Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Die ersten Blätter an den hohen Baumwipfeln begannen, sich ihres satten Grüns zu entledigen und sich in ihr farbenprächtiges Abschiedsgewand zu hüllen. Noch wärmte die Sonne und die Vögel in den Wipfeln sangen ihr mal melancholisches, mal ausgelassenes Konzert. Doch Zeichen der Veränderung waren bereits deutlich zu erkennen. Ab und zu löste sich ein Blatt und trat, träge segelnd, seinen Weg zu Boden an, um im Winter zu schützen, was in der Erde überdauerte und einst wieder zum Vorschein kommen würde.
Das Maultier zuckte nur kurz mit seinen langen Ohren, als eine Kastanie an einem Ast über ihnen den Halt verlor, abstürzte und auf dem Pfad aufschlug. Das Tier hatte seinen Reiter, einen jungen Mann von zwanzig Sommern, brav und bedächtig über den Montazíel getragen, durch tiefe Schluchten und über schmale Pässe. Seine Reise war weit und anstrengend gewesen, hatte mehrere Monde in Anspruch genommen und ihn schließlich hierher gebracht, in eine vertraute Gegend, die er seit einigen Wintern nicht gesehen hatte. Sein Weg würde ihn bald noch weiter führen, den Fluss entlang, weiter nach Norden, in seine Heimat. Diesmal, das hatte er beschlossen, würde er zum Meer reisen, um seinen rechtmäßigen Platz in Anspruch zu nehmen. Er hatte als Student die Annehmlichkeiten, Errungenschaften und die Kultur von Ivaál und Aurópéa geschätzt, glanzvollen, großartigen Orten südlich des Gebirges. Ihm war klar, dass sein Lebensweg ihn nun von Komfort, Kunst und Geistesleben zurück in die Provinz führte. Doch er war sicher, das Richtige zu tun. Das Richtige zur rechten Zeit. Aber zuvor hatte er noch eine wichtige Sache zu bestehen. Wenn ihm nur kein Missgeschick unterlief! Zu viel stand auf dem Spiel.
Für das brave Maultier war der junge Mann den Mächten dankbar, denn ein ungestümes Ross hätte er nicht zügeln können. In seiner Kindheit hatte etwas seine linke Schulter zuschanden gemacht, und es war nie gänzlich geheilt. Zwar konnte er Arm und Hand bewegen, doch das nur mit verminderter Kraft.
Weitere Kastanien polterten zu Boden. Eine traf mit stacheliger Schale die Kruppe eines der Pferde, das scheute und sich so rasch in Bewegung setzte, dass sein Reiter, ein vendyr, ein wohlhabender Kaufmann aus Forétern, sich gerade noch auf seinem Rücken halten konnte. Einer der drei Betreuer der Reiseschar, der neben dem jungen Mann geritten war, seufzte auf und galoppierte seinem Kunden nach. Nicht zum ersten Mal machte dieses Tier Ärger. Sehr wahrscheinlich würde sein Besitzer die nächstbeste Gelegenheit nutzen, es gegen ein zuverlässigeres Reittier einzutauschen, für einen guten Gewinn natürlich. Warum auch nicht? Der Rappe war ein feines, heißblütiges Ross, das mit etwas Ausbildung und einem geschickten Reiter einiges hermachen würde. Bedauerlicherweise konnte sein derzeitiger Herr beides nicht leisten.
Der junge Mann beobachtete mit beiläufigem Interesse, wie der Scharbegleiter das Pferd mit seinem schimpfenden und klagenden Herrn wieder einfing und zur Gruppe zurückführte.
„Herr“, schlug der Mann dabei langmütig vor, „wollt Ihr das Ross nicht besser an den Karren binden und selbst bequem fahren?“
„Was? Auf dem Lastkarren? Was fällt dir ein? Was sollen die Leute denken!“
„Niemand wird es sehen, solange wir diesen Wald durchqueren. Sobald wir in Sichtweite des nächsten Dorfes sind, könnt Ihr gleich wieder in den Sattel.“
„Unfug.“
„Aber wenn Ihr stürzt und Euch verletzt, haltet Ihr den ganzen Zug auf!“
Der vendyr winkte ungeduldig ab. Für den Moment schien sein Pferd ihm wieder zu Willen zu sein. Wie lange dieser Zustand vorhalten mochte, war jedoch nicht absehbar.
„So viel Geduld hätte ich nicht“, murmelte der forscor [≈ „wissenschaftlicher“ Gelehrter] aus Ivaál, der neben dem Studenten ritt. „Eine Zumutung. Sie sollten besser darauf achten, dass die Leute dazu in der Lage sind, mitzuhalten.“
„Ich glaube nicht, dass sie die Wahl haben“, antwortete der junge Mann unverbindlich. „Und das Geld des einen ist so gut wie Eures oder meines.“
„Das Geld fällt nicht von den Bäumen wie die Kastanien“, erwiderte der mestar [≈ Lehrer], der das mitgehört hatte. Sein stämmiges Pferdchen trottete unbeeindruckt hinter ihnen. Seit er im yarlmálon [≈ Gebiet eines yarl (≈ hochedler Adliger)] Lebréoka zu ihnen gestoßen war, hatte der ältere Mann das Gespräch mit dem forscor gesucht, dem er sich geistig gewachsen zu fühlen schien. Leider wurden beide früher oder später stets uneins über hochgeistige Lehrsätze, aber ein gemeinsames Ärgernis einigte die beiden. „Die Scharbegleiter müssen zusehen, wie sie sich ihr Einkommen sichern.“
„Das wird sich ändern, sobald sich herumspricht, wer seine Kundschaft im Griff hat und wer nicht. Von mir bekommen die hier allemal keine Empfehlung mehr. Was meinst du, Bursche?“
„Ich denke“, sagte der junge Mann mit so unbewegter Miene, dass man seine Belustigung nicht gewahrte, „es reicht ihnen, ihr Geld zu bekommen.“
Der vendyr, der bemerkte, dass über ihn gesprochen wurde, runzelte wütend die Stirn. „Euch wäre es wohl lieb, wenn Euch jemand persönlich in einer Sänfte herschleppte, was?“
„Macht Euch nicht lächerlich! Ich bin kein neureicher Emporkömmling aus Aurópéa, der Menschen als Lastträger ausbeutet. Ich kann mir mein Pferd leisten. Und es lenken!“
„Das ist in der Tat zum Staunen“, lästerte der vendyr. „Ein weiter Schritt vom Pult in den Sattel. Das wird mir in Virhavét niemand glauben, dass es so eine Merkwürdigkeit gibt.“
„Was soll das heißen?“
„Nun, mir war, als wären die forscoray zur Genüge damit beschäftigt, wilde Mutmaßungen über hanebüchenes Zeug zu erdenken, statt hoch zu Roß durch das Weltenspiel zu gaukeln!“
„Was erlaubt Ihr Euch? Ich bin in hehren Aufgaben unterwegs!“
„Mit haarsträubenden Narreteien meint Ihr.“
„Wovon redet Ihr?“
„Über den Ghelazia-Durchlass. Was haben wir gelacht in Forétern, als wir davon hörten!“
Der forscor errötete, weniger aus Verlegenheit als vor mühsam unterdrücktem Zorn. Der junge Mann war überrascht. Offenbar fühlte der Gelehrte sich ertappt. Kein Wunder, dass er über das Ziel seiner Reise nur vage geschwafelt hatte, und auch jetzt schnappte er nur: „Geht’s Euch etwas an?“.
„Es gibt keinen Beweis dafür, dass es den Ghelazia-Durchlass gibt!“, mischte sich der mestar ein.
„Es gibt erst recht keinen dafür, dass es ihn nicht gibt!“, schnauzte der forscor. „Es fehlt nur ... es ...“
„Ja?“, fragte der vendyr gespannt.
„Nun, es müsste jemand ... nachschauen.“
Nun lachte der vendyr so lauthals, dass andere Mitreisende aufmerksam wurden. Der forscor runzelte die Stirn. Hätte er ein Tintenfass oder ein Schreibbrett zur Hand gehabt, hätte es dem Kopf des Kaufmanns gefährlich werden können.
Der mestar wandte sich dem jungen Mann zu. „Und? Was meinst du dazu?“
„So merkwürdig wird man es in Virhavét nicht finden“, antwortete der unbewegt. „Dort kennt man sowohl Pferde als auch Gelehrsamkeit.“
„Machst du dich lustig? Ich meine doch die Theorie, wonach es diese mysteriöse Passage geben soll.“
Der Student hob seine unversehrte Schulter. Die Gelehrten disputierten schon seit vielen Wintern über die Idee, ob es durch die Eislande von Ghelazia im Osten des Montazíel möglicherweise eine unterirdische Verbindung in den Westen gab. Mehrheitlich hielt man das für hanebüchenen Blödsinn, für ein Hirngespinst von Wirrköpfen, die ein paar geistige Getränke zu viel genossen hatten. Wohlwollende gingen von einem äußerst elaborierten Scherz aus. Offenbar gab es hier und dort immer wieder ernsthafte Versuche, teiranday [≈ adlige Herrscher] oder sehr wohlhabende vendyray dazu zu bewegen, Expeditionen zu finanzieren und auszurüsten. Das Interesse potenzieller Geldgeber war mäßig, was den jungen Mann nicht sonderlich wunderte. Ohne einen Beweis würde sich niemand auf die Geschichte einlassen.
Er zögerte kurz, ob er eine Stellung dazu beziehen sollte. „Solange niemand nachschaut, wird es niemand wissen“, sagte er dann unverbindlich. „Entschuldigt mich. Ich habe nicht die Befähigung, hier mitzureden.“
In Wahrheit hatte er keine Lust darauf, sich das Gezanke erneut anzuhören, das immer lauter und leidenschaftlicher wurde und an dem sich nun noch mehr Mitreisende beteiligten, zum Teil aufseiten des vendyr, zum anderen und zum Scherz auf der des forscor. Er ließ sich mit seinem unerschütterlichen Reittier fast bis an das Ende der kleinen Reisegesellschaft zurückfallen. Der Anführer der Reiseschar, ein stämmiger Mann mit fliehendem Haar und struppigem Vollbart, ritt an ihm vorbei und schaute unglücklich drein. Wahrscheinlich hatte er lange keine derart anstrengenden Kunden gehabt, die so viel Unruhe in die Gruppe brachten.
Die drei Scharbegleiter und den Karrenlenker mitgerechnet, waren sie ein Dutzend Personen auf dem Weg nach Norden, darunter eine Dame mit einem jungen Mädchen im elften Sommer, Tante und Nichte. Das Mädchen sollte zu Verwandten westlich des großen Flusses reisen und hatte offenbar nicht die geringste Freude daran. Immerhin gab sie die Freuden und den Luxus damit auf, die sie im teirandon Pianárdent genossen hatte. Wie der junge Mann wusste, planten die Damen, in der Burg der Familie Altabete mit einem Verwandten zusammenzutreffen und die Reise gemeinsam fortzusetzen.
Die Dame und die mürrisch dreinblickende fánjula ritten hinter dem Gepäckwagen und schwiegen sich an. Die Dame hatte es nicht leicht mit den Launen des Mädchens und schien erfreut darüber, dass er sich zu ihnen gesellte. Er vermutete, dass sie es auf der Reise vermisste, höfliche Gespräche zu führen. Ein artiger und kultivierter Gesprächspartner kam ihr da gerade recht.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich ihr noch sagen soll“, klagte sie dem Studenten ihr Leid. „Sie ist nie zuvor bei meinem Bruder in Antroevére gewesen und lässt sich nicht davon abbringen, wie schrecklich dort alles sei!“
Er ließ die Zügel los, nahm seine Brille ab und zückte ein Tüchlein, um die Gläser zu entstauben. „Antroevére ist ein sehr guter Ort“, erklärte er, der Frau zugewandt aber doch so, dass er sich sicher sein konnte, dass das Mädchen ihn hörte. „Eine reizvolle Gegend in guter Lage. Soweit ich unterrichtet bin, entsteht gerade ein Flusshafen mit einem großen Marktgebäude nahebei. Es wird sich in den nächsten Sommern einiges tun.“
„Ja, in der Tat. Der Rífluír scheint als Handelsroute immer interessanter zu werden, seit es diese neuen Lastkähne gibt, die sie jetzt in Virhavét bauen.“
„Ganz recht.“ Dass er einer derjenigen war, der vor einigen Wintern an den Entwürfen des Bootsbauers mitgewirkt hatte, wenn auch nur beim Rechnen und Kalkulieren, verschwieg er.
„Außerdem“, fuhr er fort, „kommt Ihr gerade zur rechten Zeit in Altabete an. Zum Herbstmond findet in Wijdlant das große vasposár [≈ großes Turnierfest] für Manjév von Wijdlant und Spagor statt. Ein prunkvolles Fest wird das werden, wie es einer jungen teirandanja [≈ Jungherrscherin] gebührt. So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Ihr werdet doch dabei sein? Oder hat Euer Bruder es eilig mit der Weiterreise auf die andere Seite des Rífluír?“
„Ich brenne darauf. Mein Bruder hat unsere Reise gerade so geplant, dass wir diesem Ereignis beiwohnen können. Ob sie“, die Dame warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Mädchens, das sich alle Mühe gab, sein Interesse zu verbergen, „sich dazu herablassen kann, uns zu begleiten, kann ich nicht sagen. Ihr ist alles zu gering, wie es schient.“ Die Dame lachte verlegen. „Und dabei sollte man annehmen, die jungen Leute seien ganz versessen auf so ein großes Fest!“
„Das wäre aber schade“, sagte er. „Ich hätte ihr sonst meine Schwestern vorstellen können. Die jüngere kommt ihr im Alter nahe. Sicher würden sie sich vorzüglich verstehen.“
Das Mädchen war höflich genug, nicht die Nase zu rümpfen.
„Du verlässt uns am Abend?“, fragte die Dame. „Ich hörte dich gestern so zum Scharleiter reden.“
„Ja. Ich werde in der Herberge an der Straße nach Altabete noch mit Euch übernachten und am Morgen allein weiterziehen. Ich werde in Wijdlant auf der Burg erwartet und will den Weg querfeldein abkürzen, ohne den Umweg über Altabete zu machen.“
„Ganz allein?“, fragte das Mädchen unvermittelt.
„Ach? Du redest doch noch mit uns?“
„Ich kenne mich gut aus“, sagte der junge Mann. „Von der Herbergsstation geht es immer geradeaus. Auf der Strecke passiert mir nichts.“
„Bist du auch beim vasposár?“
„Davon gehe ich aus.“
„Der da hinten“, sagte das Mädchen und deutete mit einer Kopfbewegung ganz ans Ende der Nachhut, „der will auch nach Wijdlant. Hat er zum Scharleiter gesagt, ich hab es gehört. Vielleicht will der auch zum vasposár. Ist die teirandanja schön?“
Der junge Mann setzte seine Augengläser wieder auf und schaute sich um. Der Genannte war erst in der letzten Herberge vor dem Montazíel zu ihnen gestoßen, an der Nordgrenze der Heide von Hethrom. Wortkarg und düster war er, ein Mann mittleren Alters in unauffälliger Gewandung, die weder Rückschlüsse auf seinen Stand noch seine Herkunft erlaubte. Der Student hatte ihn nie mit einem der anderen Reisenden reden hören, nur das Notwendigste schien er mit den Scharführern zu besprechen. Nun, das war seine eigene Angelegenheit. Vielleicht war er in einer sensiblen privaten Sache unterwegs.
„Sie ist liebreizend und klug“, erklärte er dem Kind zerstreut. „Ihre Schutzbefohlenen und Gefolgsleute lieben sie sehr.“
„Und wird sie bei dem vasposár einen hýardor [≈ Gefährten] auswählen?“
„So die Mächte ihr den richtigen schicken, wird sie ihn finden, natürlich.“
„Ob sie ihn bereits kennt?“, überlegte die Dame.
„Das ist nicht auszuschließen.“
„Wie in den Geschichten vom Smaragdritter und der Rosendame“, sinnierte das Mädchen, sehr zum Entsetzen seiner Tante.
„Woher kennst du diese ... Geschichten? Hat deine Mutter dich das lesen lassen?“
„Aber Tante! Alle lesen diese Bücher!“
Der Student versuchte, seine Ohren vor dem folgenden Streit der beiden um züchtige Literatur und jugendlichen Geschmack zu verschließen, war aber rasch abgelenkt. Vorne wurden Stimmen lauter. Der Disput zwischen dem vendyr, dem forscor und dem mestar hatte sich aufgeschwungen. Das Pferd des vendyr tänzelte bei dem hitzigen Wortgefecht so nervös herum, dass der berittene Scharführer und sein Gehilfe es nicht wagten, sich weit zu entfernen. Der Lenker des Gepäckkarrens grinste.
Der Wald begann, sich langsam zu lichten. Sie hatten die Straße entlang der Grenze zwischen den yarlmálon Tjiergroen und Grootplen erreicht; nicht die schnellste Verbindung in nördlicher Richtung, aber die einzige, die für einen schweren Karren bequem zu befahren war, denn zwischenzeitlich hatte man den Weg an den schwierigen Stellen befestigt. Eigentlich hätte er bereits jetzt mit seinem Maultier querfeldein abkürzen können, aber auf das Packtier, das in der Herberge für ihn bereitstehen sollte, und auf sein Gepäck konnte er nicht verzichten. Das reiste in dem Karren, der nun ganz offenbar die Begierde einer Räuberbande erregt hatte. Jedenfalls war die Vorhut, der dritte Scharbegleiter mit einem Teil der Gäste, plötzlich zum Halten gekommen. Die Streithähne bemerkten das nicht rechtzeitig, und ausweichen oder drehen konnte der Wagen nicht. Und so staute sich der kleine Reisezug vor den drei berittenen Bewaffneten auf, die wie aus dem Nichts zwischen den Bäumen hervorgekommen waren und mit ihren Pferden den Weg versperrten.
„Bei den Mächten“, wisperte die Dame und das Mädchen stieß einen unterdrückten spitzen Schrei aus, als es die Reiter bemerkte.
„Haltet an!“, rief einer der drei und hob seine Hand, mit der er einen Spieß hielt. Seine Stimme klang dumpf, denn er trug einen Beutel aus grobem Sackleinen über dem Kopf, in den lediglich kleine Sehschlitze für die Augen geschnitten waren. Ähnlich primitiv waren er und seine Kumpane verkleidet: Alle drei hatten sich alte Säcke übergestreift, die grobe Öffnungen für Kopf und Arme hatten. Ihre Pferde - ein Rappe und zwei Braune – waren ungesattelt, aber das Zaumzeug war von erlesener Qualität.
Der Scharführer wandte sich seinen Kunden zu. Die Sache schien ihm aus mehreren Gründen peinlich zu sein, hauptsächlich deswegen, weil er ihnen absolut sicheres Geleit über eine Wegstrecke versprochen hatte, in der es seit mehreren Sommern nicht mehr zu Überfällen gekommen war. „Bleibt ruhig!“, riet er. „Das werden wir sicher friedlich lösen können!“
„Meine Ware bekommt ihr nicht!“, sagte einer der vendyray, der an der Spitze des Zuges mit geritten war.
„Was für Ware?“, fragte der größte der drei Räuber, dem seine Sackgewandung knapp auf den breiten Schultern saß, ebenso interessiert wie einschüchternd. Bewaffnet war er mit einer Axt, die scharf geschliffen aussah.
„Feine … feine Stoffe aus Forétern“, stammelte der vendyr. „Man … erwartet die Ware.“
„Wer wartet?“ Der mit dem Spieß deutete auffordernd mit dem spitzen Ende auf den Tuchhändler.
„Die teirandanja von Wijdlant“, brachte dieser hervor.
Die drei Räuber wechselten kurze Blicke.
„Malvenfarben“, meinte der, der auf dem Rücken des Rappen saß. „Jede Wette.“
„Behaltet die Ruhe“, kam es von dem Dritten, der ebenfalls einen Spieß führte. „Wir interessieren uns nicht für Euren Kram.“
„Nein, in gar keiner Weise. Wir wollen doch die Geschäfte in diesem schönen teirandon und darüber hinaus nicht schädigen. Wollen wir doch nicht, oder?“
Das bekräftigten die beiden anderen.
„Dürfen wir dann vielleicht … weiterfahren?“, erkundigte sich der Scharführer vorsichtig.
„Nicht so voreilig.“ Der erste wendete sein Pferd so, dass es quer auf dem Weg stand. „Dann hätten wir euch nicht anhalten müssen.“
„Ja. Wir interessieren uns nicht für euer Gepäck oder eure Handelsware“, bestätigte der zweite und ritt mit prüfendem Blick hinter seiner behelfsmäßigen Maske an der Reisegruppe und dem Wagen entlang. Als er den vendyr aus Forétern passierte, sagte er anerkennend: „Nettes Pferdchen. Ein Feuerblut aus Ivaál?“
„Aus Forétern ...“, stammelte der vendyr.
„Denk gar nicht dran!“, mahnte der Räuber mit der Axt seinen Kumpan. „Wir brauchen keine Pferde und schon gar keinen Stoff für ... Weibergewänder.“
Der Mann auf dem braunen Pferd zuckte ertappt zusammen und ritt dann weiter, gemächlich an der Gruppe vorbei.
„Was wollt ihr dann von uns?“, fragte der forscor. „Was soll dieser Unfug?“
„Wir geben uns nicht mit feinen Stoffen, guten Pferden oder solchem Tand ab“, sagte der dritte, der auf seinem Rappen an der anderen Seite des Weges an ihnen entlang ritt und die Reisenden musterten. „Schließlich habt ihr etwas viel interessanteres dabei.“
„Und du, lass das bleiben!“, sagte der andere scharf und hob seinen Spieß gegen den Reisenden aus Hethrom, der die Hand am Schwert hatte, es aber noch nicht weit gezogen hatte.
„Was mich betrifft“, entgegnete der Mann heiser, „werde ich mein Leben verteidigen. Ihr seid in der Unterzahl, ihr Narren! Und ihr, ihr anderen, was hindert euch, die Kerle hier von ihren Gäulen zu holen? Seid ihr Männer oder nicht?“
Der Breitschultrige mit der Axt hob die Hand. „Gemach. Oder wisst ihr, wie viele von uns sich hier ringsum versteckt halten und uns zur Hilfe kämen, wenn einem von euch das Temperament durchgeht?“
Der Mann aus Hethrom fand sich im Fokus erwartungsvoller Blicke, sowohl der Mitreisenden als auch der Wegelagerer. Dann steckte er sein Schwert wieder ein.
„Brav“, sagte der mit dem Rappen. „Und nachdem das geklärt ist … ihr fragt euch zu Recht, was unser Begehr ist. Nun … es hat sich herumgesprochen, dass unter euch einer ist, für den einige Leute ein stattliches Sümmchen zahlen würden.“
„Hier sind wohl einige dabei, für die das lohnen würde“, fuhr der auf dem Braunen fort und steuerte auf die Dame und ihre Nichte zu. Die Dame griff nach der Hand des Mädchens, das nun nicht mehr mürrisch, sondern voller Panik war. Als er näher kam, streifte der wasserhelle Blick des Räubers den des Studenten, als er sein Pferd vor diesem zum Stehen brachte.
„Wir machen es spannend“, sagte der Blauäugige und wirbelte lässig seinen Spieß um seine Hand. „Wir suchen … einen Mann. Einen Mann aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie. Man hört, er sei eine ganze Weile nicht in der Gegend gewesen.“
„Ganz recht“, sagte der mit der Axt. „Wisst ihr, es gibt hier eine ganze Reihe von Leuten, die die eine oder andere Sache mit dem feinen Herrn zu klären haben. Weit weg ist er gewesen, hat ein paar edle Herren und sogar einige Damen allein gelassen und sich anderswo ein schönes Leben gemacht.“
„Schöne Gewänder trägst du da“, sagte der auf dem Rappen, der die Gruppe umrundet hatte und berührte mit der Spitze seines Spießes den Ärmel des jungen Mannes.
„Jeder, der hier den zwanzigsten Sommer überschritten hat, kann aufatmen. Und die Damen natürlich auch“, fuhr der Blauäugige fort.
„Damit bleibt ihr beide übrig.“ Der Rappenreiter wandte sich dem Scharbegleiter zu, der das nervöse Kaufmannspferd eingefangen hatte. „Aber du scheinst mir kein hochedler yarl zu sein.“
„N… nein, “ stieß der Jüngling hervor. „Ich bin aus Enimár, östlich jenseits des Montazíel.“
„Fein. Dann kannst du gleich passieren.“ Der Rappenreiter klang deutlich belustigt unter seinem Sack. „Ach schaut, dann bleibt ja nur noch der hier übrig!“
Der Student fühlte nun zwei Spießspitzen, eine am Arm, eine im Rücken. Sein Maultier ignorierte unbeeindruckt die Rösser, die ihm deutlich zu nahe waren. Der junge Mann seufzte tief. So kurz vor dem Ziel war er gewesen.
„Sag an, Eulengesicht“, fragte der Rappenreiter. „Bist du ein hochedler yarl oder nicht?“
Der junge Mann nickte ergeben.
„Sprich lauter! Ich höre dich hier vorne nicht!“
„Ja. Ja, ich bin ein yarl. Ich bin Osse Emberbey, Sohn von Alsgör Emberbey, dem mynstir [≈ yarl mit Berateramt] des teirand Asgaý von Spagor.“
Dieses Geständnis löste überraschtes Raunen und Tuscheln aus. Den ganzen weiten Weg hatte jeder aus der Weggesellschaft den jungen Mann für einen bescheidenen Studenten aus Ivaál gehalten. Osse Emberbey schaute sich schuldbewusst um. Sie alle schienen nun darüber nachzurätseln, was diese Geheimniskrämerei zum Ziel gehabt haben mochte. Warum er unerkannt unter ihnen gereist war statt standesgemäß mit eigenen Begleitern. Was er zu verbergen hatte.
Nur der Mann aus Hethrom – dem schien es egal zu sein. Nun, vielleicht war er noch zu beschämt.
„Dann nehmen wir den hier mit“, sagte der Hüne mit der Axt. „Hat er euch die Reise bereits entlohnt?“
„Bis auf die letzte Etappe“, sagte der Reiseführer verdattert.
Der auf dem Braunen kramte mit der linken Hand in seiner Börse, ohne seinen Spieß loszulassen. Dann warf er dem Mann eine Silbermünze zu. „Die spendiere ich. Schließlich kommt er nicht freiwillig mit uns mit. Da soll er nicht noch Geld verschwenden.“
„Hast du viel Gepäck, Eulengesicht?“, fragte der mit dem Rappen.
„Zwei kleine Truhen. Und einen Stapel Pergamentrollen“, antwortete der junge Mann gefasst.
„Ladet das ab. Und dann verschwindet so schnell wie möglich und vergesst, dass wir hier gewesen sind.“
„Aber …“, begehrte das Mädchen auf, während sich die drei Scharführer und der Wagenlenker eilig daran machten, im Karren nach der Habe des jungen Mannes zu suchen. „Tante! Die können ihn doch nicht einfach mitnehmen!“
„Natürlich können wir das, liebreizende fanjulá“, sagte der Rappenreiter. Man konnte hören, dass er unter seiner Sackmaske hohnlächelte. „Wir nehmen ihn mit in unser Lager und passen gut auf, das er keinen Schritt mehr ohne uns macht.“
„Aber ihr tut ihm doch nichts an?“, entsetzte das Kind sich. Seine Tante versuchte hastig, es zum Schweigen zu bringen.
„Nicht viel“, beruhigte der Rappenreiter. „Ein bisschen vielleicht. Aber keine Sorge. Den Kopf lassen wir dran. Den braucht er noch.“
Der Blauäugige gab ein tadelndes Schnauben von sich, und sein Kumpan räusperte sich. Das Kind machte große Augen, und die Dame schnappte nach Luft.
„Das werdet ihr bereuen!“, entdeckte der mestar plötzlich seinen Mut. „Der hiesige yarl wird euch dafür zur Rechenschaft ziehen!“
„Unwahrscheinlich“, antwortete der Breitschultrige mit der Axt. „Der erwischt uns nicht.“
„Ihr werdet das büßen!“, murrte der Scharführer. „Hier so einfach den Hauptweg unsicher zu machen! Die Strecke galt als sicher!“
„Wenn ihr uns vergesst und einfach Gras über den kleinen Vorfall wachsen lasst, wird die Strecke weiterhin sicher bleiben“, versprach der Blauäugige. „Wir wollen nur den hier von der Straße weg haben.“
„Damit kommt ihr nicht weit! Ihr ...“
Osse Emberbey atmete tief ein. Nun, da seine Tarnung aufgeflogen war, fühlten sie sich alle verpflichtet, den Schurken zumindest der Form halber Widerworte zu geben. Niemand würde sich nachsagen lassen wollen, ihm, dem yarl, den Hochedlen, nicht zumindest tugendhaft Beistand geleistet zu haben. Aber damit verschlimmerten sie seine Lage nur. „Es ist alles in Ordnung“, sagte er daher so laut, dass alle es hören konnten. „Ich weiß wohl und sehr genau, was diese forschen Burschen hier von mir wollen und in wessen Auftrag sie hier sind. Es gibt keine Veranlassung, irgendwem zu melden, dass man mich gefangen genommen hat. Das würde es für alle Beteiligten wohl unangenehm machen.“
„Warum hast ... habt Ihr die ganze Zeit nichts gesagt?“, fragte der vendyr. Die lange Reise über hatte er den vermeintlichen Studenten mit der schiefen Schulter mit einer gewissen Herablassung behandelt.
„Es erschien mir nicht erwähnenswert.“
„Vielleicht hat er was zu verbergen“, mutmaßte der forscor hinter vorgehaltener Hand. Der Rappenreiter hörte es dennoch.
„Oh ja“, begann er. „Sicher sind da ganz viele dunkle Geschichten. Wer weiß? Intrigen, Ränkespiele, schöne fanjulaé – es wird sicher viel Spaß machen, aus ihm herauszubringen, was er all die Zeit in der Fremde getrieben hat, was meint Ihr? Komm runter von deinem Muli, Eulengesicht. Ein bisschen plötzlich!“
Die drei Wegelagerer lachten spöttisch. Osse seufzte ergeben und hangelte sich unbeholfen hinab.
„Ist das alles, Eulengesicht?“, fragte der Hüne und deutete auf das Gepäck, das nun am Wegesrand stand.
„Ja. Mehr besitze ich nicht.“
Der große Reiter trieb sein Pferd beiseite und machte den Weg frei. „Dann los. Wenn jemand nach ihm fragt – ihr habt ihn und uns nicht gesehen. Und ihr habt keine Ahnung, wer er ist. Ist das klar? Dann entschuldigt die kleine Unterbrechung. Mögen die Mächte euren weiteren Weg begleiten.“
„Und jetzt ab“, fügte der mit den blauen Augen hinzu. „Bis zur Herberge seid ihr noch eine Weile unterwegs. Sputet Euch, ehe es dunkelt!“
„Können wir Euch helfen?“, flüsterte die Dame.
„Ihr werdet mich beim vasposár wiedersehen – so die Mächte ein Einsehen haben“, versetzte der junge yarl.
„Kommt“, drängte der Mann aus Hethrom und spornte sein Pferd an. „Nicht, dass diese Narren es sich doch noch anders überlegen!“
„Mögen die Mächte Euch beistehen“, sagte die Dame und trieb ihren Zelter voran. Im Trab setzten sie alle sich in Bewegung, Reiter wie Wagen, und zogen eilig weiter die Straße entlang, an dem Hünen mit der Axt vorbei.
Kurz darauf war die Reisegruppe außer Sicht. Yarl Osse Emberbey fand sich allein mit seinen Habseligkeiten und umringt von den drei maskierten Wegelagerern mitten in einem Wald, durch dessen lichte Wipfel goldene Herbstsonne flimmerte und irgendwo in der Nähe ein Specht hämmerte. Er seufzte und blickte von einem zum anderen.
„Hervorragend“, sagte der auf dem Rappen und piekte sacht gegen die Brust des Gefangenen. „Was meint ihr, lässt Herr Alsgör springen, wenn wir ihm den abtrünnigen Sohn vorführen?“
„Wer weiß?“, antwortete der Hüne. „Vielleicht ist das Eulengesicht ihm eine ganze Kupfermünze wert.“
„Was für eine Aussicht!“, rief der Rappenreiter mit großer Geste aus. „Das gibt einen halben Krug Bier! Davon können wir uns hemmungslos besaufen.“
„Auf diese Idee“, sagte der yarl ruhig und schob die Spitze der Waffe von sich weg, „könnt ihr auch nur im Suff gekommen sein – Jándris Altabete.“
Der Rappenreiter zuckte zusammen und ließ verlegen seinen Spieß sinken. Osse Emberbey lächelte. „Ich erwarte, dass ihr drei hierfür zumindest eine interessante Erklärung habt.“