Dieses Mal kam Tirzah der Tag noch länger vor. Vielleicht gerade weil er wusste, dass seine Gefährtin am Abend auf dem Trainingsplatz auf ihn warten würde. Über das Duell wurde kein Wort verloren. Es gab auch nichts darüber zu besprechen. Es hatte alles seinen ordnungsgemäßen Gang genommen. Wieder einmal stand die Sonne schon recht tief über dem Horizont, als er sich zum Trainingsplatz begab. Schon von Weitem erkannte er die Gestalt von Laryn. Das machte das leichte Humpeln wieder gut.
Laryn warf einen Blick über ihre Schulter zu den Jägern, die auf der anderen Seite ihr Training beendeten. Das war unglaublich. Anscheinend war sie tatsächlich blind auf das Werben gewesen. Es war, als würden sie einen Sicherheitsabstand halten, um ja nicht in Gefahr zu laufen, sich mit ihr, oder was auch viel wahrscheinlicher war, sich mit Tirzah anzulegen. Vielleicht sollten sie heute noch nicht mit ihm kämpfen, um sein Knie ein wenig zu schonen. Immerhin hatte sie heute die Jägerinnen nicht geschont. Ein paar von ihnen kümmerten sich gerade um kleinere Verletzungen, die sie ihnen zugefügt hatte. Ihr Blick glitt unwillkürlich zum Himmel. Ein paar Wolken waren aufgezogen, aber es reichte niemals für Regen. Nicht einmal ein bisschen. Stumm seufzte sie. Er fehlte ihr irgendwie.
Als er näher kam, sah er auch die jungen Jägerinnen in der Nähe. So wie es aussah, hatte seine Gefährtin ihnen am heutigen Tag ganz schön eingeheizt. Bald würde sich zeigen, ob seine Vermutung richtig gewesen war, dass das Versagen der früheren Jägerinnen ihren Meistern zuzuschreiben war. Tirzah nahm sich vor, jede einzelne von ihnen selbst zu testen, bevor die Prüfung festgelegt wurden. Es mussten nicht noch mehr Leben vergeudet werden. Zwar kannte er Laryns Fähigkeiten, doch Etwas zu können bedeutete noch lange nicht, es auch vermitteln zu können.
Diese war etwas abgelenkt und Tirzah nutzte die Gelegenheit. Lautlos schlich er sich an sie heran und schlang seine Arme um sie. Bereit auszuweichen, sollte sie das als Angriff ansehen.
Der Schock erfasste sie und setzte augenblicklich Adrenalin frei. Sie reagierte schnell und trat mit ihrem rechten Fuß nach dem Schienbein ihres Angreifers und ließ ihn über das Schienbein kratzen. Gleichzeitig holte sie mit ihren Ellbogen aus, um ihn in den Rumpf desjenigen zu jagen, der es wagte, sie so hinterrücks anzugreifen. Es würde ein harter Haken folgen, wenn sie sich aus seinem Griff befreit hatte.
Wie erwartet kam die Reaktion sofort. Laryn erwischte ihn noch am Bein, doch da hatte Tirzah sie schon losgelassen und war zurückgewichen. Sein Knie knackste, doch er stand sicher. Sowohl der Hieb mit dem Ellbogen, als auch der Haken gingen ins Leere. Würde er seine Gefährtin nicht so gut kennen, wäre ihm dies wohl schwerer gefallen. Ganz sicher hätte sie ihn sogar getroffen. Aber er kannte sie eben, war er es doch gewesen, der sie trainiert hatte. Scherzhaft ging er lachend in Verteidigungsstellung. „Ich wusste nicht, dass du es so eilig mit dem Training hast“, grinste er.
Laryns Schülerinnen sahen erschrocken zu ihnen herüber. Für einen Moment lang hatte es ausgesehen, als wäre es ernst, doch nun entspannten sie sich wieder.
Erst zu spät erkannte sie, dass es Tirzah war. Die Kraft in ihrem Haken ließ nach, aber zurücknehmen konnte sie ihn nicht mehr. Gut, dass er dem ausgewichen war. Er ging zwar in Angriffsstellung, sie aber wurde von der Freude völlig durchflutet. Er war hier, ganz so wie sie es vorgeschlagen hatten! Endlich, nach all der Zeit konnte sie wieder mit ihrem Geliebten kämpfen. Für sie ignorierte er sogar die Schmerzen in seinem Knie. Ach... scheiß auf die Manieren! Anstatt ihn anzugreifen, fiel sie ihm lachend in die Arme.
Doch das ließ Tirzah nicht so einfach zu. Gekonnt drehte er sich ein Stück, kaum dass sie sich berührten, um sie zu Boden zu werfen. Normalerweise würde er sich 'auf' sie werfen, doch dass ließ sein Knie heute nicht zu. Um etwaige Verletzungen machte er sich bei Laryn keine Gedanken. Sie war zu gut trainiert, als dass ein so einfacher Sturz ihr schaden konnte. Er trat einen Schritt zurück. Lachend, wie sie. „Schon so müde heute?“, zog er sie auf.
Ein erschrockenes Geräusch entfuhr ihr, als sie ins Leere griff. Gekonnt fing sie sich in einer Art Liegestütze auf, ehe sie sich umdrehte und böse - wenn auch ein wenig amüsiert - zu Tirzah aufblickte. Wenn sie um eine Zärtlichkeit kämpfen musste, würde sie ihm zeigen, was es bedeutete, sich mit ihr anzulegen! Alleine bei dem Gedanken, entfuhr ihr ein belustigter Laut. "Nicht so sehr wie du, nachdem wir zu Hause angekommen sind", feixte sie. Laryn packte eine Hand voll Staub und warf sie ihm ins Gesicht. Wie üblich hallten ihr zum Teil seine Worte im Kopf: Nutze deine Umgebung!
Elegant kam sie auf die Beine und trat nach seiner Brust, um ihn zum Wanken zu bringen.
Tirzah riss schützend die Arme vors Gesicht, um sich vor der Staubattacke zu schützen. Der Tritt traf ihn hart. Laryn mochte noch so zierlich wirken, hinter ihren Attacken steckte erstaunlich viel Kraft. Er stolperte einen halben Schritt zurück, doch dann hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden. Ein kurzer, schneller Schlagabtausch folgte. Mit einem Mal fing er jedoch die Hände seiner Gefährtin ein. Eine geschickte Drehung später, hatte er ihr selbige auf den Rücken gedreht und sie an sich gezogen. „Wir werden ja sehen, wer heute Abend wirklich müde ist“, raunte er ihr sacht ins Ohr. Nur zu gern hätte er den Kampf noch etwas fortgesetzt, doch leider spürte er dieses verflixte Knie.
Laryn fand sich mit dem Rücken zu Tirzah wieder und… sie lachte leise. Viel zu sehr genoss sie diesen kleinen Kampf zwischen ihnen, als es tatsächlich als Niederlage zu sehen. Sie konnte nicht verhindern, bei seinen Worten zu erschauern. Nur sacht zog sie dabei mehr unbeabsichtigt an seinem Griff. „Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?“, fragte sie leise und bewegte ihre Hüfte. Wie lange war es her, seit sie ihm diese Art von Tanz gezeigt hatte? Sein ratloses Gesicht, als sie seine Hände auf ihrem Körper platziert hatte und ihm sagte, dass er sie führen musste. Dieses Flirten tat sie nicht nur, weil sie äußerst viel Lust darauf hatte, nein. Ebenso kennzeichnete sie damit, dass sie nur ihm gehörte.
Ein leises Lachen antwortete auf die Frage. „Beides“, gab Tirzah aber noch die halb geschnurrte, verbale Antwort, bevor er Laryn wieder los ließ. Waren es tatsächlich erst wenige Tage her, dass sie ihre Bindung offiziell gemacht hatten? Mit einem Mal war es genau so, wie zu der Zeit, als sie noch alleine durch die Galaxie gestreift waren. Oder zumindest fast. Der größte Unterschied war wohl, dass sie beide doch für andere attraktiver waren, als sie vermutet hatten. Da war es eigentlich ganz gut, dass sie inzwischen beide, ihren Standpunkt dargelegt hatten. So wie er jeden Nebenbuhler herausfordern würde, so würde Laryn das gleiche tun. Doch so wie es aussah, war das nun nicht mehr nötig. Die anderen Jäger auf dem Platz hielten schon beinahe Sicherheitsabstand. Gut so. Wobei Tirzah nichts dagegen hätte, wenn Laryn mit einem von ihnen trainierte. Es wäre sogar gut, da wechselnde Gegner andere Erfahrungen bedeuteten.
Tirzah trat einen Schritt zurück. Er nickte zu den Jägerinnen. „Wie wäre es, wenn du mir zeigst, was deine Schülerinnen bereits können?“, schlug er vor. „Es sei denn, sie sind schon zu müde...“ Den letzten Satz sagte er laut genug, dass diese ihn hören konnten.
Laryn grinste auf seine Antwort und nach all der langen Zeit, seit sie ein Paar waren, schlich sich noch immer leichte Röte in ihre Wange. Sie wusste schon genau, was sie tun würde, wenn sie zu Hause wären. Er ließ sie los und natürlich drehte sie sich zu ihm um. Ihre Augenbrauen hoben sich ein wenig. Es lag ihr schon die Frage auf der Zunge, ob er vergesse hatte, das Ratsoberhaupt einzusperren, ließ es aber wegen ihren Zuschauern bleiben. Er würde ihre Mimik auch ohne Worte deuten können. Auf seinen Vorschlag nickte sie also und drehte sich zu ihren Schülerinnen um, die sich schwer taten, aufzustehen. Bis auf eine, die ihr willig zunickte.
„Delia und Nadji“, verlangte sie die Beste unter allen. „Das Ratsoberhaupt verlangt nach einer Kostprobe.“ Ein Zweikampf unter ihnen sollte reichen. Wäre Tirzah damit nicht zufrieden, würde sie selbstverständlich einer der Jäger bitten - oder er selbst musste es testen.
Ganz offensichtlich hatte Laryn die Weibchen ganz schon in die Mangel genommen, denn selbst die beiden aufgerufenen war anzusehen, dass sie geschafft waren. Dennoch nahmen sie sofort Aufstellung. Auf ein Zeichen ihrer Meisterin begannen sie mit dem Übungskampf. Lässig an den Zaun gelehnt, die Arme kritisch vor der Brust verschränkt, beobachtete Tirzah genau. Die Bewegungen waren nicht so flüssig, wie sie sollten, was wohl der Erschöpfung zuzuschreiben war. Es fehlte auch noch an Zielgenauigkeit. Ein gut gezielter Hieb konnte selbst mit geringer Kraft mehr ausrichten, als ein nur halbwegs sicherer Schlag mit doppelt so viel Kraft. Doch das waren alles Dinge, die mit der Zeit kommen würden.
Plötzlich spürte Tirzah ein Zupfen an seinem Gürtel. Als er hinunter sah, stand dort Janna, die mit großen Augen zu ihm aufsah.
Jannas Herz raste. Nicht zuletzt deshalb, weil sie eigentlich nicht hier sein sollte. Sie war weggerannt, aber sie musste einfach ihre Mama wiedersehen, ebenso wie Laryn! Doch als sie es geschafft hatte, sich genügend Mut zuzusprechen, um Tirzah auf sich aufmerksam zu machen, war die Stärke sogleich verflogen, als er tatsächlich zu ihr hinab blickte. Sie musste sogar ihren Kopf in den Nacken legen, so groß war er. Für einen Moment sah sie weg und spielte unsicher an ihren Fingern, ehe sie ihre Augen zusammenpresste und sich die Worte von Laryn in den Kopf rief: Hab Mut für das zu kämpfen, was du willst!
Also ballte sie ihre kleinen Hände zu Fäusten und holte tief Luft. „Ich will nicht mehr bei Papa wohnen!", brach es aus ihr hervor und Laryn drehte sich überrascht zu ihr um, als sie ihre Stimme gewahr wurde. "Ich will viel lieber Jägerin werden! Ich werde brav sein und gehorchen und nie wieder weglaufen! Ich werde auch alles essen, was ich kriege, ich werde zeitig schlafen gehen und auch früh aufstehen! Eine gute Jägerin steht früh auf um Körper und Geist zu trainieren, das habe ich nicht vergessen!“ Erst da traute sie sich die Augen wieder aufzumachen und zu dem großen Jäger aufzusehen. „Darf ich bitte bitte bitte bei Laryn und dir wohnen?“
Tirzah war hin und her gerissen. Einerseits verstieß das Kind gerade gegen alle Regeln. Es war weggelaufen, trieb sich auf den Trainingsplätzen herum, wollte nicht bei ihrem Erzeuger leben und zeigte ihm gegenüber nicht einmal den nötigen Respekt. Andererseits war sie wirklich noch in einem Alter, in dem es allgemein verziehen wurde, wenn man mal über die Strenge schlug und auch wenn er gern etwas anderes behaupten wollte, die Bitte rührte ihn. Vor allem in der Verzweiflung, in der sie vorgebracht worden war.
Delia hatte sofort zu ihrer Tochter gesehen, als sie deren Stimme vernahm. Augenblicklich kassierte sie einen Schlag, der jedoch nur halbherzig geführt worden war, da auch Nadji abgelenkt war. Delia streckte schon die Hand aus und wollte zu Janna laufen, als Tirzah diese einfach im Genick am Kragen packte und hoch hob, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. „Ein guter Jäger lernt vor allem zuerst zu gehorchen und den Regeln zu folgen“, wandte er knurrend ein, wobei er nicht halb so böse war, wie er gerade tat. Es war nur... Warum ließ ihn ein Kind plötzlich so weich werden? Das hatten nicht einmal seine eigenen Nachkommen geschafft.
Laryn sah nur kurz zu ihren Schülerinnen, die mehr als nur abgelenkt waren. „Weiter, ansonsten werde ich zuschlagen“, wies sie knurrend an. Natürlich hatte sie nicht vor, Delia eine der wenigen Chancen zu nehmen, ihre Tochter zu sehen und in die Arme zu schließen. Sie würde dafür sorgen, dass sie sie beide nach Hause brachten. Als sie wieder zu Tirzah sah, verzog sie ihr Gesicht.
Janna war zuerst mehr als nur erschrocken, blickte den Ratsoberhaupt aus großen, riesigen Augen an und… begann augenblicklich zu weinen. „I-Ich weiß!“, schluchzte sie. „Ich werde gehorchen, ich verspreche es!“
Nur langsam trat Laryn näher an ihren Gefährten...
„Dann gehorche und geh wieder nach Hause“, wies Tirzah das weinende Kind hart an. „Du kannst zurückkommen, wenn du erwachsen bist.“ Musste es jetzt auch noch weinen? Ob er wollte oder nicht, doch er spürte, wie seine Härte darunter zerbrach. Völlig gleichgültig, ob das was er sagte, richtig war oder nicht. Aber sie konnte nicht einfach bleiben. Schon gar nicht bei ihm und Laryn! Es war einfach nicht richtig!
Und nun war es um Janna geschehen. Sie legte ihre Hände über ihre Augen und weinte bitter. Das Herz von Laryn zog sich dabei zusammen und sie konnte nicht anders:
„Tirzah“, sagte sie den Namen ihres Gefährten. Sie respektierte ihn und ebenso seinen Rang, aber dennoch war es die falsche Vorgehensweise. Auch ein wenig Strafe klang in ihrer Stimme mit. Sie hob ihre Hände und nahm ihm das Mädchen aus der Hand, die einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Vorsichtig setzte sie sie auf ihre Füße ab und ging dabei auf die Knie. „Janna… sieh mich an“, bat sie sie. Erst nach einem Moment löste das Mädchen die Hände von ihren Augen und blickte sie an. „Du wirst Jägerin sein, wenn du es wirklich willst. Aber jetzt kannst du das noch nicht. Noch, bist du zu jung und du musst viel lernen, bevor du die Ausbildung zur Jägerin antreten kannst.“
„Ich möchte aber nicht länger bei Vater wohnen. Ich möchte bei meiner Mama sein…“, meinte sie immer noch schluchzend.
„Okay, aber dann müssen wir das ganz anders angehen“, erklärte Laryn. „Tirzah ist das oberste Ratsmitglied. Ihm musst du mehr als allen anderen Respekt erweisen, verstehst du? Er kann dir helfen und dir Ratschläge erteilen. Wenn du ihn um seine Hilfe bitten willst, musst du dich vor ihn hinstellen, deine rechte Hand auf deine linke Schulter legen und deinen Kopf neigen. Dann warte auf die Erlaubnis, dass du sprechen darfst.“ Schniefend blickte das Mädchen sie zweifelnd an. Aufmunternd lächelte sie zurück. „Du schaffst das“, versicherte sie ihr. Janna blickte von Laryn zu Tirzah und… tat, wie ihr geheißen. Nur leicht korrigierte die Jägerin die Hand auf der Brust des Mädchens und blickte zu ihrem Gefährten auf.
Das war... Er wusste ja, dass Laryn das nicht tat, um ihn zu ärgern, doch sie machte es ihm schwer, bei einem einfachen 'nein' zu bleiben. Einen Moment lang ließ er seinen Blick zu dein beiden Jägerinnen gleiten, die eigentlich ihren Zweikampf fortsetzen sollten. Was sie bisher jedoch nicht getan hatten. „Eure Meisterin hatte euch doch einen Befehl gegeben!“, knurrte er jetzt die beiden an, anstatt das Kind. Und trotzdem konnte er nicht behaupten, dass es um seine Entschlossenheit besser bestellt war, als er wieder auf Janna herab sah. Ihr Gruß war noch nicht vollständig korrekt, doch näher dran, als er es je von einem Kind erwartet hätte.
Nun hatte sie der Form genüge getan, dann sollte er das wohl auch. Er neigte den mächtigen Schädel. „Was führt dich zu mir, Janna?“, fragte er nach. Obwohl er ja schon wusste, was sie wollte.
Laryn warf den beiden Frauen ein Blick zu, als Tirzah sie anknurrte. Diese beeilten sich auf seine mächtige Stimme zu reagieren und weiterzukämpfen. Janna hingegen war so eingeschüchtert, dass sie zu zittern begann. Stärkend strich sie ihr über den Rücken und nickte dankbar zu ihrem Gefährten, dass er mitspielte. Natürlich wusste sie, dass sie nicht gegen seine Entscheidung vorgehen konnte, aber immerhin musste er es für Janna verständlich machen.
Das Mädchen war überrascht, dass das große Ratsoberhaupt ihr das Wort erteilte. Etwas überfordert blickte sie wieder zu der Jägerin, die sie dahingehend gerade unterrichtete. „Nur zu“, sagte diese allerdings nur und konnte sich ein weiteres Lächeln nicht verkneifen. „Denk aber nach, bevor du sprichst. Verschwende nicht seine Zeit. Halte dich kurz und verständlich. Wenn er Fragen dazu hat, wird er sie stellen.“
Janna nickte, als sie die Worte leise wiederholte, um sie zu verinnerlichen. Sie überlegte und wandte sich schließlich wieder Tirzah zu. „Ich möchte nicht mehr bei meinem Vater wohnen. Mir gefällt es dort nicht und mir fehlt meine Mama.“
Um seine eigene Selbstsicherheit zu stärken, verschränkte Tirzah die Arme wieder vor der Brust. „Ich verstehe, dass dir deine Mutter fehlt“, antwortete er. „Aber deshalb darfst du nicht einfach fortlaufen.“ Der Tadel klang nur halb so hart, wie er eigentlich wollte. Denn wie sollte das Kind sonst seinen Wunsch jemandem vorbringen, der es auch anhören würde? Nachdem Makish seine Gefährtin verstoßen hatte, weil sie Jägerin werden wollte, würde er seiner Tochter kaum einfach so gestatten, zu ihr zu gehen und dem gleichen Weg zu folgen.
Er sah den verzweifelten Gesichtsausdruck von Janna und in diesem Augenblick ging leider der letzte Rest seiner Selbstbeherrschung flöten. Tirzah ließ sich auf ein Knie nieder. Eine unbedachte Handlung, die er sofort bereute, doch zumindest konnte er verhindern zu zeigen, dass er Schmerzen hatte. „Ich kann nicht alleine entscheiden, ob du woanders wohnen darfst“, sagte er ernst zu dem Mädchen. „Ob es dir gefällt oder nicht, dein Vater hat da die Entscheidungsgewalt. Aber ich gebe dir mein Wort darauf, dass ich ihn dazu überreden werde, dass du deine Mutter öfter sehen darfst.“
Janna senkte sofort ihren Kopf und gab damit zu verstehen, wie sehr sie sich mittlerweile für ihre Flucht schämte. Laryn konnte nicht anders, als zu bei Tirzahs Anblick zu schmunzeln. So wie er sich nun ausdrückte, verstand es das Mädchen und nickte. Der letzte Satz rief aber wohl etwas hervor, womit sie beide nicht gerechnet hatten:
Janna jubelte auf und umarmte ihren Gefährten. „Nein, warte!“, hatte Laryn noch versucht sie aufzuhalten, aber es war schon zu spät. Obwohl sie es versuchte zurückzuhalten, musste sie lachen. „Janna, du kannst nicht einfach das Ratsoberhaupt umarmen!“
Bevor Tirzah reagieren konnte, hatte er das Mädchen am Hals hängen. Sofort versteifte er sich. Das war... unerwartet. Nicht, dass er absolut keine Erfahrung mit Kindern hatte, immerhin hatte er sich um alle seine Nachkommen gekümmert, aber das? Bisher war ihm keines um den Hals gefallen. „Laryn...“, bat er seine Gefährtin darum, sich Janna anzunehmen.
Auf Tirzahs Reaktion konnte Laryn ihr leises Kichern nicht zurückhalten. Er wirkte irgendwie… hilflos. Nicht nur sein Herz war weich geworden. Sie kam näher und hauchte ihrem Gefährten einen Kuss auf seine Mandibel, ehe sie drei einfache Worte sagte: „Ich liebe dich.“
Dabei nahm sie Janna und zog sie von ihm weg. Überrascht blickte das Mädchen zu ihr. Hatte sie denn nicht mitbekommen, dass sie Gefährten waren? Die Neuigkeit hatte sich doch wie ein einziges Lauffeuer verbreitet. Bevor das Mädchen die Gelegenheit dazu hatte, irgendetwas zu sagen, sprach Laryn schon weiter. „Du kannst das Ratsoberhaupt nicht einfach so umarmen. Nicht, wenn er dich nicht darum bittet. Das zeugt nicht von Respekt.“
Janna reagierte völlig schockiert darüber, dass sie Tirzah mit einer Umarmung beleidigt hatte. „Tut mir leid!“, sagte sie zu Laryn und wiederholte die Worte ebenso bei dem Jäger.
Die Jägerin tat sich schwer, dabei nicht laut loszulachen. „Tirzah hat dir seine Hilfe zugesagt. Was tust du?“
„Ich… ich werde mich bedanken?“
„Ganz richtig. Also erweise ihm erneut deinen Respekt und bedanke dich mit Worten“, erklärte sie ruhig, woraufhin Janna ihr Bestes tat, es umzusetzen.
„Vielen Dank“, sagte sie und Laryn schmunzelte.
„Vielen Dank für eure Hilfe, ehrenwertes Ratsoberhaupt“, half sie weiter
„Vielen Dank für eure Hilfe, ehrenwertes… ähm.“
„Ratsoberhaupt.“
„Ratsoberhaupt“, wiederholte Janna und blickte auf, um zu sehen, ob sie es richtig gemacht hat.
Wie machte Laryn das nur? Sie ging so einfach mit dem Kind um, als ob sie seit Jahren nichts anderes gemacht hätte. Im gleichen Moment, als er sich diese Frage stellte, bekam Tirzah die Antwort. Sie war zur Mutter geboren. Wie ungerecht war es da, dass sie nie welche bekommen sollte? Gerade in diesem Moment würde er nur zu gern auf ihre Worte reagieren, doch das wäre eindeutig ein Bruch der Regeln. Doch später würde er es wieder gut machen.
Es fiel ihm deutlich schwerer, wieder aufzustehen. Auf den artigen Dank des Mädchens nickte er ihr zu. Er sah zu den beiden kämpfenden Jägerinnen, deren Konzentration eindeutig nicht mehr auf dem Kampf lag. Da stand Laryn noch eine Menge Arbeit bevor. „Delia!“, rief er die Mutter des Kindes an. „Bring mit Laryn deine Tochter nach Hause“, wies er sie an. Zu Laryn gewandt fügte er hinzu: „Ich kümmere mich derweil um deine Jägerinnen.“
Als Janna das Okay bekam, riss sie sofort an der Hand von Laryn. "Tirzah ist dein Gefährte!", rief sie aufgeregt aus, woraufhin sie lachen musste. "Ja, das ist er. Tut mir leid, dass du keine Chance hattest, um ihn zu werben."
"Das ist schon okay! Er ist irgendwie... gruselig..."
Laryn konnte nicht mehr anders: laut prustete sie los. "Er steht neben dir, Janna! Pass auf, sonst musst du noch gegen ihn kämpfen!" Bevor sie darauf reagieren konnte, rannte Delia zu ihrer Tochter und nahm sie in die Arme. Lächelnd stand sie auf und entfernte sich von der Wiedervereinigung von Mutter und Tochter ein, zwei Schritte. Erst da kamen die gesagten Worte Tirzahs bei ihr an, woraufhin sie nickte. Ihre Schülerinnen waren definitiv klug genug, nicht um ihn zu werben, deshalb machte sie sich auch dahin gehend keine Sorgen. "Schone sie nicht", meinte sie.
"Laryn!", hörte sie schon wieder Janna aufgeregt. "Singst du mir ein Lied über Tirzah?" Die Jägerin war wenig überrascht von der Bitte. Schließlich sollte jede gute Gefährtin über die Beziehung singen können - sofern sie stolz darauf war.
"Ich fürchte mein Lied würdest du nicht verstehen", antwortete sie schmunzelnd. Und bisher hatte sie es nur für sich gesungen. Selbst Tirzah kannte es nicht.
Dieser hatte sich bereits den verbliebenen Jägerinnen zugewandt. Was nicht bedeutete, dass er nicht die Begrüßung zwischen Delia und Janna sah oder die Feststellungen des Mädchens überhörte. Bei einem war er sich jedoch sicher, wenn Janna ein gewisses Alter erreicht hatte, wären Männchen wie er, Jäger, Älteste, ganz und gar nicht mehr gruselig. Doch dafür hatte sie noch Zeit.
Tirzah sparte sich eine Antwort an Laryn. Sie hatte sein Training mitgemacht, sie sollte wissen, dass er darin keine Schonung kannte. Und ebenso wenig Schonung würde er wohl kennen, wenn er seine Gefährtin später nach dem Lied ausfragte. Bisher hatte sie etwas derartiges nie erwähnt. „Aufstellung!“, verlangte er hart von den Schülerinnen, die er für den Moment übernommen hatte.
tbc...