Raýneta war wütend und enttäuscht. Die opayra hatte sie zu Bett geschickt, ohne dass sie noch einmal zu ihrem Vater hatte gehen dürfen. Sogar die Abendsuppe hatte das Kind in seiner kleinen Kammer einnehmen müssen. Nur weil es von dem Geschichtenerzähler berichtet und dessen Märchen freudig als Abendunterhaltung angekündigt hatte.
Von welchem báchorkor sie denn redete, hatte die opayra gefragt. Die alte Edeldame hatte über dem Geschäft mit dem Tuchhändler gar nicht mitbekommen, dass ein Fahrender eingetroffen war.
Na, von dem in des Vaters Kemenate.
Ein Fremder, in den Gemächern des Herrn? Vielleicht einer, der Ungutes im Schilde führte? Obwohl Herr Venghiár doch ausdrücklich angewiesen hatte, kein Fremder solle die Burg betreten, solange er abwesend war? Raýneta war ausgescholten worden für ihre Arglosigkeit. Und dagegen hatte sie nicht einmal protestieren können. Sie selbst war es gewesen, die darüber triumphiert hatte, dass sie den Fahrenden in die Burg ungesehen hineinbugsiert hatte, obwohl die Torwachen ihn gemäß ihren Befehlen hatten verjagen wollen.
Einen kleinen Aufruhr hatte es gegeben, und kurzzeitig waren Leute hektisch auf der Suche nach dem báchorkor in der Burg herumgelaufen.
Doch man hatte nach dem jungen Mann gesucht, ohne ihn zu finden. Der Vater hatte friedlich geschlafen in seinem Sessel, wie so oft in den letzten Tagen. Den Märchenerzähler, ja, gesehen hatten ihn einige, aber nur zusammen mit der kleinen yarlaranda. Später nicht mehr. Weder im Zimmer des Herrn noch anderswo auf der Burg. Das bekam Raýneta nun zu Ohren. Und sie war empört, um das Märchen von den Webern und dem Samtblütenstoff gebracht worden zu sein.
Umso zorniger war sie nun auf den báchorkor, der neben ihrem Bett kniete und sie sacht wachgerüttelt hatte. Im Schein ihres kleinen Nachtlichtleins sah sie sein Gesicht deutlich vor sich.
„Wo bist du gewesen?“, fragte sie empört, anstelle sich darüber zu entsetzen, dass ein fremder Mann in ihrem Gemach war. Wäre die opayra hier gewesen, sie hätte den Geschichtenerzähler sicher heraus geprügelt. Aber die opayra war nicht da, lag nicht in ihrem Bett. Es konnte also noch nicht so spät sein. Sicher arbeiteten sie und die Näherinnen noch an dem Festkleid. „Alle haben dich gesucht!“
„Ich habe bei deinem Vater gewacht“, antwortete er.
„Das ist gelogen! Da hat dich keiner gesehen.“
„Das ist nicht meine Schuld. Mancher sieht mich, mancher nicht. Und so mancher erinnert sich nicht, mich gesehen zu haben.“
„Du hast versprochen, mir schöne Märchen zu erzählen.“
„Das habe ich weiterhin vor. Aber dafür ist gerade jetzt und hier keine Zeit.“
„Und was machst du dann hier?“
„Du musst mit mir kommen.“
Nun war sie völlig durcheinander. „Mitten in der Nacht? Aber wohin denn?“
„Nun, wohin möchtest du denn gerne?“
Da musste Raýneta nicht lange überlegen. „Zu meinem Bruder!“, entschied sie. „Aber der ist noch weit weg. Der reist nach Wijdlant.“
„Nun gut. Wie die Mächte es so fügen, bin ich meinerseits auch unterwegs nach Wijdlant. Reisen wir also deinem Bruder entgegen. Aber wir müssen sehr schnell sein.“
Er trat einen Schritt zurück. Sie setzte sich hin, stand aber noch nicht auf. „Ich kann doch nicht einfach mit dir kommen! Was soll denn mein Vater sagen? Und die opayra?“
„Dein Vater würde sagen: Hab Vertrauen und geh mit dem da, mit dem báchorkor. Der tut dir nichts an, im Gegenteil. Und die opayra … nun, die fragen wir einfach nicht. Opayraé müssen nicht alles wissen. Einverstanden?“
„Wieso willst du mir helfen? Ich brauche doch keine Hilfe!“
„Ich würde dir das alles sehr viel besser erklären können, wenn wir uns ganz weit fort von den Mauern dieser Burg befänden. Bitte, kleine yarlaranda, mit jedem Atemzug verstreicht kostbare Zeit.“
Raýneta verschränkte die Arme. „Und wenn ich nicht mit dir gehen will?“
„Dann bringst du dich, deinen Bruder, deine Schwester und am Ende das ganze teirandon in Gefahr. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und von mir selbst gar nicht erst zu reden.“
„Aber mein Vater …“
„Dein Vater ist der einzige, der nicht mehr in Gefahr ist. Vertrau mir. Ich will nicht mehr, als das kleine Vögelchen zu befreien, bevor die Falle zuschnappt.“
Zögernd schwang die Kleine die Beine über die Bettkante.
„Ich muss aber doch noch meine Truhe packen. Meine Gewänder und Sachen, und …“
„Zieh dir ein Kleid und Schuhe an. Mehr können wir nicht tragen, und mehr wirst du nicht benötigen. In Althopian bekommst du alles, was du brauchst.“
Nun sprach er mit einer Dringlichkeit, die Raýneta aufscheuchte. Sie sprang auf, tappte barfuß hinüber zur Truhe und tastete im Halbdunkel nach dem erstbesten, das ihr in die Hände kam. Der báchorkor wandte sich züchtig ab und schaute aus dem Fenster, während sie sich ihr Nachthemdchen aus- und ein Kleidchen überzog.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie und schlüpfte in ihre Schuhe, zerrte einen Übermantel hervor.
„Galéon. Aber lass es damit für den Moment gut sein. Wir sind immer mehr in Eile. Hast du Geld hier im Raum? Wenn ja, nimm es mit.“
„Ich hab kein Geld. Wenn etwas gekauft werden muss, macht es die opayra.“
„Etwas anderes von Wert? Etwas, das du nicht zurücklassen möchtest?“
Raýneta zögerte. Dann holte sie etwas hervor, das so tief am Grund der Kleidertruhe lag, dass sie beinahe hineingefallen wäre. Eine kleine hölzerne Schatulle. „Das muss mit. Und mein Schäfchen.“
„Schäfchen?“
Sie nahm das Kuscheltier an sich, das noch auf dem Kopfkissen lag. Es handelte sich dabei um die weich ausgestopfte Haut und das Fell eines tot geborenen Lammes, das von geschickter Hand so zusammengefügt und mit gläsernen Augen versehen war, dass es fast ganz natürlich aussah. Osse hatte es einst in Virhavét gekauft und ihr zum Geschenk gemacht, als sie noch ein Wiegenkind gewesen war. Seither hielt sie es in Ehren. Beides und noch ein wenig Kleinkram, der ihr in die Hände fiel, steckte sie in den Reisebeutel, den sie bei Ausritten oft bei sich hatte. Den hatte Truda ihr einst überlassen, als er ihrem Geschmack nicht mehr entsprach.
„Ich hab alles.“
„Sehr gut. Dann lass uns schnell gehen.“ Er schulterte sein eigenes Gepäck, schritt an ihr vorbei auf die Tür zu und legte die Hand darauf.
„Wir gehen durch die Tür? Und zum Tor hinaus?“
„Natürlich. Was hast du denn gedacht?“
„Aber die Torwachen werden uns nicht ins Freie lassen. Ich darf nachts nicht raus, und ohne die opayra schon gar nicht. Und wie willst du ihnen erklären, wo du mit mir hin willst?“
„Gar nicht. Es wird so nicht kommen. Vertraust du mir, Raýneta Emberbey?“
Was für eine absurde Frage. Eine, auf die das Mädchen beim besten Willen keine vernünftige Antwort wusste. Da war etwas, das es nicht benennen konnte, etwas, das der junge Mann an sich hatte, dem sie sich anvertrauen wollte. Ihr Verstand war argwöhnischer. Immerhin gab es keine einsichtsvolle Begründung dafür, dass ein Unbekannter, für den sie heute schon so viel Schelte auf sich hatte nehmen müssen, sie mitten in der Nacht aus Bett und Burg holte. Wenn er wenigstens noch die opayra um Erlaubnis gefragt hätte, dann …
„Ja“, sagte sie. „Ich vertraue dir. Aber ich will, dass mein Vater es weiß.“
„Kleine yarlaranda, wir haben ...“
„Ich war niemals ungehorsam gegen meinen Vater. Er macht sich immer so viel Sorgen. Ohne Abschied bleibe ich hier.“
***
Galéon hatte seine Pläne geändert. Er war in die Kammer des Kindes gekommen, um es vom Schicksal seines Vaters in Kenntnis zu setzen und seine Tränen und Trauer mit seinen Worten zu lindern. Um es zu trösten und zu kräftigen, so wie er es für andere schon so unendlich oft getan hatte. Die Zeitspanne, in der das halbwegs ungesehen vonstattengehen konnte, war knapp bemessen. Die opayra würde kaum die ganze Nacht an dem Kleidchen arbeiten, das Raýneta Emberbey niemals tragen würde.
Doch dann kam gleich von zwei Seiten aus etwas näher, das alles änderte, bedrohlich wirkte wie Sturmwolken über dem Meer.
Der báchorkor war hin- und her gerissen. Der Seelenfunke, den er in Raýneta wahrnehmen konnte, flackerte, ein Zeichen dafür, dass nun auch das Leben des Kindes in akuter Gefahr war und jede falsche Entscheidung ihr Schicksal in die eine oder andere Richtung werfen konnte. Das war äußerst sonderbar. Es musste etwas geschehen sein, das im Fluss des Weltenspieles nicht hätte geschehen dürfen, etwas Unvorhergesehenes. Befremdlicherweise schien es jedoch gerade seine eigene Anwesenheit zu sein, die das Flackern beruhigte.
Zugleich war da etwas anderes außerhalb der Burg, eine Gefahr, die ein gänzlich anderes Gewicht und Folgenschwere hatte. Doch das, so redete er sich ein, war das geringere Übel. Dem Äußeren konnte er widerstehen. Für das andere, das menschengemachte Schicksal brauchte es Glück und Präzision. Dem mussten sie ausweichen. Es führte kein Weg daran vorbei. Er musste das kleine Mädchen beschützen, indem er es der dräuenden Todesgefahr entzog und es sicher durch die andere hindurch geleitete, an einen Ort, wo es in Sicherheit war.
Doch dann hatte kindlicher Trotz die Kleine gepackt.
„Ich muss meinem Vater sagen, wo ich hingehe“, hatte sie stur beschlossen. „Lass uns zu ihm gehen. Sonst komme ich nicht mit.“
„Das ist keine gute Idee“, mahnte Galéon.
„Ich will das aber! Ich will ihm sagen, dass ich mit dir gehe.“
„Aber …“
„Woher“, fragte sie listig, „soll ich denn sonst wissen, ob du nicht vielleicht heimlich gekommen bist, mich zu entführen?“
„Das würdest du mir zutrauen?“
„Osse sagt, ich muss immer ganz vorsichtig sein, wenn jemand will, dass ich mitgehe. Manchmal rauben schlimme Menschen kleine Kinder von reichen Leuten und wollen die zurückverkaufen. Davor soll ich mich hüten, sagt er, denn ich sei mehr wert als alle Edelsteine der Welt zusammen, und niemand könne es zahlen.“
„Dein Vater wird zu dieser Zeit sehr fest schlafen. Willst du ihn wirklich wecken?“
„Nein. Ich will ihm nur sagen, dass er sich keine Sorgen machen soll.“
Galéon seufzte. Noch länger mit dem Kind zu diskutieren, wäre leichtsinnig. Ihr ihren Wunsch zu erfüllen, würde ihr zur Unzeit Schmerzen bereiten. Wenn die Zeit nur nicht so drängte!
„Also gut“, gab er nach. „Aber du musst mir versprechen, mäuschenstill zu sein. Es darf uns niemand hören und sehen. Und wenn dein Vater … schläft, dann darfst du nicht versuchen, ihn zu wecken.“
Raýneta war einverstanden, endlich! Sie führte ihn durch die nächtliche Burg fast denselben Weg wie am Mittag zum Gemach des yarl im Turm. Galéon hatte damit gerechnet, dass noch viel mehr Leute hätten unterwegs sein müssen, aber offenbar zog es zu dieser noch nicht allzu späten Stunde die Burgleute ums Licht in der Halle zusammen, so wie die Nachtschmetterlinge um ein offenes Feuer tanzten.
Raýnetas Laternchen reichte gerade aus, um die Treppe so zu erhellen, dass sie beide nicht stolperten.
Offenbar war noch jemandem die Dunkelheit zupassgekommen. In der Kammer des yarl gab jemand sich keine besondere Mühe damit, seine Anwesenheit zu verbergen. Es war zu hören, noch bevor sie den kurzen Korridor betraten, der von der Treppe abführte. Jemand raschelte und rückte Dinge herum.
Raýneta erstarrte, drehte sich ihm zu und wollte etwas sagen. Galéon legte den Finger an ihre Lippen und schüttelte den Kopf. Dann zog er das Kind sacht wieder zurück auf die Treppe und ein paar Stufen weiter nach oben, hinter die nächste Windung der Wendeltreppe.
„Mein Vater“, wisperte das Kind und setzte sich unwillig zur Wehr. „Da ist jemand bei meinem Vater!“
„Still!“, zischte er sie energisch an und brachte das Nachtlaternchen zum Erlöschen. Keinen Augenblick zu früh, denn nun hörte das Rumoren in yarl Emberbeys Gemach auf. Eine Weile war es still. Dann gab es einige andersartige, feuchte und reißende Geräusche, und schließlich trat niemand anders als Venghiár Emberbey mit einem eigenen, helleren Licht auf die Treppe. Sein Gesicht war verstörend heiter, und im zuckenden Flammenschein waren die nassen Flecken auf seinem Hemd deutlich zu sehen. Ein ganz zarter, metallischer Geruch stieg von ihm auf. Der junge Ritter wischte seinen Dolch achtlos an einem Stück schimmerndem Stoff ab und steckte das Messer wieder ein.
Raýneta zuckte. Das Blut, das Blut des Vaters auf dem feinen Festkleidchen!
Galéon verfluchte sich selbst. Das war sie also, die Gefahr innerhalb der Burg. Venghiár Emberbey, der zu dieser Zeit an diesem Ort nichts zu suchen hatte, mehr noch: nach dem Willen der Mächte gar nicht hier sein konnte! Ein Fehler im Weltenspiel! Warum nur hatte er dem Kind nachgegeben? Nur ein paar Hundert Herzschläge früher, und er hätte diese viel zu nahe Begegnung vermeiden können. Oder wäre erst recht in die Falle gegangen. Denn dass der junge Kerl etwas Ungutes vorhatte, daran bestand kein Zweifel. Warum sonst sollte er einen friedlich entschlafenen Leichnam schänden, zweifellos, um es wie einen Mord aussehen zu lassen?
Raýneta war stocksteif vor Entsetzen. Aber auf die Idee, nach oben zu schauen kam Venghiár Emberbey nicht. Er besann sich kurz. Dann dimmte er seine Laterne und lief eilig die Treppe hinab.
„Wir haben keine Zeit“, wisperte Galéon ruhig, warf dem jungen Mann geistesgegenwärtig einen winzigen Zauber nach und weckte das Flämmchen wieder. Das Kind war so verstört, dass es sich darüber gar nicht wunderte.
„Mein Vater“, wimmerte Raýneta. „Ich muss …“
„Dein Vater“, sagte Galéon sanft, „kann dich nicht mehr hören, Raýneta. Und du solltest ihn nicht so sehen.“
„Mein Vater ...“
„Nein. Ich kann dir das nicht erlauben. Ich will, dass du dich an ihn erinnerst, wie er heute Mittag war, wie er dich angelächelt hat, als er dir sagte, wie lieb er dich hat.“
Sie starrte ihn an. Sie hatte begriffen, was das bedeutete, aber es erreichte ihren Verstand noch nicht zur Gänze.
„Sag, dass das nicht wahr ist“, flehte sie kläglich. Und auch das hatte er schon so oft gehört, nicht nur von Kindern. Und es tat ihm immer wieder weh.
„Hör zu, Vögelchen. Was immer dein Weitvetter im Schilde führt, wir werden gerade so viel Zeit haben, bis er seine Kleidung gewechselt hat. Begreifst du, in welcher Gefahr du schwebst? Begreifst du, dass ich es nur gut mit dir meine? Kannst du, nur für eine Weile, einfach nur an den nächsten Moment denken, nicht an das, was geschehen ist?“
Raýneta zitterte am ganzen Leib. Aber sie schien vernünftig zu sein. Er spürte ihr Herz unter seiner Hand klopfen und bemühte sich, ihre Gedanken an den toten Vater so klein zu halten wie die Kerzenflamme. Die durften sie nicht überwältigen, nicht jetzt, wo er nicht erzählen konnte.
„Komm mit“, sagte sie betäubt. „Wir brauchen ein Pferd.“
***
Es kostete Venghiár Emberbey nur wenige Hundert Herzschläge, sich ungesehen in sein eigenes Gemach zu begeben, das nur einige Schritte von dem des yarl entfernt lag, wenn auch eine Etage tiefer im Haupthaus der Burg. Auch dieser kurzen Strecke begegnete ihm noch niemand. Gut so, aber lange würde das nicht so bleiben. Er selbst hatte den Leuten geboten, Lichter zu nehmen und die Burg zu durchkämmen. Natürlich begannen sie damit ganz unten, und aus den Augenwinkeln sah er unten im Hof schon die ersten mit Fackeln und Kerzen ausschwärmen. Bald würden die Ersten im Gebäude sein.
Venghiár riss sich noch halb auf dem Flur das blutige Hemd vom Leib, raffte den Stoff zum Bündel zusammen und stopfte es nachlässig in seine Kleidertruhe. Entsorgen musste er Hemd und das Kinderkleid, das er als Putzlappen hergenommen hatte, später. Sein Waschgeschirr stand bereit, und mit Verachtung säuberte er sich von Spritzern, die seine Haut berührt hatten. Dann schlüpfte er in eine saubere Tunika.
Einer Eingebung folgend griff er sich im Hinausgehen seinen Jagdbogen als Waffe und verlor keine Zeit, wieder ins Freie zu laufen, hinauf auf den Wehrgang auf der Krone der Hofmauer. Da unten stöberten sie nun hinter Fässern und Kisten und in den Unterständen der Handwerker. Ein Meer schwindsüchtiger Kerzlein und schlechter billiger Fackeln.
„Leute! Hört her!“, rief er aus und alle Blicke wandten sich ihm zu! „Hütet Euch und fleht zu den Mächten um Gnade! Es ist ein Mörder in diesen Mauern.“
Ein erschrockenes Aufjapsen ging durch die Menge. Die Mauern warfen das Geräusch zu ihm zurück; es klang sonderbar. Schallendes Entsetzen, sozusagen.
„Wie – ein Mörder?“, rief jemand.
„Schreckliches ist in dieser Nacht über uns hereingebrochen!“, rief er. „Es drängte mich, meinem Großonkel von meiner Reise zu berichten. Denn Herr Alsgör, unser geliebter Herr, liegt oben in seinem Gemach mit zerschnittener Kehle und zerstochenem Herzen in seinem Blut. Feige im Schlaf gemordet und beraubt!“
Augenblicke später befand alles in Jammern, Klage und Kopflosigkeit. Tumult tobte los, Stimmengewirr schwang sich empor, Empörung ergriff die Menge.
„Aber er hat doch ganz friedlich geschlafen! Ich hatte ihm doch noch seinen Abendtrunk gebracht! Da hat er noch geatmet!“
„Ich kann das bezeugen!“, schrillte eine andere Magd.
„Wer sollte das getan haben?“, rief die opayra jammernd aus. „Wer sollte unseren guten Herrn ermorden?“
„Jemand“, fiel Venghiár ihr ins Wort, „der wohl nicht abwarten konnte, bis es nach dem Willen der Mächte geschieht! Jemand, der ganz offenkundig im Geheimen geschickt wurde, im Auftrag von einem, dem Herr Alsgör, möge er hinter den Träumen seinen Frieden haben, mit schlagendem Herzen im Wege war! Vielleicht einem, der in trügerischer Gestalt herkam und statt auf Brot auf Blut aus war!“
„Bei den Mächten! Der báchorkor etwa?“
„Herausgekommen ist hier jedenfalls niemand“, beteuerte einer der Torwächter, der aus Rodekliv eifrig. „An uns ist niemand vorbeigekommen!“
Unfassbar, wie lange es dauerte, bis dieses dumme Volk auf das Offensichtliche kam! „Ich wüsste nicht, einen von Euch darüber anzuklagen oder auch nur zu verdächtigen!“, rief Venghiár. „Aber diesen báchorkor, der sich so erstaunlich unsichtbar zu machen weiß, den will ich augenblicklich hier vor mir sehen!“
„Der muss noch hier sein!“
„Ja, lasst uns weiter suchen!“
„Sputet Euch! Bringt der Kerl her! Das eilt mehr als die Trauer um unseren Herrn! In dessen Gemach war er längst nicht mehr zu finden!“
„Suchen wir nach ihm! Durchsucht die Burg!“
„Weckt die Schlafenden! Und sucht nach der Beute!“, forderte Venghiár.
„Herr, was ist denn gestohlen worden?“
Venghiár war für einen Moment irritiert. Dann besann er sich. Natürlich, woher sollten sie das wissen? „Die Amtskette des mynstir! Den Mörder verführte wohl das Gold!“
Wie die Kette aussah, das wusste jeder in der Burg. Es war wie ein Startsignal. „Sucht danach!“, rief es hier und da, und: „Wir finden den Verbrecher!“
„Gebt Acht auf Euch!“, setzte Venghiár noch eines darauf. „Der Mordbube ist bewaffnet!“
„Herr!“, rief die opayra plötzlich aus. „Bei den Mächten, das Kind! Was, wenn …“
Perfekt! Was für ein trefflicher Moment, sich bei dieser Gelegenheit um das zweite Problem zu kümmern. Die alte Glucke bot ihm den meisterhaften Vorwand! Venghiár pries die Mächte, die es so gut mit ihm meinten in dieser Nacht! Ob sie ihm den Schwarzmantel geschickt hatten?
„Sucht weiter! Sucht vom Keller bis in den Turm! Für die Sicherheit meiner geliebten Weitnichte sorge ich persönlich! Das bin ich Herrn Alsgör schuldig!“
Gut fünf Dutzend Menschen, Männer, Frauen, alt und jung stürmten, teils die Treppe hinauf, teils an ihr vorbei zur Halle, zum Stall, zur Küche. Venghiár beobachtete das kurz und war höchst zufrieden mit sich. Verdacht geschöpft hatte niemand von den Tölpeln. Und wenn beides noch in der Burg war, Kette und Dieb, dann würde es ihm wohl nicht lange verborgen bleiben. Sobald der Morgen graute und Pataghíus Glanz im Süden aufstieg, dann läge die Zukunft des Hauses Emberbey ganz allein in seiner Hand. Man würde stolz auf ihn sein.