sie Blut an ihren Händen...
Noch immer hatte Tirzah seine Stimme nicht wiedergefunden. Er sah die Bilder, hörte die Schreie, doch er konnte es einfach nicht glauben. Es war zu unwirklich. Also übernahm Kryz wieder das Wort. „Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragte er Laryn.
„I-Ich…“ Mehr bekam sie nicht aus sich heraus. Was sollte sie auch sagen? Das sie unschuldig war? Sie war es gewesen! Sie hatte unschuldige Frauen und KINDER ermordet wie ein Biest! Ebenso ihren langjährigen Begleiter! Alles zu auf dem Video zu sehen, das noch stumm im Hintergrund weiterlief. Nein. Sie war schuldig. Also schloss Laryn ihre Augen und schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts mehr zu sagen.
Für einen Moment hoffte Tirzah, dass Laryn alles leugnen würde. Dass sie bestätigen würde, dass das nicht real war. Doch sie schüttelte den Kopf. Konnte sie nicht zumindest sagen, dass sie sich an nichts erinnern konnte?
Kryz stand auf. „Dann steht das Urteil fest.“ Es gab nur wenige Verbrechen auf Yautja-Prime. Unter Anderem wegen der resoluten Durchsetzung der Strafen. Es gab völligen Verlust aller Ehre, gekoppelt mit Verbannung oder Tod.
„Wollen wir nicht weitere Beweise suchen?“, erklang plötzlich eine Stimme, die noch nie im Rat gehört worden war. Alle Blicke wandten sich Rhutvak zu, der einen Schritt nach vorn getan hatte.
„Du hast kein Recht, hier zu sprechen“, fauchte Marooth. „Dieses Vorkommnis hat nicht das Geringste mit dir zu tun und du hast dir deinen Platz im Rat noch nicht verdient!“
Rhutvak straffte die Schultern. „Ich mag kein Recht haben, hier zu sprechen, aber ich tue es dennoch, da Laryn niemanden sonst hat, der für sie sprechen darf.“ Selbst Tirzah, der ihr Gefährte war, war durch seinen Sitz im Rat gebunden. „Laryn würde eher ihr Leben geben, um die Kinder und Weibchen zu schützen, als ihnen selbst Schaden zuzufügen.“
Laryn wandte zögerlich ihren Kopf zur Seite und blickte Rhutvak entgegen. „Das glaubte ich auch“, hörte sie sich leise sagen. „Aber dennoch kann ich das Blut an meinen Händen nicht leugnen. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber…“ Ihre Stimme versagte. Hart schluckte sie und schloss ihre Augen. Sie rang mit sich und. Als sie sich wieder halbwegs sicher war, wandte sie sich dem Rat zu. „Sorgt dafür, dass dies nie wieder geschieht…“
„NEIN!“ Erst als sich ihm alle Blicke zuwandten, realisierte Tirzah, dass er es war, der geschrien hatte. Er war sogar aufgesprungen. Von sich selbst erstaunt stand er da und wusste nicht, was er sagen wollte. Er wusste nur eines: Laryn durfte nichts geschehen. Er würde es nicht ertragen. Er konnte es nicht ertragen. Sie beide waren aus dem Exil zurückgekehrt, hatten sich einen Platz im Volk ehrenhaft erarbeitet. Es konnte nicht sein, dass all dies hinfällig war. Nur wegen... Sein Blick wanderte zu dem Bildschirm auf dem eingefroren Laryn zu sehen war, wie sie einem Kind gerade das Messer in den Bauch rammte. Es war so falsch und doch... Nicht zu leugnen... Tirzah setzte sich schwer.
Nach einem Moment des Schweigens ergriff Kryz erneut das Wort. „Sofern es keine weiteren Einwände gibt...
Laryn, clanloses Kind der Venturas, du wirst zum Tode verurteilt.“ Er wartete einen Moment, ob es noch Einwände der anderen Räte gäbe, doch sie alle zeigten mit einem Nicken an, dass sie dem Urteil zustimmten. „Das Urteil wird zur Mittagsstunde vollstreckt werden. Da der Cobras-Clan der Hauptleidtragende war, wird es Talin sein, der es vollstrecken wird.“
Laryn sah lediglich Tirzah entgegen, als er versuchte, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Sie musste ihm nichts sagen. Niemand musste das. Er sah die Notwendigkeit dessen selbst. Das was daraufhin folgte, nahm sie ohne weiteres hin. Ein paar Stunden also noch. Ein paar Stunden, in denen sie noch leben würde. In Ketten gelegt, wie ein Monster, zu dem sie innerhalb einer Nacht mutiert war. Kraftlos sank sie auf ihre Knie und schloss beschämt ihre Augen. Ob es ein Leben nach dem Tod gab? Wahrscheinlich nicht für sie.
Nach der Verkündung des Urteils lag Stille über der Ratshalle. Die Jäger, die Laryn flankierten blieben, doch der Rat selbst löste sich auf. Die Mitglieder versuchten, Ordnung in diese Nacht zu bringen. Weibchen und Kinder wurden identifiziert und ihre Körper nach der Tradition verbrannt. Trauer lag über der Stadt. Lediglich Tirzah rührte sich nicht. An seiner statt trat Rhutvak zu Laryn und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Trotz der Aufzeichnungen konnte er einfach nicht glauben, dass sie dies getan hatte.
Die Stunden vergingen. Noch immer hatte sich Tirzah nicht gerührt. Ein Teil von ihm hoffte, dass irgendein Wunder geschehen mochte, das Laryn als unschuldig beweisen würde. Dabei hatte er nie an Wunder oder höhere Mächte geglaubt.
Sie sagte kein einziges Wort mehr. Niemand tat das. Ihr Herz war gebrochen. Sie hatte nicht nur Thanos getötet, sondern ebenso die vielen unschuldigen Leute. Dazu kam das niederschmetternde Gefühl, dass Tirzahs Arbeit umsonst gewesen war. Jahrzehnte lang hatte er sie hart trainiert, sie gelehrt und dennoch wurde sie nun in wenigen Stunden hingerichtet. Angeklagt wegen Mordes. Sie hatte ihn enttäuscht. Als Schülerin und ebenso als Gefährtin. Wie hatte aus ihr nur ein Monster werden können? Wie?
Die Minuten rannten dahin und ihr Tod rückte immer näher und näher...
Pünktlich zur Mittagsstunde öffneten sich die großen Türen. Erst da sah Tirzah wieder auf. Reglos hatte er auf seinem Platz verharrt, unfähig das Geschehene zu begreifen. Er konnte nicht glauben, dass es Laryn gewesen war, die dieses Blutbad zu verantworten hatte. Die wache haltenden Jäger ergriffen die Ketten die sie hielten und führten Laryn hinaus. Wie jedes Urteil würde dies in der Öffentlichkeit vollstreckt werden.
Noch immer völlig betäubt folgte Tirzah der kleinen Prozession. Noch immer weigerte sich sein Bewusstsein, das alles zu begreifen. Erst als Talin auf Laryn zu trat, ein Messer in der Hand, kam Leben in ihn. „Nein!“ Dieses Mal hatte er seine Stimme nicht erhoben, doch er stellte sich dem Rat in den Weg. „Laryn ist meine Gefährtin“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich war es, der sie hier her gebracht hat. Es ist meine Verantwortung.“ Er konnte nicht verhindern, dass das Urteil ausgeführt wurde, doch er konnte dafür sorgen, dass es schnell ging. Ein Mord wurde vergolten, indem der Mörder das Schicksal seines Opfers teilte. In diesem Fall ein Stich in den Bauch. Er kannte Laryns Körper besser, als jeder andere sonst. Wenn er das Messer richtig führte, die lebenswichtige Aorta durchtrennte, würde sie nur wenige Augenblicke Schmerzen verspüren, bevor der Blutverlust sie ohnmächtig werden ließ.
Er hielt Talin die geöffnete Hand entgegen. Nach einem Moment des Zögerns nickte der Rat und übergab Tirzah das Messer.
Laryn erhob sich und folgte den Jägern ohne einem einzigen Funken Widerstand. Das erste, was sie wahrnahm, war der Himmel. Er war für Yautja Prime ungewöhnlich bewölkt. Dann erkannte sie die Massen, die gekommen waren, um ihren Tod zu sehen. Viele der Weibchen sahen sie verständnislos an, bei manchen Jägern glaubte sie ein 'endlich' zu hören oder es alleine in ihrem Blick zu sehen. Sie blieben auf einer Art Podest stehen. An zwei Säulen, eine links und die andere rechts von ihr, wurde ihre Ketten befestigt.
"Laryn!", hörte sie eine ihr all zu vertrauten Stimme. Sie sah zu ihr, zu dem kleinen Mädchen. Janna. Alleine ihr Gesichtsausdruck, zerriss ihr das Herz. Sie konnte es nicht verstehen... genauso wenig wie sie selbst. Auch ihre Mutter stand ganz vorne. All ihre Schülerinnen waren gekommen. Rhutvak trat zu Delia und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Das war der Moment, der ihr sagte, dass es soweit war. Laryn schloss ihre Augen und schluckte. Ihr Leben war vorbei. Sie würde heute das letzte Mal Tirzah sehen. Das allerletzte Mal. Mit einem tiefen Atemzug sah sie auf, sah zu, wie Talin sein Messer zog und... sich ihr Gefährte ihm in den Weg stellte. Er bat darum, derjenige zu sein, der das Urteil vollstreckte. Ohne, dass sie es verhindern konnte, lösten sich erneut die Tränen und liefen ihr über die Wangen.
Tirzah wandte sich Laryn zu. Ihr Anblick versetzte ihm einen solchen Stich, dass er sich beinahe vor Schmerz gekrümmt hätte. Es war einfach nur falsch, sie so zu sehen. Falsch. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich dazu durchringen konnte, den ersten Schritt vorwärts zu machen. Jeder weitere Schritt war ebenso ein Kampf. Die wenigen Stufen hinauf, bis er vor seiner Gefährtin stand. Es dauerte eine halbe Ewigkeit und doch nicht lang genug. Langsam hob er die Hand und streichelte ihr sacht über die Wange. Die letzte, sanfte Berührung, bevor er ihr Leben gewaltsam beenden musste.
Zuvor wandte er sich jedoch an die Jäger. „Macht die Ketten ab“, befahl er ihnen. „Wir brauchen sie nicht.“ Tirzah erkannte seine eigene Stimme kaum. Hatte er jemals in seinem Leben so müde geklungen? Nein, nicht müde. Tot. Die Jäger zögerten, doch dann lösten sie die Ketten von Laryn. Das Ratsoberhaupt würde keine ehrlose Flucht wagen. Und selbst wenn, es waren hunderte von Jägern anwesend, die sie verhindern würden.
Tirzahs Anblick schaffte es nur, dass sie noch mehr weinen musste. Stumm zwar und mit brennender Kehle, aber dennoch... ihr Gefährte. Er hatte das alles nicht verdient. Sie war Schuld an seinem Unglück. All die Jahre...
Und dennoch schmiegte sie sich in seine Hand, als er ihre Wange berührte. Da verlangte er, dass sie von den Ketten befreit wurde. Es dauerte eine Weile, bis sich die Jäger in Bewegung setzten und doch war es viel zu schnell. Die Ketten fielen klimpernd auf den Boden. Für einen Moment geschah nichts. Es war Laryn, die sich als erste wieder rührte und einen kleinen Schritt auf Tirzah zumachte.
"Vergib mir...", hauchte sie leise. Ihre Stimme war kaum vorhanden und... eigentlich wusste sie, dass das, was sie getan hatte, nicht verziehen werden kann. Sie hob ihre Hände und legte sie auf die, ihres Gefährten, die den Griff des Messers umklammerte. "Und ich danke dir", flüsterte sie. "Für dieses wunderschöne Leben, dass du mir geschenkt hast..."
Es war zu viel. Der Schmerz raubte ihm den Atem, als Laryn seine Hand umfasste. Als ob er in einem Schraubstock steckte. „Ich bereue keinen einzigen Moment“, antwortete er beinahe lautlos. Wie sollte er es auch bereuen? Sie hatte ihm Liebe geschenkt und Lachen, den Nervenkitzel der gemeinsamen Jagd.
Die Menge begann leise zu raunen. Nicht nur einer fragte sich offenbar, ob Tirzah es tun konnte und würde. Dieser registrierte nichts davon. Seine Aufmerksamkeit lag allein auf seiner Gefährtin. „Ich bin bei dir“, versprach er und legte seine Hand an ihr Gesicht, seine Stirn an ihre. Er wollte diesen Moment anhalten, hinauszögern, dass er seiner Gefährtin das Leben nehmen musste und gleichzeitig wollte er nur diesen grausamen Schmerz beenden, der in ihm tobte.
Gewaltsam kratzte er den letzten Rest Willen zusammen, den er noch hatte... und stieß zu. Schnell. Tief. Hoffentlich tief genug. Hoffentlich hatte er getroffen. Er zog das Messer heraus und ließ es einfach fallen.
Wie schwer es ihrem Gefährten wohl fallen musste. Das war wohl auch der Grund, warum sie seine Hand noch immer festhielt. Es gab kein Zurück. Sie musste für ihre Taten sterben. Das Warum und Wieso sie es überhaupt begangen hatte, war längst verschwunden. Ihr Herzrasen nahm sie kaum noch wahr. Auch diese Ungewissheit, was nach dem Tod kommen würde, war nicht mehr da. Nicht, als Tirzah sagte, dass er bei ihr wäre. Er war da, er würde sie über die Schwelle geleiten. Aber nur bis dahin. Er würde leben.
Die Klinge ruckte in ihr Fleisch, versenkte sich tief darin, zerstörte ihre Organe, ihren Magen. Laryn biss kräftig auf ihre Zunge, um den Schrei aus dem Schmerz geboren zurückzuhalten. Das wollte sie ihm nicht antun. Nein. Es war die letzte Energie gewesen, die sie aufbringen konnte. Ein Keuchen entkam ihr, als er die Klinge aus ihr herauszog und sie damit den letzten Halt verlor, den sie hatte. Dennoch schaffte sie es irgendwie, sich mit einer Hand auf Tirzahs Brust abzustützen. Die andere fand sich auf ihren Bauch wieder. Sie spürte, wie ihr Körper versuchte, den Schaden zu beheben, es ihm aber schlichtweg nicht gelang. Blut quoll aus der Wunde hervor, tropfte auf dem Boden. Es brannte alles wie Feuer. Sie holte schwer Luft, was nur dafür sorgte, dass eine neue Welle Schmerz durch ihren Körper ging.
Laryn schmeckte Blut. Wahrscheinlich hatte sie sich die Zunge blutig gebissen, um etwaige Geräusche zu verhindern. Doch das war gar nichts. Nichts zu der Qual in ihrem Rumpf.
„Es ist Zeit, eine neue Gefährtin zu suchen, Geliebter…“, brachte sie angestrengt hervor. Auch wenn sie lauter reden wollte, sie schaffte es nicht.
Es dauert zu lang. Viel zu lang. Jede Sekunde mehr war zu lang. Tirzah wollte ihr die Schmerzen nehmen und wusste doch, dass er es nicht vermochte. Die leisen Worte trafen ihn tiefer, als es eine Waffe je könnte. Langsam ging er in die Knie, ließ sich mit Laryn zu Boden sinken, bis er saß, so dass sie nicht auch noch die Kraft aufbringen musste zu stehen. Zärtlich legte er seine Arme um sie, hielt sie fest. „Niemals...“, entkam ihm, obwohl er nichts darauf hatte sagen wollen.
Ihr Empfinden rückte in die Ferne. Sie hörte ihren Herzschlag, der immer langsamer und langsamer wurde. Ihre Kraft versiegte. Tirzah sorgte dafür, dass sie sich an ihm anlehnen konnte. Ihr Blick fand den ihres Gefährten. Er widersprach ihr. Ihre Mundwinkel zogen sich zu einem schmerzlichen Schmunzeln nach oben. Sie hob ihre Hand, wollte ihm ein letztes Mal über die Wange streicheln. Aber so weit kam es nicht mehr.
Kraftlos fiel Laryns Hand auf halbem Weg zu seinem Gesicht nach unten. Vorbei. Sie hatte es geschafft. Tirzah traten die Tränen in die Augen, die er seiner Gefährtin nicht hatte zeigen wollen und auch jetzt blinzelte er sie fort. Das war weder Zeit noch Ort dafür. Er zog Laryn nur noch näher an sich, barg sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Ihm war völlig gleichgültig, dass er sich mit Blut beschmierte. Er wollte sie einfach noch nicht los lassen. Noch nicht...
Und Rhutvak litt mit Tirzah. Kein anderer kannte wohl die Beziehung zwischen ihnen so gut wie er. So war es auch kaum verwunderlich, dass er ihren leblosen Körper nicht loslassen wollte. Die Menge war teils fassungslos oder zu Tränen gerührt. Manch einer sah darin auch ein Sieg.
„Mommy“, hörte er Janna, die sich schon längst an sie drückte. Mittlerweile hatte er auch Delia näher an sich gezogen, die ebenso um ihre Freundin trauerte. Sie verstand es nicht, so wie es keiner wirklich tat. Welchen Grund hätte Laryn haben sollen, unschuldige Weibchen und Kinder zu ermorden? So kaltblütig noch dazu?
„Das kann sie nicht gewesen sein“, schluchzte Janna. Rhutvak sah zu dem Mädchen hinab und fragte sich tatsächlich, ob es sie tatsächlich nicht gewesen sein konnte. Doch schnell schüttelte er den Kopf und löste sich von Delia. Darüber konnte er später nachdenken. Er ging die Stufen hinauf und trat an die Seite seines langjährigen Freundes. Ohne ein Wort zu sagen, legte er seine Hand auf seine Schulter. Was hätte er auch sagen sollen? Es gab einfach keine Worte, die diesen Schmerz, den er sich nur ansatzweise vorstellen konnte, lindern könnten.
Tirzah spürte die Hand auf seiner Schulter. Für einen Moment wurde er von einer Woge ziel- und sinnlosem Hass überrollt. Niemand hatte es verhindert, niemand hatte sich gegen das Urteil ausgesprochen. Nicht einmal er selbst. „Geh weg“, knurrte er an, wer auch immer zu ihm getreten war. Eine eindeutige Drohung lag in diesen beiden Worten. Er wollte nur allein sein. Allein mit seiner Gefährtin.
Für einen Moment war Rhutvak gewillt, ihm zu widersprechen oder einfach nichts zu sagen und zu bleiben. Er schwieg zwar, trat aber ein paar Schritte zurück. Er würde bleiben, wenn auch mit einem Abstand. Sein Blick glitt zu den anderen Ratsmitglieder, die streng beobachteten, was vor sich ging. Er hoffte für Tirzah, dass sie ihm erlaubten, sie so zu bestatten, wie er es wollte..
Delia hob Janna hoch, die inzwischen herzzerreißend weinte. Auch ihr selbst liefen Tränen über das Gesicht. Gleichzeitig saß der Schock noch tief. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Laryn so etwas getan haben sollte. Vor allem erkannte sie keinen Grund. Kinder waren das Wertvollste für sie gewesen. Sie hätte sich doch eher selbst etwas angetan, als ihnen auch nur eine Schramme zuzufügen.
Die Menge zerstreute sich allmählich und Delia trat zu Rhutvak. „Vielleicht sollten wir ihm einfach etwas Zeit geben“, schlug sie mit tränenerstickter Stimme vor. Laryn hatte Tirzah einst als verrückt bezeichnet, weil er sie zu seiner Gefährtin gemacht hatte. Ausgerechnet er. Kein Wunder, dass er derart trauerte.
Rhutvak wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Delia ihn ansprach. Für einen Moment sah er einfach die Mutter vor sich an, die ihr weinendes Kind trug. Schließlich nickte er und strich beruhigend über Jannas Rücken.
tbc...