Autorinnenhinweis: Im Hinblick auf die (hoffentlich nur temporäre) Abschaltung von Belletristica zum Monatsende habe ich "Scherbenlied" nun behelfsweise auf Wattpad angelegt. Wer also ab April weiterverfolgen will, wie es mit der Geschichte weitergeht, findet die neuen Kapitel auf https://www.wattpad.com/story/391205368-scherbenlied-oder-die-suche-nach-dem-b%C3%B6sen . Ich werde das Buch auf Wattpad wieder offline nehmen, sobald es hier in auf dieser Plattform weitergeht. -- Wer will, kann die neuen Kapitel auch direkt ins Postfach bekommen - schreibt mir einfach kurz eine PM. Weiterhin viel Spaß!
Manjév von Wijdlant und Spagor erwachte, als flauschiges Fell an ihrer Wange entlang strich. Sie schob es sacht mit der Hand beiseite, ohne die Augen zu öffnen.
„Truda“, murmelte sie, „hast du wieder die Katze eingelassen?“
Truda reagierte nicht. Dafür kitzelte etwas federzartes Manjév an der Nase.
Die teirandanja schlug die Augen auf und schaute hin. Neben ihr, auf dem üppigen weichen Kissen, im schwachen Schein der Nachtlaterne an der Wand neben dem Bett, hockte ein Eichhörnchen mit seidig schwarzem Pelz.
„Dýamirée?“, wisperte Manjév verschlafen.
Das Eichhörnchen blinzelte. Seine Äuglein schimmerten silbrig-grün.
„Weiß dein Vater, dass du hier bist?“
Das Tier deutete ein Nicken an.
„Advon ist auch hier?“
Das Eichhörnchen hopste vom Kissen und kletterte flink das Gestänge des Betthimmels hinauf. Es wirkte ungeduldig. Die teirandanja schlüpfte unter ihrer Decke hervor und schlich am schlichteren Nachtlager ihrer jungen Hofdame vorbei. Truda Emberbey hatte für gewöhnlich einen leichten Schlaf, aber der Ausritt mit yarl Moréaval früher am Tag hatte beide Mädchen erschöpft. Der yarl hatte seine junge Herrin und deren Begleiterin zunächst durch den herbstlichen Wald begleitet, bis es Truda in den Sinn gekommen war, das Gelände für das vasposár anschauen zu wollen, von Neugier getrieben. Der gutmütige Ritter hatte sich vom Schmeicheln der jungen Damen erweichen lassen und sie zu der Planwiese unweit der Burg geführt, wo Turnierbahn und Tribünen errichtet wurden und erste Aufbauten bereits standen. Einige viel zu früh angereiste Gäste hatten ihre Zelte in der Nähe aufgeschlagen. Und so hatte die teirandanja unter dem wachsamen Auge des Ritters außerplanmäßig und huldvoll die Aufwartung weit gereister Gäste entgegengenommen, unter anderem die eines ehrgeizigen yarl aus den Eislanden von Ghelazia, der einen schüchternen, stämmigen Sohn vorstellte, der beim Anblick der jungen Mädchen errötete wie eine Zerisie [≈ kirschenähnliches Steinobst] und kein gerades Wort hervorbrachte. Truda hatte das drollig gefunden und den ganzen Rückweg lang noch darüber gekichert.
Manjév griff sich ein Überkleid, das auf einer der Wäschetruhen bereit lag, schlüpfte hinein und schlang sich einen Gürtel um. Kaum hatte sie ihre Schuhe am Fuß und die Tür einen Spalt aufgeschwenkt, huschte das Eichhörnchen voraus. Flink und lautlos hopste das Tier den Gang entlang und auf den Lichtschein zu, den die Lampe der beiden Waffenknechte warf, die den Zugang zu den herrschaftlichen Gemächern bewachten. Anders als die Tagwache vertrieben die beiden sich die Zeit mit einem Kartenspiel, das weniger geräuschintensiv war als der Knobelbecher ihrer Kameraden.
Die teirandanja verharrte in der Dunkelheit des Flures. Sie kannte das Spiel, das nun folgen würde. Sie hatte es in den vergangenen Sommern mehr als einmal mit der geheimnisvollen Freundin gespielt, um unauffällig die Burg verlassen zu können. Zwar hätte sich niemand der teirandanja im eigenen Haus entgegengestellt. Doch möglicherweise hätten die braven Männer lästige Fragen gestellt oder ihr ihren Begleitschutz aufgedrängt. Beides konnten sie nun nicht brauchen.
Das schwarze Eichhörnchen sprang unvermittelt mit einem Satz auf das Tischchen, das die Wächter als Ablage nutzten. Es schnappte einem der verdutzten Männer einen Teil der Karten aus der Hand und sprang damit am Wandteppich gleich daneben empor bis zu der Stange, an der er aufgehängt war.
„Na sowas!Wo kommt das her?“, fragte der eine Wachposten überrascht.
„Von draußen wahrscheinlich!“
„Was will es mit den Karten?“
Das Eichhörnchen nahm die Karten zwischen die Vorderpfoten. Es sah aus, als läse es in einem kleinen Pergament.
„Und nun? Ich hatte so ein gutes Blatt!“
„Vielleicht hat es Hunger. He, du! Schau mal, was ich für dich habe!“ Der Wächter holte ein in ein Tüchlein eingeschlagenes Päckchen hervor und förderte einen trockenen Zelten [keksartiges Kleingebäck] heraus.
Das Eichhörnchen schnupperte und reckte sich vor. Der Wächter streckte, sehr zur Belustigung seines Kameraden, die eine Hand nach ihm aus und bot ihm auf der anderen die Nascherei an.
„Komm schon“, lockte der Mann. „Gib mir die Karten zurück, dafür bekommst du was Süßes.“
Das Tier schien mir wiegendem Köpfchen ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken.
„Wie possierlich“, sagte der andere Wächter. „Das muss zahm sein. Bestimmt ist es einem Gaukler ausgebüxt.“
„Soweit ich weiß, sind noch gar keine angereist. Nun komm schon, Tierchen, sei brav!“
Das Eichhörnchen stieg behutsam auf die leere Hand des Wachpostens, die Spielkarten fest im Mäulchen. Interessiert begutachtete es den Zelten.
Dann schnellte es vor, landete überraschend auf dem Kopf des Mannes und klammerte sich dort fest. Der Wachposten unterdrückte einen Aufschrei, ließ das Naschwerk fallen und versuchte, das Tier abzustreifen. Sicher fühlten sich dessen kleine scharfe Krallen unangenehm an. Aber das Eichhörnchen war flink, glitt auf seine Schulter herunter und jagte an seiner Kleidung, Armen und Beinen auf und ab, die Spielkarten fest im Maul.
Der zweite Wächter sah einen Moment lang erstaunt zu und hatte dann alle Mühe, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, so komisch sah das aus.
„Lach nicht so blöd!“, schimpfte der Angefallene empört. „Hilf mir! Das kratzt!“
Die beiden waren abgelenkt, während das Eichhörnchen mitsamt Kartenspiel wieder auf den Wandteppich floh und herausfordernd mit dem Schwanz winkte.
Manjév von Wijdlant und Spagor grinste und huschte die Treppe hinunter. Das war gelungen.
Es bestand keine Notwendigkeit, in der Burg von Wijdlant mehr Wachen zu postieren als nötig. Es gab nur wenige Stellen, wo Türen zu sichern waren. Die Familie wurde beschützt, und natürlich der geheime Raum, in dem die wichtigen Dokumente und Münzen lagen. Aber der war im Hauptgebäude der Burg, wo sich auch die Halle befand. Und natürlich war das große Eingangstor beaufsichtigt. Aber das war kein Problem, denn um in den Garten zu gelangen, musste Manjév nicht ins Freie. Das Mädchen wählte den Weg über den alten Wehrgang der Außenmauer, freute sich über das Licht von Noktámas Juwel, das ihre Schritte günstig erhellte, und nahm dann die steile Treppe, die an der Innenseite der Mauer in den rückwärtigen Teil der Burg und den Garten führte. Das war der übliche Treffpunkt, wenn der junge Regenbogenritter und die Schattensängerin inoffiziell in der Burg auftauchten. Das geschah zwar nicht regelmäßig, aber doch ab und zu.
Manjév musste sich dort nicht lange umschauen. Unweit der Rosenlaube hörte sie Advon Irísolor schelten. Auch das gewaltige Tier an seiner Seite war im Mondschein nicht zu übersehen. Als die teirandanja sich näherte, hörte sie das Mahlen seiner Zähne.
„Maß- und zügellos bist du“, schimpfte der junge Magier halblaut. „Irgendwann wird das übel ausgehen!“
„Was hat er denn gefressen?“, erkundigte Manjév sich leise, indem sie sich dem Regenbogenritter näherte.
„Manjév!“ Advon wandte sich ertappt von seinem volaycorn ab und verneigte sich höflich vor ihr. „Ich habe es leider erst bemerkt, als er es schon im Maul hatte. Einen Süßkohl hat er geraubt, der Gierhals. Ich hatte nur kurz nicht hingeschaut.“
„Süßkohl ist scheußlich.“ Sie tätschelte dem gehörnten Tier furchtlos den Hals. „Gut gemacht, Farbenspiel. Was verschafft mir die Ehre eures Besuches, Advon?“
„Freust du dich, uns zu sehen?“
„Selbstverständlich. Es erscheint mir nur etwas beunruhigend, dass ihr im Verborgenen kommt, statt bei Tageslicht einfach das Tor zu benutzen. Und ich hatte Euch erst zum vasposár erwartet. Warum die Heimlichkeit?“
„Lass uns das an einem anderen Ort bereden.“ Er unterbrach sich, als etwas im Laub am Boden raschelte, aber es war nur das Eichhörnchen, das geschwind an dem Einhorn hinaufkletterte. Den Zelten hatte es im Maul wie eine Beute. „Lass mich dir beim Aufsteigen helfen. Wir fliegen ein Stück von der Burg weg. Es ist anstrengend, hier unbemerkt zu bleiben.“
„Und wenn jemand bemerkt, dass ich weg bin?“
„Du bist längst zurück, bevor Pataghíu seinen Glanz entfaltet. Wir sind sehr achtsam. Darf ich dich bitten?“
Sie nickte ihm huldvoll zu, und ihr Herz klopfte in Vorfreude. Es war nicht das erste Mal, dass Advon mit ihr auf Farbenspiels Rücken unter dem Himmel geflogen war und ihr das Weltenspiel so gezeigt hatte, wie ein Vogel es sah. Das war zwar nicht ausdrücklich verboten, aber von Elosál und Cýelú Irísolor gleichermaßen ungern gesehen. Sowohl die fajía als auch die Regenbogenritter wussten, dass Advon es damit nicht allzu genau nahm. Unkundige, so hatte Advon es ihr einmal erklärt, hatten auf dem Rücken der volaycornay allenfalls in Notfällen etwas zu suchen. Also bemühten sie sich darum, es diskret zu halten.
Kurz darauf saß die teirandanja mit zerzaustem Haar und rauschhaftem Entzücken sicher bei dem jungen Mann im Sattel. Das Eichhörnchen hockte auf dem Hals den geflügelten Rosses zwischen den flaumzartgefiederten Ohren; Gegenwind wehte Manjév seinen puscheligen Schweif entgegen. Da Farbenspiel in der Enge des Gartens keinen Anlauf zum Starten nehmen konnte, hatte er aufflattern müssen wie ein gewaltiges Huhn und dabei viel Staub und Laub aufgewirbelt.
Manjév fragte sich unwillkürlich, wie viel Magie der junge Mann wohl dafür aufwenden musste, dass niemand von dem Getöse auf den Plan gerufen wurde. Sie wusste, dass es zu Advons Künsten gehörte, mit seinem puren Willen dafür zu sorgen, dass Menschen Dinge taten oder unterließen.
Nun galoppierte Farbenspiel lautlos am Himmel, umkreiste in Noktámas Schatten den hohen Turm und bog ostwärts, in Richtung des Turniergeländes ab. Einige kleine Feuerchen ließen erahnen, wo die auswärtigen Gäste ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
„Dort unten wird es also stattfinden?“
„Ja. Du musst vorsichtig sein, Advon. In den Zelten schlafen Leute, die es gar nicht erwarten konnten, hierher zu kommen.“
Advon neigte sich vor und spähte interessiert hinab. Viel zu erkennen war aus dieser Entfernung im Mondschein nicht. Aber Dýamirée nahm mit ihren Sinnen sicherlich mehr wahr, als Manjév sich vorstellen konnte.
„Wer ist das denn, der sich hier so früh eingefunden hat?“
„Ich hab mir all die Namen nicht gemerkt, die Herr Jóndere genannt hat. Ein Herr mit einem Brautwerber aus Ycelia, denke ich. Einer aus Ghelazia, mit seinem Sohn. Ich glaube, dem gefiel Truda sehr. Und noch einer aus Foráquáia, weit aus dem Südwesten. Der war sehr höflich, aber viel zu alt. Und noch einer aus dem Osten, der kein Wappen hatte.“
„Aha? Aus dem Osten?“
„Mit dem haben wir nicht länger geredet. Er hat uns auch nicht angesprochen.“
„Woher weißt du dann, woher er kam?“
„Herr Jóndere erwähnte es. Der Mann ist mit seinen Leuten wohl schon seit ein paar Tagen zugegen.“
„Ohne sich zu erkennen zu geben?“
„Oh, das wird er getan haben. Zumindest dem maedlor gegenüber, der die Wappenrolle führt. Es ist aber sein Recht, ohne Namen zu wettstreiten. Sollte er siegreich sein, muss er sein Wappen vorzeigen.“
„Und wieso die Maskerade?“
„Möglicherweise ist er ein Herr mit mehreren Brüdern, die ebenfalls antreten. Ein landloser yarl, oder einer ohne Erbe.“
„Schade. Es wäre gut gewesen zu wissen, wer das ist.“
Sie fanden eine kleine Lichtng in einem Birkenwald, wo Farbenspiel niedergehen konnte. Kaum hatte das Tier wieder Boden unter den Hufen, huschte das Eichhörnchen hinab und verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt.
„Deine Wächter sind Rüpel“, beschwerte Dýamirée sich, steckte dem volaycorn den erbeuteten Zelten zu und strich sich ihr Gewand glatt. „Einer hat versucht, mich am Schwanz zu packen!“
„Ich würde sie dafür rügen. Aber wie sollte ich davon wissen?“
Die Mädchen umarmten einander. Farbenspiel machte sich unverzüglich erneut die Suche nach genießbarem Grün, köstliche Pflanzen, die er im Süden am Rande der Wüste nicht vorfand. Advon warf einen Hauch Sommerwärme in die feuchtfrische Herbstnacht hinaus, sodass die drei sich auf trockenem Moos niederlassen konnten, und beschwor ein helles Licht zwischen ihnen, das flackerte wie ein kleines warmes Feuer, ohne etwas zu verzehren.
„Das ist ein Schutz“, erklärte er. „Solange wir im Schein dieses Lichtes sitzen, wird uns niemand belauschen können.“
Für die Schattensängerin waren solche Zaubereien nichts weiter Beachtenswertes. Aber etwas anderes erregte ihr Interesse „Was hast du denn da angezogen?“, fragte Dýamirée Lagoscyre. „Ist das eine neue Mode?“
Manjév schaute an sich herab. „Oh! Das ist ja gar nicht mein Gewand. Ich muss in der Eile und Dunkelheit Trudas Sachen erwischt haben.“ Sie strich verlegen über den honigfarbenen Stoff, fein bestickt mit dem Wappen der Familie Emberbey, auf dem drei Fische prangten. „Wie ärgerlich. Naja. Sie hat genug anzuziehen.“
„Was ist mit Osse Emberbey? Weißt du, wo er ist?“
„Meine yarlandoray sind unterwegs, um ihn auf seinem Weg abzufangen und ihn zu bewachen. Es war gar nicht so einfach, alle zugleich gerade jetzt aus ihrem Dienst zu entfernen.“
„Sind deine Eltern misstrauisch geworden?“
„Natürlich. Die jungen Herren werden sich manche Tadel anhören müssen, wenn sie wieder zurückkehren. Ich hoffe, sie sind spätestens übermorgen wieder da. Mitsamt Osse.“ Sie lachte verlegen. „Ich bin so froh, wenn er endlich dauerhaft hier ist und mir all diese lästigen Dinge vom Hals hält. Und Truda erst! Sie hat ihren Bruder seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber nun ihr – was treibt euch in aller Heimlichkeit jetzt schon hierher?“
„Ich hatte mich gefragt, ob es mir wohl gestattet wäre, an deinem vasposár teilzunehmen.“
Das war ein Anliegen, mit dem Manjév nicht gerechnet hätte. Advon machte ein so harmloses Gesicht, dass es verdächtig war. „Du? Warum?“
„Er sieht nicht ein, dass die anderen jungen Männer ihren Spaß haben und er das Nachsehen haben soll.“ Dýamirée Lagoscyre bemühte sich ebenfalls um eine unbewegte Miene. „Er langweilt sich im Cielástel.“
„So. Tatsächlich?“
„Es passiert dort nicht viel. Aurópéa darf ich nach wie vor nicht betreten.“ Advon grinste. „Zumindest nicht so, dass es jemand bemerkt. Und im Boscargén … nun, ich glaube, Meister Yalomiro ist zuweilen recht froh, wenn ich anderswo zu tun habe. Ich glaube, ich mache ihn nervös.“
Dýamirée knuffte ihn tadelnd vor die Schulter. Manjév aber genügte diese Antwort nicht.
„Advon“, sagte sie, „was denkst du, was geschieht, wenn ein Magier den Wettstreit mit all diesen jungen Männern sucht? Niemand wird sich darauf einlassen wollen, und alle werden sich beklagen.“
„Ich will ja mit niemandem wettstreiten. Nun, zumindest nicht um eines Sieges willen. Ich will einfach nur in der Nähe sein, falls etwas … geschieht.“
Manjév runzelte die Stirn. „Ihr verderbt mir nach und nach die Freude an meinem eigenen Fest mit eurer Schwarzmalerei. Erst Meister Yalomiro und nun ihr zwei. Habt ihr eine Vorstellung davon, wie viele Leute bereits dazu abgestellt sind, nur auf meine Sicherheit zu achten? Herr Jóndere ist schlimmer als ein scharfer Wachhund! Ich muss Tíjnje mehrfach täglich bitten, ihren Vater mit irgendwelchem Tochterkram abzulenken, um ein paar Atemzüge lang unbeobachtet zu sein.“
„Du sitzt gerade weit außer Sichtweite deiner Burg, mitten in der Nacht in einem Wald, ohne dass das jemand verhindert hätte.“
Manjév wollte aufbegehren. Zu gern hätte sie darauf hingewiesen, dass es bei ihrer Entführung aus der bewachten Kemenate im Herzen der Burg schließlich mit Zauberei zugegangen war. Aber ein Geräusch unterbrach sie, ein kehliges Prusten. Farbenspiel stand mit hochgerecktem Kopf und zitternden Flügeln zwischen den Bäumen und hatte seine Ohren aufmerksam aufgestellt. Dýamirée hob die Hand und legte den Finger an die Lippen. Beiläufig zog sie sich ihr Schultertuch als Schleier über.
Advon blickte sich um und griff an sein Schwert.
„Ist da jemand?“, fragte er in Richtung der Büsche hinter sich, zwischen den Bäumen. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann entfernten sich Schritte, eilig, aber zu laut, als dass jemand sich Mühe geben würde, heimlich davonzuschleichen. Ein kleines Licht blitzte zwischen den Baumstämmen auf. Eine auffällige kleine Handlampe, die sicher nicht dazu beitragen sollte, die Anwesenheit ihres Besitzers zu verbergen.
Der Regenbogenritter runzelte die Stirn. Dann wandte er sich wieder der teirandanja zu.
„Willst du ihm nicht nach“, fragte Manjév erstaunt.
„Nein, wozu? Wer immer das war, wahrscheinlich haben wir ihn verstört. Gehört hat er nichts.“
„Aber …“
„Wir sind nicht allein im Wald, Manjév. Die Zelte sind nur ein paar Steinwürfe entfernt.Das war einer von deinen Gästen oder deren Gefolge, der sich erleichtern wollte.“
„Ja“, kicherte Dýamirée. „Und stell dir vor, der arme Kerl hätte das arglos in Sichtweite von zwei Damen getan, wenn er uns nicht rechtzeitig bemerkt hätte.“
„Er wird sich über Damen im Wald wundern, zu nachtschlafender Zeit.“
„Er wird annehmen, dass er das nur geträumt hat. Besonders, wenn er Farbenspiel gesehen hat.“ Advon zwinkerte. Unter den Bäumen bahnte sich das volaycorn einen Weg tiefer ins köstliche, Beeren tragende Gebüsch. Manjév entspannte sich. Wenn die Magier so sorglos waren, dann hatten sie sicherlich Vorkehrungen getroffen, um diese Zusammenkunft wirklich geheim zu halten. Aber zu lange konnten sie sich damit nicht aufhalten.
„Meister Yalomiro schickt euch, damit nichts … Magisches geschieht, nicht wahr? Er hat mir von dem Brettspiel erzählt.“
„Wir alle haben gesehen, wie das Spielbrett außer Kontrolle geriet. Es bahnt sich etwas an, Manjév, und wir wären froh darum, wenn wir uns irrten.“
„Aber warum mein vasposár? Das ist doch alles nur eine übertrieben aufwändige Formalität! Als ob ich irgendjemanden von den Wettstreitern auch nur ernsthaft in Erwägung ziehen würde.“
„Dann hast du also einen deiner yarlandoray gewählt?“
„Jetzt fangt ihr nicht auch damit an! Mir können sie allesamt gestohlen bleiben.“ Sie runzelte die Stirn und fügte dann leise hinzu: „Nein. Dafür müsste ich mich entschuldigen. So habe ich das nicht gemeint. Aber wieso macht ihr Magier so viel Aufhebens um eine belanglose Prachtfeier? Was hat das alles zu bedeuten?“
„Wir wissen es nicht. Aber was sonst gibt es dieser Tage, das so viele Ritter an einem Ort zusammenführt?“
„Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, Manjév. Wir werden so diskret und unauffällig sein, wie es uns nur möglich ist. Du wirst uns bei deinem großen Fest nur bemerken, weil du unsere Verkleidungen kennst. Und wenn wir uns am Ende geirrt haben, nun … dann hatten wir zumindest alle ein wenig Spaß.“
Die teirandanja schaute von einem zum anderen. Und dann hinüber zu Farbenspiel, der sich nun an einem der schlanken Birkenstämme das vielfarbige Fell scheuerte.
„Kannst du überhaupt ein gewöhnliches Pferd reiten, Advon? Kannst du ein nichtmagisches Schwert führen, ohne dass es ein Gemetzel gibt?“
„Ich habe noch ein paar Tage Zeit, das zu üben“, sagte Advon unbekümmert.
Dýamirée zuckte die Achseln. Manjév seufzte.
„Nun gut“, gab sie sich geschlagen. „Aber wie ihr das meinen und euren Eltern beibringt, das sei eure Sache.“
„Gut“, stimmte Advon zu und schaute ein wenig überrascht drein. Offenbar hatte er mit mehr Widerstand gerechnet.
„Vielleicht“, fuhr Manjév nachdenklich fort, „kannst du mir tatsächlich einen Gefallen erweisen, wenn du beim Turnier mitmachst, Advon Irísolor. Einen sehr großen, ehrenvollen Dienst.“
„Wenn ich dir eine Freude machen kann, lass mich einfach wissen, was dein Herz begehrt.“
Manjév richtete sich auf. Der Gedanke kam ihr, so klar und selbsterklärend, so offensichtlich wie das Strahlen der Morgensonne.
„Was immer es ist? Bei deiner Ehre? Beim Hellen Tag“
Dýamirée Lagoscyre wandte sich ihr verwirrt zu. Dann erhob sie sich alarmiert. „Vorsicht, Advon! Nicht-“
Aber es war zu spät. „Sag es mir, Manjév. Wie könnte ich einer künftigen teiranda einen Wunsch verwehren?“
„Gut“, sagte Manjév entschlossen. „Dann will ich, dass du Merrit Althopian besiegst.“
***
Sechs Tage war es nun her, seit Dýamirée und Advon auf Farbenspiel durch ihr magisches Portal in Richtung Cielástel geritten waren. Zeit, in der Yalomiro viel geschlafen und versucht hatte, seine maghiscal wieder aufzufrischen. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich so bald wie möglich selbst auf den Weg nach Wijdlant machen wollte.
Natürlich wollte ich ihn begleiten - und hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Obwohl meine eigene Magie sich in all den Jahren um so viel verstärkt und geordnet hatte, hatte ich doch niemals den Versuch gewagt, eine Tiergestalt anzulegen. Das war mir nie geheuer gewesen, und obwohl ich zwischenzeitlich in der Theorie wusste, wie man es anstellte, hatte ich es nie ausprobiert. Diese Verzagtheit rächte sich nun, denn da mir diese entscheidende Fähigkeit fehlte, würde ich mit Yalomiro durch die Schatten laufen müssen. Einfach über das Gebirge zu fliegen wäre diesmal nicht möglich. Der andere Weg würde einige Tage dauern. Und noch etwas anderes machte mich unruhig.
Wenn wir beide den Etaímalon verließen, wäre Noktámas Heiligtum einige Tage verwaist. Zwar war nicht mit unmittelbarer Gefahr zu rechnen, aber Yalomiro hatte bereits wieder damit begonnen, zwischen den Bäumen des Boscargén Magie wie ein Spinnennetz zu verweben, die die Unkundigen fernhalten sollte. Nun war er dabei, die Halle selbst zu sichern, damit niemand eindringen könne, der den Schutzbann im Wald überwunden hätte.
Warum tat er das? Ich fragte mich, wer Interesse daran haben sollte, in den Etaímalon einzudringen. Von den Regenbogenrittern drohte keine Gefahr und im Heiligtum selbst gab es nicht einmal bewegliche Dinge, die einen Dieb verlockt hätten. Was unsere persönliche Habe betraf – das Wertvollste, das sich im Haus befand, waren einige silberne Gerätschaften und ein paar Edelsteine, mit denen es magische Bewandtnis hatte. Nichts, für das es die Mühe wert gewesen wäre, so weite Wege zurückzulegen und einzubrechen. Niemand rechnete mit Schätzen im Boscargén.
Yalomiro ließ sich nicht anmerken, was ihn beschäftigte. Er schaute nicht auf, als ich zu ihm in die Halle kam. Wie üblich zu dieser Stunde saß er auf dem Thron des Großmeisters, hatte ein Gewebe aus mild schimmernder Magie um sich gestrickt und lenkte Energie dorthin, wo Lücken zu schließen waren. Er sang, aber sehr leise, geistesabwesend.
Ich ließ mich auf den Stufen zu der Estrade nieder und betrachtete das Fließen und Pulsieren. Sogar das Netz war mit der Zeit weniger geworden, kleiner, dezenter. Auch in diesem Ritual zeichnete sich die Erschöpfung ab, von der er sich niemals erholt hatte. Unter Noktámas magischem Licht schien selbst seine maghiscal sich zunehmend ein wenig zu trüben, wie Metall, das mit der Zeit anläuft.
Ich tastete nach seiner maghiscal und verband meine eigene damit. Das Silberleuchten glomm ein wenig auf und wurde stabiler. Wir woben gemeinsam an dem Schutzzauber, so als flöchten wir einen Zopf aus mehreren Strängen. All das geschah lautlos, abgesehen von Yalomiros wisperndem Lied, und es dauerte eine Weile, bis wir damit fertig waren. Dann saßen wir einen Moment still da.
„Wenn die beiden sich nicht zu Umwegen haben hinreißen lassen“, brach Yalomiro schließlich das Schweigen, „sind sie wahrscheinlich heute Nacht in Wijdlant angekommen.“
„Meinst du?“
„Ich danke den Mächten, wenn der junge Emberbey in Wijdlant ist, wenn dieses vasposár endlich entschieden ist. Wenn ich weiß, woran wir sind.“
„Du fühlst dich irgendwie verantwortlich, nicht wahr? “
„Ich hätte mich niemals einmischen dürfen. Es wäre mir wohler, wenn die Unkundigen ihre Belange allein regeln könnten. Ich sähe es gern zum Guten gewendet, bevor …“
„Bevor?“
Er neigte sich zu mir vor. „Salghiára … hast du schon einmal darüber nachgedacht, was nach uns sein wird?“
Die Frage erschreckte mich. Er bemerkte das und machte es nicht besser, indem er hinzufügte: „Wir sind die letzten camat’ay.“
„Dýamirée …“
Er lächelte müde. „Wenn ich mir Dýamirée und Advon so miteinander ansehe, frage ich mich, ob die Mächte den beiden verlangen werden, sich zwischen Nacht und Tag zu entscheiden?“
„Sicher nicht. Aber vielleicht könnte ihr Nachkomme beides sein?“
„Nachkomme?“, entfuhr es Yalomiro bestürzt. „Ist etwa-“
„Nein! Wo denkst du hin! Obwohl … die beiden sind jung und lieben einander. Es kann passieren. Und wir sollten uns hüten, es zu beeinflussen.“
„Sicher“, murmelte er kleinlaut. Das erheiterte mich ein wenig.
„Yalomiro, denkst du denn, ich bemerkte nicht, wie eifersüchtig du bist?“
„Eifersüchtig? Ich?“
„Ja, du. Als ob Advon Irísolor dir Dýamirée abspenstig machen wollte. Du kannst sie nicht ihr Leben lang behüten. Sie muss ihren eigenen Weg finden.“
„Ich will lediglich, dass ihr nichts zustößt. Sie weiß doch gar nicht, was es mit der Welt der Unkundigen wirklich auf sich hat. Sie kann sich nicht vorstellen, was alles geschehen mag, wenn Menschen außer Kontrolle geraten.“
„Dann lass sie und Advon es herausfinden. Yalomiro, die beiden haben sich gut mit den jungen Leuten aus Wijdlant angefreundet. Wahrscheinlich verstehen sie dadurch mehr von den Unkundigen, als du ahnst.“
„Wenn es nur bei der Freundschaft bleibt. Es ist nicht gut, wenn Magier zu nahe an den Unkundigen sind, Salghiára. Das haben Schattensänger zu allen Zeiten beherzigt.“
„Was ist denn schlecht daran, wenn Magier und Unkundige freundschaftlich miteinander umgehen?“
„Interessenskonflikte. Vielleicht nicht, was uns, Dýamirée und Advon betrifft. Aber …“
Er unterbrach sich, hob die Hand, ließ das symmetrische Lichtnetz zu Spiralen verwirbeln und betrachtete sie, als hoffe er, in dem ungewohnten Muster Antworten zu finden.
„Mischt man einen Regenbogen mit Dunkelheit – was käme dabei wohl heraus?“ Er gab sich einen Ruck und erhob sich energisch. Das Magiegeflecht riss wie ein altes Spinnennetz und verging in glitzerndem Lichtstaub.
„Angenommen“, fuhr er fort, „Pataghíu und Noktáma lassen es zu, dass Advon und Dýamirée Farben und Schatten vermischen – was wird das Schicksal dieses Letztgeborenen sein?“
„Yalomiro“, sagte ich vorsichtig, „das ist doch noch lange hin.“
„Im Weltenspiel wird alles einmal ein Ende finden. Vielleicht haben die Mächte sich dafür entschieden, das Spiel zu ändern, die Figuren auszutauschen, neue Regeln zu erfinden, so wie wir es vor einigen Tagen mit deinem Spiel aus deiner Welt getan haben. Das muss wohl so sein, damit es nicht irgendwann … langweilig wird. Was vor so langer Zeit mit so vielen Magiern, mit Nachtgeweihten und den Farben des hellen Tages begann, das ist längst vorbei.“
„Wovor fürchtest du dich? Denkst du, Dýamirée und Advon würden ihr Kind später einmal nicht in einem den Mächten gefälligen Sinn erziehen?“
„Ich denke an etwas ganz anderes.“ Er setzte sich zu mir auf die kühlen Steinstufen. „Wenn Pataghíu und Noktáma auf diese Weise mit Magie spielen – was wird das Licht tun?“
„Das Licht?“
„Das Licht spielt immer mit. Wir neigen dazu, das zu vergessen, weil es ohne Unterlass dabei ist. Seine Anwesenheit, seine Entscheidungen, seine Züge bemerken wir erst, wenn es uns nahe kommt. Wenn es zu spät ist.“
Das Licht - die Rotgewandeten. Einen, einen einzigen, von dem wir wussten – den gab es vielleicht noch. Wir wussten nicht mit Sicherheit, ob er seinerzeit den Weg aus dem Chaos heraus geschafft hatte. Vielleicht war er der Einzige gewesen, dessen sich das Widerwesen seinerzeit noch hatte bemächtigen können.
„Was wäre die Option, die das Licht in diesem Spiel hätte?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Yalomiro. „Aber es ist möglicherweise schon dort, wo der nächste Zug geschieht.“