Raýneta erschrak. Der báchorkor hinter ihr im Sattel gab ein seltsam tonloses Keuchen von sich und fuhr auf eine ganz sonderbare Art zusammen. Dann beugte er sich vor, nein – er fiel kraftlos vornüber. Die Schwertklinge sank von ihrem Hals nieder, an die Seite des Pferdes. Aber er ließ seine Waffe nicht los. Seine Finger krampften sich um den Griff, als sei er an seiner Hand festgeklebt. Das Mädchen wurde von seinem Oberkörper vornüber niedergedrückt, festgeklemmt. Das Sattelhorn drückte auf ihren Bauch.
Raýneta schaute sich verstört um. Das Pferd war durch die Tür hindurch getrottet, war schon fast mit dem Kopf aus dem Torbogen heraus. Aber die Leute, die ihnen gerade noch den Weg freigemacht hatten, gerieten in Bewegung! So, als hätten sie es sich anders überlegt. Selbst wenn des Vaters Ross nun galoppierte wie der Wind, sie würden nicht weit kommen. Wahrscheinlich würde der báchorkor schon nach wenigen Schritten niederstürzen, oder die Leute würden ihn einfach aus dem Sattel zerren.
„Weiter“, wisperte der Mann, dicht an ihrem Ohr. „Schnell …“
Das Pferd bewegte sich voran, aber viel zu langsam. Sicher war es verwirrt, im Dunklen und ohne seinen gewohnten Herrn ins Freie zu müssen. In Raýnetas Gedanken zuckten Erinnerungen auf, die Ausritte auf dem Schimmelchen, das ihr der freundliche junge yarl Althopian einmal geschenkt hatte. Der junge Ritter, der beste Freund des geliebten Bruders, hatte ihr bei einem seiner Besuche geduldig beigebracht, wie man das Pferdchen anspornte und lenkte, etwas, für das der Vater bereits zu müde und Venghiár zu beschäftigt war. Später hatte Raýneta zufällig aufgeschnappt, dass Merrit Althopian vor ihrem Vater ihr Geschick gelobt hatte, und war sehr zufrieden mit sich gewesen. Aber ob das mächtige Kampfross dieselbe Sprache verstand wie der gutmütige, feingliedrige Zelter?
„Haltet sie auf!“, klang irgendwo im Tumult die Stimme des Weitvetters, befehlend, zornig. Und die Schutzbefohlenen … sie kamen … sie griffen nach ihnen …
„Los“, befahl Raýneta erschrocken, „Los, Pferd, lauf schnell los!“
Und noch während sie versuchte, mit ihren Kinderbeinen den großen Grauen anzuspornen, geschah hinter ihr etwas Unerwartetes. Die Torflügel, aus Holz und eine Handbreit dick, setzten sich an ihren schmiedeeisernen Angeln in Bewegung, ohne dass jemand sie berührt hätte und viel schneller, als eine Menschenhand sie hätte zuziehen können. Knechte und Mägde, selbst die opayra, mühten sich, ihnen nachzusetzen, aber obwohl es nur wenige Schritte vom Hof bis hinter den Torbogen waren, kamen sie nicht weit. Die Pforte der Burg Emberbey, hoch und breit genug, um ein Ochsengespann oder zwei Berittene nebeneinander hindurch zu lassen, klappte hinter ihr mit einem lauten Knall zu. Nicht anders als ein Truhendeckel, der einem aus der Hand glitt. Das Burgvolk von Emberbey war eingesperrt, da mochten sie noch so sehr gegen die massive Holzpforte wummern und schreien.
Doch das Pferd erschrak vor dem Geräusch und machte endlich einen Satz nach vorn. Der Märchenerzähler ächzte und schlang seinen Arm um sie. Raýneta griff an den Sattelbaum, der ihr der festeste Halt zu sein schien und kreischte auf, als der Grauschimmel in die Nacht hinaus sprengte. Daran, das Ross planvoll zu lenken, war gar nicht zu denken! Es galt, oben zu bleiben, nicht zu stürzen und ihm unter die Hufe zu geraten!
Das Kind versuchte gar nicht erst, die Zügel zu greifen. Dass es von hinten ein Erwachsener umklammert hielt, kraftlos wie ein nasser Sack, das konnte nur in einem Unglück enden. Jedoch … der báchorkor schien nun ebenfalls seine Kräfte zu sammeln, sich zur Ordnung zu rufen. Er richtete sich etwas auf, quetschte sie nicht mehr gegen den harten Sattel. Sie bekam wieder etwas mehr Luft und fühlte sich plötzlich wieder fest gehalten, auf eine völlig absurde Weise geborgen. Schon lag das Tor hinter ihnen so weit zurück, dass der Lärm dahinter vom Trommeln der Hufe auf der sandigen Wiese übertönt wurde.
„Auf die Straße“, keuchte der báchorkor. „Nach Süden … weg vom Meer …“
Raýneta zerrte unbeholfen an den Zügeln. Der Weg, der von der Burg wegführte, war mit hellem Sand versehen und so im Mondlicht leidlich wahrzunehmen. Das Pferd erkannte den vertrauten Pfad und galoppierte nun zielstrebig voran, erstaunlich weich und sacht für seine Größe und Kraft. Nun, es war das Reittier eines sehr alten Mannes gewesen. Alsgör Emberbey war größtmöglicher Komfort zugedacht, wenn er sich schon noch einmal auf einen weiteren Weg begab. Der Graue preschte über die karge, mit Inseln aus hohem Salzgras übersäte Wiese auf der zur Landseite hin sacht abschüssigen Klippe. Die war zu dieser Zeit selbst von den Schafherden verlassen; die Hirten mochten ihre Tiere weiter südlich zusammengetrieben haben. Behutsam, als nähme er wahr, dass es ein Kind und einen Verwundeten trug, strebte der Graue dem Rand der Baumlinie in der Ferne zu, die einen Grenzstreifen zwischen dem Gelände der Burg und dem der benachbarten vorgelagerten Gehöfte und südlich gelegener Dörfer des yarlmálon bildete.
Im selben Moment begriff Raýneta, wie irrsinnig, wie sinnlos das war, was sie hier tat. Es war völlig unmöglich, dass sie, mit oder ohne den báchorkor, auf dem Pferd auch nur in die Nähe des benachbarten yarlmálon Althopian gelangen würde. Es würde nicht lange dauern, bis das Burgvolk das große Tor wieder irgendwie geöffnet hätte. Bald wäre man ihnen, Venghiár an der Spitze seiner Waffenknechte, auf den Fersen. In der Burg gab es einige schnelle Kurierpferde, die sie leicht einholen würden. Venghiár selbst war ein ausgezeichneter Reiter!
Und dann? Was würde geschehen?
Der báchorkor hatte sein Leben verwirkt. Falls sie ihn noch lebendig in die Hände bekamen, würden sie sicher abscheuliche Dinge mit ihm anstellen. Und sie selbst, sie würden sie in die Burg zurückbringen und ganz sicher dafür sorgen, dass sie nicht mehr ins Freie durfte.
Venghiár hatte ihren guten Vater umgebracht. Sie hatte das Blut auf seinem Hemd gesehen und gerochen, und den Dolch. Sie hatte gehört, wie er das Gemach des Vaters durchstöbert hatte. Aber warum nur?
Venghiár würde sie zurück in die Burg holen. Und dort war sie nicht mehr in Sicherheit.
Der Griff des báchorkor war unnachgiebig. Das Pferd galoppierte nun zielstrebig über den weichen Sandboden, entlang der von hohen Meergräsern und geduckten Büschen gesäumten Straße. Die Burg im Mondlicht hinter ihnen wurde immer kleiner.
Raýneta fühlte sich schlagartig der Realität entrissen. Alles um sie herum verwischte, verwirbelte zu einem Albtraum, der nicht im Ansatz mehr etwas mit der kühlen, hellen Herbstnacht zu tun hatte, oder mit dem Leben, das sie vorhin noch geführt hatte, mit der eitlen Freude über das hübsche Kleidchen oder der Erwartung eines Märchens zu Unterhaltung. Dieser báchorkor war nicht gekommen, um sie mit einer Geschichte zu erfreuen. Er war gekommen, um alles aus der Ordnung, der Sicherheit und dem Willen der Mächte zu reißen. Sie war seine Beute. Er hatte sie gestohlen. Und er hielt sie nun so fest umklammert, als sei sein Arm aus Holz.
Raýneta unternahm einen halbherzigen Versuch, sich freizustrampeln, selbst auf die Gefahr hin, dass sie in vollem Galopp niederstürzen würde. Die Burg war noch nicht außer Sichtweite. Sicher waren sie zwischenzeitlich schon hinter ihnen her, würden sie finden und wieder in die Burg bringen. Wenn sie es so anstellte, dass sie immer bei den anderen Leuten und nie allein war, würde Venghiár ihr nichts anhaben können. Sie musste nur auf Osse warten. Osse würde kommen! Die opayra würde sie schelten, aber es würde Honigmilch und Brei geben, und alles würde wieder gut, und …
Und dann waren sie fast bei den Bäumen, und das Pferd bremste in vollem Lauf, wieherte wie überrascht auf. Etwas schien ihm die Hufe vom Boden wegzureißen. Der Hengst stürzte und hätte sich dabei fast überschlagen. Der Märchenerzähler ließ von ihr ab. Raýneta verlor den Halt, fühlte sich durch die Luft geschleudert und prallte heftig auf dem sandigen Boden auf.
Das Mädchen keuchte vor Überraschung und Weh und blieb einen Moment benommen liegen. Die Pflanzen kratzten und dort, wo sie aufgeschlagen war, raste Schmerz durch seine Glieder. Gelandet war es einem Bereich, an dem die Schafe einige Horste stacheliger Stauden hatten stehen lassen. Ein paar Schritte hinter sich hörte es das Pferd schnauben. Als Raýneta den Kopf in seine Richtung wandte, sah sie es sich wieder auf die Beine wuchten. Den Mächten sei Dank! Offenbar hatte es sich kein Bein gebrochen! Kaum stand es jedoch wieder aufrecht, schien es sich vor etwas zu erschrecken. Das Tier tänzelte, als würde sich ihm etwas Unsichtbares in den Weg stellen. Dann preschte es in gestrecktem Galopp auf und davon, hinein in die Nacht.
Raýneta stemmte sich zaghaft auf alle viere hoch und biss die Zähne zusammen. An ihren Armen und Händen hatte sie sich bei dem Sturz die Haut aufgeschürft. Auf dem Weg, das Gesicht von ihr abgewandt, sah sie den báchorkor liegen. Von seinem Rücken ragte das hell gefiederte Ende eines Pfeils in die Höhe. Raýneta kannte solche Pfeile. Sie wusste, wer sie verschoss und selten sein Ziel verfehlte. Sie hatte das schon einmal gesehen. Das liebe weiße Pferdchen …
Aber sie hatte keine Zeit für diese Erinnerung, denn da näherte sich ein Reiter. Weder auf der Straße noch aus Richtung der Burg. Er kam im Trab schräg querfeldein zwischen den Bäumen hervor. Vielleicht hatte er den Sturz des großen Grauen beobachtet.
Raýneta erstarrte. Sollte sie aufstehen, den nächtlichen Reisenden anhalten und um Hilfe bitten? Ihm erzählen, was passiert war und ihn bitten, sie ganz schnell irgendwo anders hinzubringen?
Das Kind entschied sich – zunächst – dagegen. Zu viel äußerst Seltsames war geschehen, seit es zu Bett gegangen war. Zu viel Zweifelhaftes, als dass Raýneta jemals wieder irgendjemandem vertrauen konnte. Und so duckte sie sich in dem Gestrüpp zusammen und bat die Mächte, dass der fremde Reiter seinen Blick nicht auf den Wegesrand richten würde. Vorsichtshalber lenkte sie ein paar hohe Stängel so um, dass sie sie leidlich tarnen würden.
Der báchorkor regte sich. Ungeachtet des Pfeils kam er schwankend zunächst auf die Knie und stemmte sich dann auf die Füße. Wankend aber leidlich aufrecht stand er schließlich und blickte dem Reiter entgegen. Ganz ruhig. Beängstigend ruhig.
Raýneta lief ein kaltes Schaudern über den Rücken. Je mehr der Ankömmling sich näherte, desto mehr wurde der Schauder zu blankem Grausen. Das Pferd unter seinem Sattel, das war ein gewöhnliches, einer von diesen schmalgliedrigen Rennern, wie ihn berittene Kuriere oder wohlhabende Leute aus Virhavét ritten. Aber der Reiter ...
Unter dem hellen Glanz von Noktámas Juwel sah das Kind zunächst nichts weiter als ein Schemen, einen plastischen Schatten. Gestaltgewordene Schwärze, menschenähnlich, aber nicht menschlich. Sie hatte die Form eines großen, schlanken Mannes, angetan mit einem breitkrempigen Hut und einem weiten Mantel. Die Schwärze hob sich so grotesk von dem Pferd ab, dass Raýnetas Verstand davor zurückschreckte. Sie biss sich auf die Handkante, um sich selbst am Schreien zu hindern. Atemlos zog sie sich noch tiefer in die trockenen Blätter zurück.
Der báchorkor indes schien nicht weiter überrascht von der Erscheinung. Einen Augenblick lang schwiegen beide sich an. Das Schattending zügelte sein Reittier einige Schritte vor ihm. Dabei geschah etwas Sonderbares. Je länger das Mondlicht auf die menschenförmige Schwärze fiel, desto mehr Gestalt nahm sie an. Es war, als tropfe die Dunkelheit von ihr ab wie Seifenschaum. Darunter kam ein schwarz gekleideter Mensch zum Vorschein, der ganz echt und lebendig aussah. Von seinem Gesicht erkannte Raýneta nicht viel, dazu war sie zu weit weg. Aber sie konnte hören, was gesprochen wurde.
„Weit bist du wohl nicht gekommen.“
„Weit genug“, ächzte der báchorkor. Das Atmen fiel ihm schwer. „Was seid Ihr für eine … Kreatur?“
„Ich? Ich bin nicht mehr als ein Reisender mit gewissen Interessen. Aber du? Was mischt du dich ein?“, fragte der Schattenmann. Seine Stimme ließ Raýneta auf eine wunderliche Art erschauern. Sie war freundlich, warm. Eine Stimme, der man vertrauen musste. „Was treibt dich so rasch und mitten in der Nacht weg von der Burg? Hast du etwas zu verbergen?“
„Das ist meine Sache.“
Die schwarze Gestalt lachte wohltönend. „Jedenfalls … gut gezielt hat der hochedle Venghiár Emberbey wohl nicht. Wie sonderbar. Es sollte den Hoffnungsträger, den Günstling der yarlay von Rodekliv doch keine Mühe kosten, einen ungerüsteten Streuner wie dich aus dem Sattel zu holen.“
„Ein Günstling derer von Rodekliv? Herr Venghiár?“
„Das weißt du nicht? Kaum zu glauben, für einen báchorkor, dem die yarlmálon jenseits der Sümpfe nicht unbekannt sein dürften. Habe ich recht?“
„Ich … war zuweilen dort.“
Raýneta biss fester zu. Was bekam sie hier Verstörendes zu hören?
„Mehr noch als der kümmerliche Schuss interessiert mich doch, warum der junge Herr in erster Hand auf dich gezielt hat. Hast du etwa eine unbequeme Geschichte vorgetragen?“
„Wünscht Ihr, selbst eine solche zu hören?“
Der Schattenmann hob beiläufig seine Hand, nicht in die Höhe, nur so weit, dass er die Zügel einen Moment losließ. Der báchorkor schrie gellend auf, sein schmaler Körper verkrampfte sich. Raýneta biss sich die Hand. Der Pfeil im Körper des Geschichtenerzählers drehte sich, die Federn an seinem Ende rotierten. Das musste das Werk des Fremden sein. Zauberei!
„Du scheinst ein zäher Bursche zu sein“, fuhr der Reiter fasziniert fort und saß von seinem Pferd ab. „Das interessiert mich. Warum fliehst du so überstürzt aus der Burg, báchorkor? “
„Der alte yarl ist hinter den Träumen“, keuchte der junge Mann.
„Möge er hinter den Träumen in Frieden sein. Was hast du damit zu tun?“
„Euer Handlanger“, stieß der junge Mann hervor, „kam zu spät! Ich … war schneller!“
„Schneller? Du?“
„Ich … bin ihm zuvorgekommen!“
Der Schattenmann schwieg und wirkte fast etwas überrascht. Raýneta spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf klopfen. Was redete der báchorkor da nur? Sie hatte doch Venghiár gesehen und gehört, und das blutige Hemd. Aber andererseits … da war das Schwert, dieses sonderbare Schwert aus dem dunklen Metall. Báchorkoray durften keinen Waffen besitzen, höchstens ein Messer, um Brot und Holz zu schneiden! Wo war das Schwert überhaupt geblieben? Auf dem Weg lag es nicht.
„Das ist ärgerlich“, meinte der Fremde. „Aber es wird nicht viel ändern, abgesehen von kleinen Details im Ablauf.“
„Ein kleiner Stein, der in ein Rinnsal gerät, vermag dessen Lauf umzulenken.“
„Ganz recht. Es ist wohl letztlich egal, wer jenen kleinen Stein warf. Aber sprich“, sagte der Schattenmann. „Wer hat dich geschickt? Und wie kommst du dazu, anzunehmen ich hätte etwas mit Herrn Venghiárs ungestillter Mordlust und Rachedurst zu schaffen?“
„Ich habe es geraten.“
„Schlau. Aber du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet.“
Der báchorkor keuchte. Vermutlich war seine Lunge versehrt. „Es … liegt im Interesse hochedler Damen und Herren“, keuchte er, „die Geschicke von Wijdlant bald zu lenken. In einem anderen Sinne, als es die teiranday im Sinn tragen.“
„Wer – außer Herrn Venghiár selbst – hätte wohl einen Nutzen daran, wenn der alte Mann verschwände?“
„Es gibt andere, denen es nach dem yarlmálon Emberbey gelüstet.“
„Wer könnte das wohl sein? Doch nicht etwa die Schatzmeister von Virhavét, die die Bucht als Hafenbecken lockt?“
„Das wäre kein Geheimnis!“
Der Pfeil ruckte herum. Der báchorkor schrie und bebte am ganzen Körper.
„Für wie leichtgläubig hältst du mich, báchorkor? Als ob Virhavét einen jämmerlichen Mordbuben ausschickt, um die Verhandlungen zu eröffnen. Die vendyray haben deutlich mehr Stil. Und effektivere Mittel.“
„Ich darf es nicht sagen!“, ächzte der junge Mann. Der Schwarzgewandete zuckte die Achseln, hob flüchtig die Hand. Nun schrie der báchorkor so gellend, dass es sicher die Hirten in der Ferne weckte. Raýneta mühte sich, es ihm vor Entsetzen nicht gleichzutun.
„Wer?“, fragte der Fremde. „Es macht keinen Unterschied mehr für dich, wenn du es verrätst. Du bist bereits tödlich verwundet. Keine doayra kann dich noch retten.“
„Im Osten! In Ferocrivé …“
„So. Yarl Ferocrivé hat dich also losgeschickt, um den alten Emberbey zu ermorden? Den dahinschwindenden Greis, dem die Mächte allenfalls noch diesen Winter gegeben hätten?“
„Wen denn sonst?“, stieß der báchorkor hervor.
Der Schwarzgewandete verschränkte die Arme. Nun wirkte er amüsiert. „Oh, ich weiß wohl, dass yarl Ferocrivé dazu neigt, sich allzu unpräzise auszudrücken, besonders, wenn er etwas Geistiges genossen hat. Aber dass er jemanden wie dich ausschickt, ohne Not etwas zu beschleunigen, was ohnehin demnächst von allein passiert – so wirr ist selbst der yarl nicht. Der yarl hat Geduld.“
„Herr“, wimmerte der báchorkor, „wenn Ihr so viel wisst, dann erklärt mir meinen Irrtum. Nach wessen Leben trachtet Herr Venghiár?“
„Osse Emberbey, der Sohn und Erbe von Herrn Alsgör, ist in diesem Moment einen Viertelmond weiter im Süden. In wenigen Tagen wird er der neue mynstir von Wijdlant und Spagor sein. Und das ist etwas, was in der Tat einigen mächtigen Herren Kopfzerbrechen bereitet. Nicht nur den yarlay von Ferocrivé und Rodekliv. Oder dem närrischen Heißsporn, der dich erlegt hat wie ein Waldschwein und bald hier sein wird, um die Sache zu beenden.“
„Ach! Verflucht! Dann war es eine Verwechslung, die mich auf diesen Weg führte?“, stotterte der Märchenerzähler fassungslos. „Dann waren meine Mühen umsonst!“
„Wieso nur zögere ich, dir diese Geschichte abzunehmen?“, überlegte der Schattenmann liebenswürdig. „Sie erscheint mir für die Künste eines báchorkor doch arg dürftig. Ich bin Geistreicheres von deinesgleichen gewöhnt.“
„Bitte, Herr … in Ferocrivé haben mir reichen Lohn versprochen …“
„Wie traurig, wozu die Gier nach Gold und Reichtum die Menschen befähigt. Ein báchorkor, der sich zum Mord verdingt … ein Jammer. Was für eine Verschwendung. Was für ein alberner Einfall von den hochedlen Herren. Ich bin gespannt, was Herr Venghiár sagt, wenn er davon erfährt.“
„Herr, ich gelobe, bei den Mächten selbst, wenn Ihr mich ziehen lasst, dann werde ich …“
Er schrie erneut, so schrill, dass man es bis zur Burg hören musste. Der Pfeil bohrte sich tiefer in seinen Körper. Raýneta beobachtete entsetzt, wie die Federn sich näher an den Rücken des Geschichtenerzählers schraubten und zugleich etwas vorn aus seiner Brust hervorbrach wie der Schössling eines kahlen Bäumchens.
„Gnade“, schrillte der báchorkor. „Bitte … ich weiß doch auch nicht mehr. Ich bin nur ein demütiger báchorkor und sie boten mir Gold, und …“
„Einen, nur einen Grund wüsste ich gerne, warum die yarlay von Ferocrivé und Rodekliv zugleich und unabhängig voneinander einen geheimem fýntar [≈ Henker, hier eher: Lohnmörder] entsenden sollten, um denselben Mann zu töten. Man hört, die Herren seien Verbündete, Partner, beste Kumpane. Vielleicht sogar Freunde. Ich würde mich nicht wundern, wenn der Plan bei einem gemeinsamen Gastmahl geschmiedet wurde.“
„Ich weiß nicht, Herr! Vielleicht weiß der eine nicht, was der andere tut. Vielleicht wollten sie einander überraschen … voreinander mit ihrem Erfolg prahlen …“
„Nun“, sagte der Schattenmann nachdenklich. „Um ehrlich zu sein, dies ist tatsächlich etwas, was mich nicht ernsthaft wundern würde. Menschen sind sonderbar und schwer zu verstehen, nicht wahr?“
„Wenn Ihr mir nicht glaubt“, wimmerte der báchorkor, „dann fragt selbst nach, und …“
„Ich denke, es genügt, wenn ich dafür Sorge trage, dass nicht noch mehr Wirrnis entsteht. Weißt du, du armer betrogener Taugenichts, eine der ersten Lektionen, die ich erlernen musste, die war: Wenn etwas gut getan sein soll, so mache es selbst.“
„Das ist ein weiser Gedanke, Herr. Dann benötigt Ihr meiner sicher nicht weiter, nicht wahr?“
„Nein. Du bist erlöst.“ Und dann schnellte der Pfeil vorn aus der Brust des Geschichtenerzählers hervor, hinein in die zuschnappende Hand des Fremden. Der Schrei des jungen Mannes war entsetzlich. Er brach in die Knie. Raýneta konnte weder den Blick abwenden noch die Augen schließen. Von dem Federende des Geschosses tropfte es auf den Sandweg hinab, aus der Brust des jungen Geschichtenerzählers quoll es heraus wie aus einem Wasserspiel. Dann kippte er zur Seite über.
„Sei getrost“, sagte der Schattenmann mitfühlend und neigte sich über den zuckenden Körper. „Es wird vorbei sein, ehe sie dich finden. Ehe sie dich in die Burg schleppen und ihrerseits befragen können. Ich bin sicher, dass du nicht näher wissen willst, was Venghiár Emberbey darüber gelernt hat, anderen Geheimnisse zu entlocken und in seinem Sinne zurechtzubiegen. Der Geschichte von yarl Ferocrivés Mordplan würde er sicher ebenso viel Glauben schenken wie einem deiner Märchen für Wiegenkinder, das weißt du doch auch?“
Raýneta hob vorsichtig den Kopf. Wo nur blieben die Verfolger von der Burg? Hatte der unheimliche Fremde mit der sanften Stimme wirklich etwas mit Venghiár zu schaffen?
„Du sollst wissen, dass es bedauerlich ist, dass dein Tod so nutzlos ist, báchorkor, geschuldet der Dummheit und den Intrigen von Unkundigen, die nicht in der Lage sind, sich untereinander planvoll abzusprechen. Ich für meinen Teil vertraue auf den persönlichen Antrieb, der Herrn Venghiár in dieser Angelegenheit beflügelt.“
Er schaute noch einen Moment zu, wie der báchorkor zitternd vor ihm lag und sich die Hände vor die Brust presste. Sprechen konnte der junge Mann nun nicht mehr. Ein, zwei Geräusche, eher ein Gurgeln als ein Wort brachte er noch hervor. Dann lag er still.
Der Schattenmann betrachtete kopfschüttelnd den Pfeil und behielt ihn in der Hand, als er sich seinem geduldigen Ross zuwandte und aufsaß. Raýnetas Herz klopfte bis zum Hals.
„Übrigens“, redete der Fremde nebenbei weiter, „ich weiß, dass du da bist, kleines Mädchen. Ich weiß sogar, wo du dich versteckst. Du müsstest dich nicht vor mir fürchten. Dass ich den báchorkor beseitigt habe, ist nur zu deinem Besten. Glaub mir, solche Gestalten bringen nichts als Ärger.“
Sie zuckte zusammen. Ihr erster Antrieb war, aufzuspringen. Aber was, wenn er sie nur hervorlocken wollte? Wenn er nur so tat, als wisse er um ihr Versteck? Wenn er sie vielleicht täuschen wollte, damit sie sich selbst verriet? Aber was sollte das bringen? Wenn er sie fangen wollte, dann würde sie nicht weit kommen, keinesfalls bis zum nächsten Bauerngehöft. Schon gar nicht bis zurück in die Burg, wo sie ihres Lebens nicht sicher wäre, wenn Venghiár tatsächlich in Mordpläne anderer yarlay verstrickt war. Und – warum sollte der Schattenmann das grundlos behaupten?
Und woher konnte er wissen, dass sie überhaupt hier war? Er war doch erst gekommen, nachdem sie schon am Boden gelegen hatte!
„Komm zu mir, kleines Mädchen“, sagte er. Seine Stimme war so herrlich. Wie eine warme Decke, wie der schwere Duft der Rosen, wie eine süße Honigmilch. „Ich tue dir nichts zuleide. Ich bringe dich zurück, dorthin, wo ein kleines braves Mägdelein in deinem Alter um diese Zeit sein sollte. Wo du sicher und unbehelligt bist.“
Raýneta war überzeugt, dass er ihr Herz klopfen hören konnte.
„Solltest du dich vor Herrn Venghiár fürchten, dann kann ich dafür sorgen, dass dir nichts zustößt.“
Raýneta kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Wie einfach, und wie frei von Verantwortung wäre es nun, dem Schwarzgewandeten zu folgen, der sie nach Hause bringen würde. Ein Zuhause … eines, in dem nichts mehr war wie noch am Morgen, als sie den Stoff für das Kleidchen in Händen gehalten hatte.
Sie erschrak vor diesem eigenen Gedanken. Was immer von der Sache, von all den Mordplänen zu halten war: Der Schattenmann hatte dem báchorkor ohne Mitleid den Pfeil durch den Leib gezogen, ohne ihn auch nur zu berühren. Das war nicht normal! Das war … böse!
„Ich kann nicht die ganze Nacht warten. Du kennst den Weg“, fügte der Fremde hinzu. „Sei ein kluges, braves Kind, Raýneta Emberbey. Du bist noch zu jung, um mitzuspielen. Preise die Mächte für deine Unschuld.“
Er wartete noch einen Moment. Dann spornte er sein Ross an und galoppierte davon, nach Norden, in Richtung der Burg.
Es dauerte einige Herzschläge lang, bis Raýneta es wagte, ihr Versteck zu verlassen. Zaghaft, mit schmerzenden Gliedern krabbelte sie aus dem Salzkraut und tastete sich zurück zum Weg. Der báchorkor lag reglos da, seine kupferfarbenen Locken schimmerten unter Noktámas Juwel. Der Sand unter ihm war klebrig und verfärbt von seinem Blut.
Raýneta hatte nie zuvor einen Leichnam gesehen. Sie hockte sich neben ihn und tastete vorsichtig nach seiner Schulter, stupste ihn an und bewirkte damit, dass er auf dem Rücken zu liegen kam.
„Ist er weg?“, wisperte der báchorkor und schlug die Augen auf.
Raýneta kreischte erstickt auf und fuhr zurück. Der junge Mann rappelte sich auf. Dass das äußerst schmerzhaft war, daran bestand kein Zweifel. Er verzog das Gesicht und atmete schwer.
„Rasch“, forderte er. „Hilf mir, mein Schwert zu suchen. Ich habe es irgendwo hier in die Wiese geworfen, als das Pferd stürzte. Aber fass es nicht an, falls du es findest!“
„Ich verstehe nicht …“
„Später. Wir haben keine Zeit. Hilf mir auf!“
Sie stützte ihn und starrte ihn fassungslos an, als er einige Schritte in das hohe Gras hinein taumelte. Er war ganz offensichtlich schwer verletzt und blutete in Strömen vom Herzen, aber er war ganz unzweifelhaft bei klarem Bewusstsein.
„Komm!“, forderte er sie ungeduldig auf. „Wir haben keine Zeit! Nicht auszudenken, wenn er es gefunden hätte!“
„Aber das Pferd ist weg, und …“
„Es wartet in dem Wäldchen auf uns.“
Sie lief hinter ihm her und verstand die Welt nicht mehr.
„Warum bist du nicht tot?“
„Das wäre gerade jetzt ziemlich undienlich.“
„Ich träume das alles doch nur, nicht wahr?“, fragte sie verstört. „Das passiert doch alles gar nicht in Wirklichkeit?“
„Ich wünschte, es wäre so.“ Er beugte sich hinab, hob mit einem Schmerzenslaut sein Schwert auf und nahm sie mit seiner blutigen Hand bei der seinen. „Komm, beeil dich. Sobald er bemerkt, was ich getan habe, sind wir nicht mehr sicher.“
„Wer ist das gewesen?“
„Ein Fehler im Weltenspiel.“
„Ein Fehler?“
„Er dürfte nicht hier sein! Nicht in Emberbey und schon gar nicht in der Gegenwart. Es ist absurd.“
„Ist das denn wahr? Das mit den yarlay von Ferocrivé und Rodekliv, und … Venghiár ist aus Rodekliv gekommen und holt Knechte von dort …“
„Der Schwarze Meister achtet in seinem Hochmut zu wenig auf das, was er preisgibt. Er hat mir bestätigt, was ich wissen musste.“
„Der Schwarze Meister? Wer ist das?“
„Später. Das sind Geschichten, die Kinder nicht hören sollten.“
Er wankte ihr voraus. Er musste unfassbare Schmerzen haben, aber mit jedem Schritt schien er wieder kräftiger zu werden. Er klemmte sich das Schwert unter den Arm und kramte in seiner Tasche. Daraus förderte er etwas Ledernes hervor, das Raýneta in der Dunkelheit erst für einen leeren Trinkschlauch hielt. In seiner Hand wurde es starr: Es handelte sich um eine kunstvoll gefertigte Scheide, in die er das Schwert zurücksteckte und schulterte.
„Ich muss mein Gepäck klein halten,“ behauptete er, als er ihren verblüfften Blick bemerkte.
„Das ist … Zauberei, nicht wahr?“
„Ja, aber nur eine ganz mindere. Nicht der Rede wert.“
„Wem hast du das Schwert weggenommen? Du darfst keines haben. Du kannst dafür bestraft werden.“
„Ich habe es geerbt, Vögelchen. Und ich kann es so einrichten, dass nur diejenigen es sehen, die es sehen müssen.“
„Ist das auch Zauberei?“
„Es ist praktisch. Und nun komm. Wir müssen schnell das Pferd wiederfinden, bevor der Schwarzmantel und dein Weitvetter zurückkommen.“
„Galéon“, fragte Raýneta, die auch noch ganz zerschlagen war vom Sturz. Aber wenn er so tapfer war, dann wollte sie auch nicht klagen. „Das ist doch alles nur ein Traum, wie im Fieber, oder? Wenn die opayra mich weckt, gibt sie mir eine Medizin, und alles wird gut.“
„So einfach ist das leider nicht.“
Sie zögerte. Dann nahm sie ihren Mut zusammen. „Warum hast du dem Mann erzählt, dass du meinen Vater getötet hast?“
„Habe ich das?“
„Du hast gesagt, du seiest schneller gewesen als Venghiár.“
Er seufzte und schwieg einen Moment. „Willst du eine Lüge oder eine Geschichte, Vögelchen?“, fragte er dann sanft.
Das Kind verstand, was er damit sagte, und schluchzte verstört auf. Der báchorkor blieb stehen, holte noch etwas aus seiner Tasche und legte es in ihre Hände.
„Trockne deine Tränen, Raýneta Emberbey. Sobald wir das Pferd finden und Vorsprung haben, reiten wir zu yarl Althopian. Der bringt dich zu deinem Bruder. Nur in Wijdlant bist du sicher.“
Sie betastete den schimmernden Stoff. „Aber … das ist das Samtblütentuch, nicht wahr? Wo hast du es her?“
„Aufgehoben, auf der Treppe. Deinem Weitvetter ist es unbemerkt aus der Hand gerutscht, abgeglitten von dem Blut an seinen Händen. Ich hatte es rasch eingesteckt. Herr Waýreth hat sicher fleißige Schneiderinnen, die es bis zum vasposár fertig nähen.“
Sie drückte das Stoffbündel an sich.
„Und jetzt komm, Vögelchen. Wir haben es nun eiliger als zuvor. Hatte ich dir ein Märchen für heute Nacht versprochen?“
„Ja. Von den Webern und den Samtblüten.“
„Gut. Dann lass deinen Kummer für den Moment ruhen und folge meinen Worten.“
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"Scherbenlied" ab April behelfsweise hier: https://www.wattpad.com/story/391205368-scherbenlied-oder-die-suche-nach-dem-b%C3%B6sen