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MARIE
1 Jahr zuvor
Der Anfang vom Ende
Ich liebe dieses Geräusch, wenn er nach Hause kommt, ich in unserem Bett auf ihn warte. Ohne Tobias kann ich einfach nicht richtig schlafen. Irgendetwas muss fest in meinem Unterbewusstsein veraankert sein, damit ich sogar in meinem Schlaf seinen warmen Körper neben meinem vermisse. Und auch wenn wir jetzt schon über drei Jahre zusammen sind, so freue ich mich noch immer darauf seine Nähe zu spüren.
Verschlafen drehe ich mich auf die Seite, um meinen Blick auf die Tür zu richten, durch die er jede Minute spazieren wird. Ich höre den Schlüsselbund, den er an den Haken in unserem kleinen Vorraum hängt und schon erblicke ich die Türschnalle, die sich langsam nach unten bewegt.
Doch wie geglaubt ihn, in dem Türrahmen zu erblicken, sehe ich plötzlich eine andere Version. Einen anderen Tobias. Einen, der mir so völlig fremd vorkommt. Dann beginne ich die Worte in dem kleinen weißen Radio wahrzunehmen, der auf seinem Nachtkästchen steht.
„Der heutige Meteoritenabsturz...“
Weiter komme ich nicht mehr, denn ich werde wach und blicke auf die leere Seite meines Bettes. Unseres Bettes. Gänsehaut und Schweiß ziehen sich über meinen Körper und ich kann nicht anders, als nach dem ersten Schock ein Lächeln auf meine Lippen zu legen.
Es ist nicht das Erste Mal, dass ich solche verwirrenden Träume habe. Dieser hier war aber wieder einmal richtig verrückt. Wenn ich daran denke, dass ich wirklich in meinem Bett liege und auf ihn warte, dann hat dieser Traum sich so real angefühlt. Aber was mich noch mehr beschäftigt, ist, dass ich mich bei dem Anblick von einem Tobias, der soviel älter ausgesehen hat, als jetzt, nicht unwohl gefühlt habe. Im Gegenteil. Ich war zwar überrascht. Aber es hat sich für mich so selbstverständlich angefühlt. Dass Einzige, dass mich hätte von der Tatsache, dass es ein Traum war, überzeugen können, war, dass dieser kleine weiße Radio schon seit Monaten nicht mehr existiert und auch kein Ersatz für ihn. Doch es wäre wohl nicht ein Traum, wenn es mich nicht im Nachhinein doch ein klein wenig beschäftigen würde.
Also schließe ich meine Augen wieder und versuche ein wenig Schlaf zu finden und damit das Warten zu verkürzen. Doch ein Klingeln reißt mich aus meinen erneuten Schlafversuch und mein Herz schlägt einige Takte schneller. Wer sollte mich um diese Zeit anrufen? Ja okay. Vielleicht ist es ja Tobias. Noch etwas unkoordiniert greife ich nach dem Handy auf meinem Nachtkästchen und sehe bei einem Blick auf das Display, dass es sich um eine fremde Nummer handelt und es bereits vier Uhr Morgens ist. Tobias wollte nur heute seinen Männerabend voll auskosten und vielleicht ist der Akku seines Telefons am Ende. Also gehe ich mit einem rauen „Hallo“ an das Telefon.
„Miss Benson, entschuldigen sie die späte Störung. Hier spricht Doktor Navajo. Sie sind als Notfallkontakt für Mister Lloyd hinterlegt. Mister Lloyd ist vor einer Stunde in einen Unfall verwickelt worden. Wenn es für sie möglich ist, würden wir sie bitten ins Mikaelsons Hospital zu kommen.“
Dieser eine Moment. Dieser winzige Augenblick. Kaum zu glauben, dass in so einem winzigen Augenblick, alles in einem zerbrechen kann und einem nur noch die Hoffnung am Leben hält. Wie ferngesteuert bringe ich ein leises „In Ordnung“ über meine Lippen und mache mich fertig. Eigentlich habe ich keine Ahnung was ich wirklich mache oder gemacht habe. Denn alles ist wie in einem beschissenen Alptraum. Und ich hoffe wirklich so sehr, dass ich noch träume. Dass ich jeden Augenblick wach werde. Er sich neben mich in mein Bett kuschelt. Ich meine Handfläche auf seine starke Brust legen kann. Er mir einen Kuss auf meine Stirn drückt und mir sagt, dass er mich liebt und mir schöne Träume wünscht.
Doch als ich es irgendwie geschafft habe, in meinen Wagen zu steigen und die wenigen Kilometer bist zu dem Mikaelson’s zu fahren, dort einparke und mich auf dem Weg zu der großen Glastüre mache, wird mir immer mehr klar, dass es kein Traum ist. Dieses Gefühl, dass sich mein Leben in diesem Moment vollkommen verändern wird, übernimmt meine Gedanken immer mehr und mehr.
Mit schnell klopfenden Herzen mache ich mich auf den Weg zu dem Infoschalter, der in dem großen Foyer auf der rechten Seite platziert ist. Dahinter sitzt eine ältere Dame mit hochgesteckten Haaren und blickt mich an, als hätte sie Angst vor mir. Vielleicht auch deswegen, weil es mich einen Dreck gekümmert hat, mir meine langen hellbraunen Haare richtig zu kämmen und ich sie nur zu einem wirren Knoten gebunden habe. Oder aber auch, sie hat mit mir gerechnet und hat Angst mir die schlechten Nachrichten nochmals mitzuteilen.
Schnellen Schrittes gehe ich auf sie zu und bekomme nur ein knappes „Hallo“ über meine Lippen, bevor ich mit dieser einzig wichtigen Frage auf sie losgehe.
„Ich suche Tobias Lloyd. Ich wurde angerufen. Er hatte einen Unfall. Wo ist er?“
Sie tippt irgendetwas auf ihrer Tastatur, bevor sie mich wieder anblickt. Ihre Augen weiten sich und für einen Moment glaube ich, dass sie Mitgefühl hat, doch schneller als geglaubt, legt sie wieder eine Miene von Gefühlslosigkeit auf, bevor sie mir distanziert antwortet.
„Mister Lloyd ist gerade im OP. Sie können aber gerne in den vierten Stock fahren und dort eine der Krankenschwestern fragen. Die werden ihnen eine Auskunft geben.“
Noch immer vollkommen in dieser Trance folge ich mit meinem Blick, ihren Finger, mit dem sie mir die Richtung zeigt und ich auf eine große glänzende Aufzugtür blicke. Ohne noch ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln, mache ich mich auf den Weg. Das Geräusch meiner Schuhe auf dem glänzenden weißen Fliesenboden, ist wohl das Einzige in diesem Foyer, um diese Uhrzeit.
Nervös warte ich auf den Aufzug und quetsche mich sofort zwischen den zwei Schiebeelementen hindurch, um daraufhin gleich die Taste für den vierten Stock zu drücken und die zweite Taste, damit sich die Türen so schnell als möglich wieder schließen. Die Musik, die in diesem Lift ertönt, scheint mich zu verhöhnen. Scheint sich über meine Situation nicht im klaren zu sein. Plötzlich überkommt mich eine Wut, wieso man in einem Krankenhaus, wo ständig irgendwelche schlimmen Sachen passieren, Musik spielt, die einem an einen Eiswagen und an einem heißen Sommertag erinnert.
Das Klingeln, als ich mein Ziel endlich erreichte habe, erlöst mich von meiner Wut. Kaum haben sich die Türen geöffnet, steige ich aus dem Lift und halte Ausschau nach einer Krankenschwester. Keine Sekunde später, erblicke ich eine gestresst wirkende schwarzhaarige Frau, die in einem dieser weißen Kittel herumläuft. Ich laufe auf sie zu und bin vollkommen außer Atem, als ich sie erreiche und die Worte aus mir heraussprudeln.
„Was ist mit Tobias?“
Für einen Moment blickt sie mich an, als würde sie mich gleich wieder hier rauswerfen. Doch dann legt sich ein wissender, mitleidiger Ausdruck auf ihre Züge.
„Sie müssen Miss Benson sein. Doktor Navajo hat sie vorhin angerufen. Leider kann ich ihnen noch nichts Genaueres sagen. Mister Lloyd.“ Sie merkt, dass ich bei diesem Namen zusammenzucke und spricht etwas ruhiger weiter, bevor sie mir ihre Handfläche auf die Schulter legt und mich zu einem der Stühle führt. „Also, Tobias, er wird gerade im OP versorgt. Doktor Navajo ist der operierende Arzt und seien sie sich sicher, er ist der Beste. Er wird alles tun, um Mister Lloyd, Tobias wieder auf die Beine zu bringen.“
„Was ist passiert?“
Wie von ihr koordiniert setze ich mich auf einen der Stühle. Für einen Moment glaube ich, dass ich sie erleichtert ausatmen gehört habe, bevor sie weiterspricht.
„Wir wissen wirklich noch nichts Genaueres. Er wurde vor über einer Stunde mit dem Krankenwagen eingeliefert und war soweit ich weiß in einem Taxi unterwegs. Irgendwie, ist der Wagen von der Fahrbahn abgekommen. Leider war er nicht bei Bewusstsein, als er eingeliefert wurde.“
Sofort kommen mir die anderen in meinen Kopf. Er war mit Joseph, Paul und Thomas unterwegs. Was wenn einen von ihnen auch etwas passiert ist?
„War noch jemand bei ihm?“
Eigentlich will ich es gar nicht wissen, denn wenn sie jetzt einen der Namen nennt, dann werde ich auch noch auf diesem Stuhl zusammenbrechen. Denn sie sind auch meine Freunde und Thomas auch noch mein Bruder. Niemals könnte ich es verkraften. Ich verkrafte ja kaum diese Situation. Ich halte nur deswegen durch, weil ich nicht daran glauben will, dass Tobias mich im Stich lässt. Er darf es nicht und er hat es mir so oft versprochen.
„Nur der Taxifahrer.“ Auf ihre Züge legt sich ein trauriger Ausdruck und ich kann nicht anders, als sie fragend aber zugleich auch erleichtert anzublicken. „Er war leider auf der Stelle tot.“
Dieses Wort. Dieses eine letzte Wort. Ich hätte es nicht hören dürfen. Sie hat es ausgesprochen und auf einmal scheint alles auf mich einzuprasseln. Das erste Mal seit der Nachricht laufen Tränen über meine Wangen. Der Unfall ist so schlimm gewesen, dass einer der Beiden tot ist und Tobias liegt noch immer im OP. Ich will und ich kann mir nicht vorstellen, welche Verletzungen er davon getragen haben muss. Ich kann nicht noch einen Menschen verlieren. Er muss bei mir bleiben.
Ich höre mich nur dumpf mit „Thomas“ antworten, als sie mich fragt, ob ich nicht irgendjemanden anrufen könnte. Wie ferngesteuert nehme ich mein Telefon aus der Tasche und wähle seine Nummer. Auch wenn es eine mehr als nur außergewöhnliche Situation ist, so habe ich dennoch ein schlechtes Gewissen, ihn um diese Uhrzeit aus dem Bett zu reißen. Wenn, er denn überhaupt schon in einem Bett liegt. Nach einem endlosen langen Moment, indem ich hoffe, dass er sich am anderen Ende der Leitung meldet, höre ich ein heiseres „Hi Marie“.
Leise und unsicher bringe ich die Worte über meine Lippen und plötzlich fühlt es sich noch realer an, als ich sie ausgesprochen habe.
„Tobias. Er...er hatte einen Unfall. Ich bin im Mikaelson’s.“
Ich höre nur mehr ein „Bin gleich da“ bevor ich ein Rascheln wahrnehme und er den Anruf beendet. Vor mir laufen ein paar Frauen in den weißen Kitteln vorbei. Ich beobachte mit schmerzenden Herzen, wie die Zeit an mir vorbeiläuft, während ich darauf warte, dass ich meine Liebe wieder bekomme. Dass er mir dieses Lächeln schenkt, dass er mir am ersten Tag, als er mich gerettet hat geschenkt hat. Dieses Lächeln, dass all die Sorgen, all den Kummer und all das Böse vertreibt und nur noch ein Gefühl von Liebe hinterlässt. Ich werde von einer männlichen Stimme hochgerissen und blicke daraufhin in die braunen Augen der großen Gestalt vor mir.
„Thomas.“
Erleichtert stürze ich mich in seine kräftigen Arme, die mich sofort umschließen und dieses Gefühl der Verzweiflung für einen winzigen Moment verschwinden lassen. So wie immer, wenn er in meiner Nähe ist. Er hat immer auf mich aufgepasst und hat immer versucht, alles Schlechte von mir fernzuhalten. Ich bin so froh, dass ich ihn als großen Bruder habe und habe so sehr gehofft, er würde die Traurigkeit etwas lindern. Doch als seine Hände mich loslassen, kehrt diese Verzweiflung wieder zurück. Die eingetrockneten Tränen auf meinen Wangen werden wieder aufgefrischt von neuen, die aber Thomas sogleich mit seinen Fingern wegwischt und mich wieder zurück zu meinem Platz führt.
„Er ist zäh. Es wird alles wieder gut Marie. Du bleibst hier und ich werde versuchen, etwas herauszufinden. Okay.“
Stumm nicke ich, bevor er mir einen Kuss auf den Scheitel drückt und seine Schritte durch den langen Gang hallen.
Ich weiß nicht, wie lange ich nun hier gesessen habe, bis ich die Stimme von ihm erneut höre und er mich an meiner Hand nimmt.
„Sie haben gesagt, du kannst zu ihm.“
Erleichtert und dennoch mit einer ungewöhnlichen Angst, folge ich Thomas den Gang entlang zu einer weißen Tür. Ich will schon meine Hand auf die Türklinke legen, bevor er mich nochmals ansieht und sich nun ein Ausdruck auf seine Züge legt, der mich am ganzen Körper erstarren lässt.
„Marie. Ich kann hier nicht mit dir gehen. Es darfst nur du hinein. Aber bitte vergiss nicht, dass Wunden heilen. Das weißt du selbst nur zu gut. Egal wie er aussehen mag. Seine Wunden werden genauso heilen, wie die deinen.“
Bei diesen Worten kann ich nicht anders, als daran zu denken, wie Tobias mir an diesem Tag, dass Leben gerettet hat. Er hat mich aus diesem Wagen gezogen und ist bei mir geblieben. Er hat mich nicht alleine gelassen. Selbst dann nicht, als ich aufgehört habe zu atmen. Er hat mich wieder zurück geholt ins Leben und hat jeden Tag neben meinem Bett verbracht und darauf gewartet, dass ich wieder aufwache. Und das bin ich. Ich bin aufgewacht. Und er wird ebenfalls aufwachen und dieses Mal werde ich ihm dabei helfen, wieder auf die Beine zu kommen.
Also öffne ich mit aufflammender Hoffnung die Türe, um daraufhin eine Welle des Schmerzes zu spüren, bei dem Anblick, der sich mir bietet.
Schläuche in seinem Mund. Verbände an seinen Händen. Tiefe Wunden in seinem Gesicht. Blaue Flecken auf seiner Haut und das leise Piepsen der Maschine neben seinem Bett. Und in diesem einzig kleinen Moment habe ich soviel Angst. Denn dieses Gefühl, dass es nicht mehr so sein wird, wie vorher, lässt mich nicht los.
Langsam lege ich meine Finger auf seine Hand. Vorsichtig und mit Bedacht, um ihm keine Schmerzen zuzufügen. Dann lasse ich mich auf dem Stuhl neben ihm nieder und beginne nun den Tränen freien Lauf zu lassen und sie wie Bäche über meine Wangen stürzen zu lassen.