Laryn hatte Recht behalten. Am nächsten Tag fielen ihre Verpflichtungen über sie her, wie ein ausgehungerter Galgoph. Auch die darauffolgende Woche änderte sich nichts daran. Delia scharte eine Gruppe Weibchen um sich, die immer mehr an Mitglieder gewann. Gleichzeitig erhoben sich aber auch die älteren Jäger, die das nicht gestatten wollten und sich ebenso vor dem Rat aufplusterten. Im Gegensatz zu Rhutvak, der dazu tendierte, Delia zu unterstützen. Nicht nur einmal war er eingeschritten, weil ein Männchen kurz davor war, sie zu schlagen, weil er die Nerven verlor. Es schien, als würde nun bei jeder Kleinigkeit der Rat zugezogen und das merkte sie auch stark an Tirzah. Selbst ihre abendlichen Verabredungen ließen sie schleifen, da er völlig ausgelaugt war. Auch sie hatte irgendwie das Gefühl, dass die Umstände an ihren Kräften nagten. Sie ging müde ins Bett und wachte ebenso müde wieder auf.
Tirzah unterdrückte ein Knurren. Natürlich hatte er gewusst, dass viel Arbeit und wohl ebenso viel Streit auf den Rat zukommen würde, doch das änderte nichts daran, dass es nervte. Die älteren Männchen wehrten sich dagegen den Weibchen Rechte bezüglich ihrer Nachkommen zuzugestehen und viele ebenso gegen die Idee der Jägerinnen allgemein. Auch jüngere Jäger hatten sich auf deren Seite geschlagen. Nicht nur im Clan der Cobras. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich innerhalb aller Clans zwei Gruppen gebildet. Auf der einen Seite die Weibchen, die für ihre Rechte kämpfen wollten, auf der Anderen die Männchen, die die alten Wege beibehalten wollten. Lediglich die Kinder selbst, manche ältere Weibchen und eine Handvoll ganz junger Jäger hatten keine Seite gewählt. Ganz Yautja-Prime ähnelte einem Pulverfass, das nur auf einen Funken wartete, um hochzugehen.
Möglicherweise war gerade dieser Streit vor dem Rat besagter Funke. Makish und ein halbes Dutzend weiterer alter Jäger hatten sich versammelt und verlangten, dass diese Farce, wie sie es bezeichneten, endlich zu einem Ende gebracht wurde. Dagegen standen die Vertreter für die Gruppe um Delia. Da diese selbst nicht vor den Rat treten konnte, war Laryn an ihrer Stelle erschienen. Stellvertretend für alle Weibchen. Neben einem jungen Jäger der Taipan war auch ein älterer Jäger der Gator erschienen. Der Rest waren alles Venturas. Sie waren der einzige Clan, der sich vollständig hinter die Weibchen gestellt hatte.
„Wenn wir zulassen, dass uns die Weibchen auf der Nase herum tanzen, wird unsere Kultur zerfallen!“, knurrte Makish.
„Sie werden euch nicht auf der Nase rumtanzen“, entgegnete Laryn ruhig. Aber auch ihre Geduld war am Rande. Es hatte sie absolut nicht gewundert, dass Makish zu dieser Gruppierung gehörte. „Es schwächt nicht den Clan, im Gegenteil, es stärkt ihn! Die Jägerinnen machen sich gut, das kannst selbst du nicht leugnen. Und nur weil sie sagen, dass sie den Weg des Jägers gehen, heißt das noch lange nicht, dass sie niemals Kinder haben werden. Es ist Zeit dafür, die Predator noch weiter zu stärken. Der Rat hatte schon vor Monaten beschlossen, den Weibchen das Recht zu geben, ihr Leben zu leben, wie sie es für richtig erachten. Deren Wort liegt über dem deinen. Ebenso wäre es nur rechtens, wenn man sich darauf einigen würde, dass wenn ein Weibchen verstoßen wird, sie immer noch Mitspracherecht hat, was die Erziehung des Kindes anbelangt. Jedes Kind sollte im Schoße der einen Mutter aufwachsen, ebenso des Vaters - egal wie die Beziehung der Eltern zueinander steht.“
„Was verstehst du schon davon?!“, knurrte ein Männchen hinter Makish. „Du hast keine Kinder!“
„Es reicht!“, ordnete Kryz an. „Jeder erhält das Recht zu sprechen, Dacet. Aber jeder zu seiner Zeit. Es bringt nichts, wenn alle durcheinander sprechen.“ Auch er war am Rande seiner Geduld, doch seine Worte waren ruhig. „Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass die Entscheidung, die wir treffen, das Gefüge unserer Gesellschaft maßgeblich beeinflussen kann. Sei es, dass wir dem Antrag der Weibchen stattgeben oder ihn ablehnen. Laryn“, sprach er die Jägerin an. „Dacets Einwurf hat seine Berechtigung. Du bist kinderlos und so wie nur ein Jäger verstehen kann, was eine Jagd bedeutet, so gehe ich davon aus, dass nur eine Mutter versteht, was es bedeutet, eine Mutter zu sein. Es ist auch nicht so, dass ein Kind ohne mütterliche Fürsorge aufwächst, wenn die leibliche Mutter den Haushalt verlässt. Nur äußerst wenige Jäger habe ausschließlich eine Gefährtin.“
Laryn presste ihre Lippen zusammen, als sie wieder dieses Gefühl aufkam, wenn man erwähnte, dass sie keine Kinder haben konnte. Dennoch verbannte sie dies mit einem tiefen Atemzug. Sie nickte auf die Worte von Kryz. „Ich weiß“, antwortete sie. „Ja ich bin Kinderlos und werde es immer bleiben, aber hört doch auf den Teil des Volkes, ohne den es euch nicht geben würde. Ein Weibchen trägt ein Kind Monatelang in sich, ebenso ist das Kind Teil des Vaters. Es geht ihnen nicht darum, euch Jäger zu hintergehen oder unterzuwerfen. Ihr seid immer noch der schützende Teil des Volkes und ohne euch können sie nicht, ebenso umgekehrt. Versetzt euch doch in ihre Lage. Natürlich gebt ihr ihnen die Chance, einen neuen Gefährten zu finden, sobald ihr euch entscheidet, sie nicht länger in eurem Haushalt zu haben, aber ist es denn zu viel verlangt, sein eigen Fleisch und Blut zu sehen, wenn es einem danach beliebt?“ Nun wandte sich Laryn wieder zu Makish und seinem Gefolge. „Was würdet ihr verlieren, wenn eure Kinder die Möglichkeit haben, ihre eigene Mutter sehen und Zeit mir ihr verbringen können?“
„Sie würden auf dumme Ideen kommen, wie Jägerin werden zu wollen“, gab Makish zurück. „Die Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass Weibchen nicht dazu geeignet sind. Wenn sie sich selbst freiwillig in den Tod stürzen, ist das ihre Sache, aber wenn sie die Kinder da mit hinein ziehen, hat es ernste Konsequenzen für den gesamten Clan. Es genügt, wenn die Jäger ein gefährliches Leben führen, doch sie versorgen damit Weibchen und Nachkommen. Sie sind es, die den Clan ernähren und kleiden, warum sollten nicht allein sie bestimmen, wie die Kinder erzogen werden? Du kannst nicht leugnen, dass du eine absolute Ausnahme bist“, fügte er an.
„Ich denke, wir haben beide Seiten gehört“, unterbrach Tirzah nun die Diskussion. Ihm brummte der Schädel und nicht nur seine Geduld war nahezu am Ende. Der ganze Raum vibrierte vor Spannung. Und was er jetzt tun würde, würde nicht zu aller Beruhigung beitragen. „Laryn“, bat er seine Gefährtin. „Ich möchte Delia in dieser Angelegenheit sprechen. Bring sie her.“ Alle Blicke wandten sich ihm zu. Damit führte er bewusst einen Bruch des Gesetzes herbei, dass niemand, der kein Jäger war, die Halle des Rates betreten durfte. Doch er wollte eine Mutter sprechen lassen und da Delia die Urheberin der Forderungen war, war es nur gerecht wenn sie es sein sollte. Doch er ging noch weiter. „Janna ebenfalls.“
Laryn holte Luft, um Makish gerade zu sagen, dass diese Entscheidung bei Janna lag, sobald sie Erwachsen wurde und er die Möglichkeit hatte, ihr auch die Seiten eines einfachen Weibchens aufzuzeigen und dass auch dieser Weg völlig in Ordnung war. Wäre da nicht Tirzah gewesen. Sie nickte und verneigte sich respektvoll, bevor sie kehrt machte und sich beeilte, nach draußen zu kommen. Vor dem Tempel hatten sich viele Scharen an Weibchen gebildet. Vorne an stand ihre beste Freundin. Neben ihr stand Pola, die gerade Janna losließ, damit sie ihre Mutter umarmen konnte. Irrte sie sich oder lächelten die Weibchen sich gegenseitig an? Hatte Delia denn schon wieder ein Mitglied gefunden? Makish wäre bestimmt begeistert darüber...
„Delia!“, rief Laryn ihre Freundin an. Bevor sie weitersprach, packte sie ihre Hand und die von Janna. Ohne zu warten zog sie sie mit sich. „Der Rat wünscht euch zu sehen. Ihr wisst, dass ihr diese Hallen eigentlich nur mit dem Status eines Jägers betreten dürftet. Umso wichtiger ist es, dass ihr nun mehr als alle anderen Respekt erweist. Sieht euch nicht um und bleibt in meiner Nähe. Verneigt euch tief vor dem Rat und wartet, bis ihr zum Sprechen aufgefordert werdet. Los! Beeilt euch!“
„Was?“, entkam es Delia, doch da zog Laryn sie schon mit sich. Einen Moment lang sträubte sie sich sogar, doch dann gab sie nach. Sie sollte vor den Rat treten? Das war nicht nur eine einzigartige Ehre, es war ebenso furchterregend. Wenn sie nun einen Fehler machte? Die Männchen, die aus dem Tempel traten, wie auch die, die sich davor versammelt hatten, schenkten ihr jedenfalls keine sehr freundlichen Blicke. Sie hofften wohl darauf, dass sie sich daneben benehmen würde. Als wäre das der Beweis, dass ein Weibchen ohne ein dazugehöriges Männchen nichts zustande bringen würde. Als sie die Halle selbst betraten, war Delia bereits so nervös, dass ihre Hand zitterte, als sie den Rat mit allem Respekt grüßte. Sie wagte es nicht einmal aufzusehen.
In der kurzen Zeit, in der sie allein waren, waren die anderen auf Tirzah eingestürmt. Ob er den Verstand verloren hatte, ein Weibchen in diese Hallen zu bitten. Er hatte lediglich erwidert, dass er seine Gründe dafür hatte. Nun, da Delia und Janna vor ihm stand, war er nur umso sicherer. Delia hatte die Hand ihrer Tochter ergriffen.
„Delia“, sprach er sie ruhig an. „Bitte sag uns, was es für dich bedeutet, von deinem Kind getrennt zu sein.“
Selbst Janna begrüßte den Rat so, wie Laryn es ihr vor Wochen beigebracht hatte. Die Erwachsenen um sie herum sahen alle so müde aus. Als sie die Blicke der Ältesten sah, trat sie einen unsicheren Schritt näher an ihre Mutter.
„Es ist, als würde mir mein Herz aus der Brust gerissen. Auch wenn ich weiß, dass es ihr bei Makish gut geht, fehlt sie mir mit jedem Atemzug den ich mache mehr.“
Auch wenn Laryn die Reaktion des kleinen Mädchens sah und ihr liebend gerne den Rücken stärken würde, blieb sie abseits. Sie würde sich nicht einmischen.
Tirzah nickte. Das war etwas, das er erwartet hatte. Der eigentliche Grund, weshalb er ein Weibchen hergebeten hatte. Vor allem Delia sollte offen berichten, wie es war, denn es war ihr Tun, dass sie diese Diskussion überhaupt führten. Er hatte es nicht gewagt, Laryn auszufragen, wie es ihr gehen würde. Er hätte ihr damit nur weh getan. Aber er hatte andere Weibchen befragt. Aus allen Clans. Die Antwort war immer ähnlich ausgefallen. Jedes einzelne hatte ihr Kind als ein Teil von ihr beschrieben, der ihr schmerzlich fehlte, wenn er nicht da war. Hoffentlich fiel die Antwort Jannas ähnlich aus.
„Janna“, sprach er das Mädchen an. „Wie ist es für dich, wenn deine Mama nicht da ist?“
Das Mädchen zuckte förmlich zusammen, als sie ihren Namen hörte. Etwas verängstigt zog sie ihre Schultern hoch. „Es ist-…“ Ihr Blick huschte zwischen den Ältesten hin und her, die sie streng musterten. Hatte sie etwas verbrochen?
„Janna“, mischte sich Laryn nun doch ein. Sie ging in die Knie, behielt aber den Abstand bei. „Es ist schon okay. Gib Tirzah eine Antwort.“
Mit großen Augen sah Janna zu Laryn auf. Sie wollte ja, aber das alles hier war so... viel.
Tirzah stand auf und ging die wenigen Stufen von der Empore hinunter. Vor Janna kniete er sich hin. Er brauchte die Antwort von ihr. Von einem unschuldigen Kind, das den ganzen Tumult um diese Sache nur aus eben dieser unschuldigen Sicht aus betrachten konnte. „Janna...“, sprach er sie erneut an, doch dieses Mal bemühte er sich um einen sanften Tonfall. „Sag einfach, wie es dir geht, wenn deine Mama nicht bei dir ist. Es ist wichtig, dass wir das wissen.“
Tirzah schaffte es erfolgreich, die Aufmerksamkeit Jannas auf sich zu ziehen. Für einen Moment schwieg sie noch, doch dann… holte sie tief Luft. „Mir fehlt sie sehr, wenn sie nicht da ist. Pola ist ganz nett, aber ich will lieber bei meiner Mama sein. Es ist einfach nicht dasselbe und vor allem singt sie nicht so wie sie und erzählt mir keine Geschichten, wenn ich schlafen gehe. Bei ihr fühle ich mich beschützt. Papa ist nicht oft da und wenn, dann hat er viel zu tun und kann sich nicht wirklich um mich kümmern...“
„Ich danke dir, Janna“, sagte Tirzah und kehrte auf seinen Platz zurück. „Dir danke ich ebenfalls, Delia. Laryn. Ihr dürft gehen.“ Nun hatten sie die Vertreter der hauptsächlich betroffenen gehört. Mutter und Kind. Es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Diese Angelegenheit hatte lang genug Unruhe ins Volk gebracht. Er wartete noch, bis sich die Tür hinter den Dreien schloss, bevor er mit der Diskussion begann.
Es wurde eine lange Diskussion. Obwohl Delias und Jannas Beitrag einen wichtigen Aspekt beigetragen hatten, waren auch andere Punkte zu bedenken. Es war weit nach Mitternacht, als der Rat endlich zu einer Einigung kam. Inzwischen hatten Tirzahs Kopfschmerzen einen neuen Höhepunkt erreicht, trotzdem hielt er sich aufrecht, als er den Weg nach Hause antrat.
Laryn saß auf dem Bett, die Hände neben sich abgestützt und die Augen geschlossen. Sie würde so gerne schlafen. Einfach nur… schlafen. Warum war sie in letzter Zeit nur so müde? Doch anstatt sich einfach hinzulegen, wartete sie. Sie wollte wach sein, wenn Tirzah nach Hause kam und wenn es sein musste, würde sie auch die ganze Nacht auf ihn warten. Einzig und alleine ihren schweren Augen hatte sie nachgegeben. Als sie die Haustür hörte, öffnete sie sie wieder und kämpfte sich auf ihre Beine. Auf halben Weg trafen sie aufeinander. Alleine die Haltung ihres Gefährten verriet ihr so viel. „Tirzah…“
„Laryn...“ Mit einem tiefen, müden Seufzen schloss er seine Gefährtin in die Arme. Erst nach einigen Momenten, in denen er sich erlaubte einfach nur ihre Gegenwart zu genießen, begann er zu sprechen. „Die Entscheidung ist getroffen“, offenbarte er leise. Selbst seine Stimme zeugte von seiner Erschöpfung. „Morgen, nein, heute früh wird es öffentlich gemacht werden. Die Weibchen, ob Jägerin oder nicht, werden in Zukunft Mitspracherecht haben, was ihre leiblichen Kinder betrifft.“ Das war nicht alles, es gab unzählige Details, die mit daran hingen, doch es war die generelle Entscheidung.
Und sie vergrub sich bei ihm. Die Augen geschlossen, lauschte sie einfach nur seinem Herzschlag. Seine Stimme errettet sie wohl tatsächlich vor dem im Stehen Einschlafen. „Das ist gut“, murmelte sie. Endlich hatte es Delia geschafft. Vielleicht würde sie dann auch viel früher wieder den Weg des Jägers beschreiten? Rhutvak hatte ihr die ganze Zeit zur Seite gestanden und sie wusste, dass Delia wohl nicht nur durch ihre Interessen für ihn interessant geworden war. „Ich bin so müde…“, gestand sie sich selbst leise ein.
„Da bist du nicht allein“, gab Tirzah zu. „Deine Jägerinnen sind wohl recht anstrengend. Und dazu diese ganze Diskussion über die Rechte der Weibchen...“ Er entließ Laryn aus seinen Armen, nur um sie hochzuheben. „Lass uns schlafen gehen.“ Er trug sie einfach in das Schlafzimmer und setzte sie auf dem Bett ab. Eigentlich würde ihm ein heißes Bad gut tun, doch er bezweifelte, dass dies seinen Kopfschmerzen gut tun würde. Und so legte er nur seine Rüstung ab und verkroch sich ins Bett. Alles, was er im Moment noch wollte war, mit Laryn in seinen Armen einschlafen.
Laryn wehrte sich nicht. Sie schlang lediglich ihre Arme um ihn, um es für ihn leichter zu machen. Kaum gesellte er sich zu ihr ins Bett, schmiegte sie sich an seinen Körper. Sie waren nicht einmal richtig zugedeckt, da war sie schon vor Erschöpfung eingeschlafen.
tbc...