„Was hat mich verraten?“, fragte der Rappenreiter und zog sich den Beutel vom Kopf. Darunter hervor kam ein hübsches, offenkundig vorsätzlich nachlässig rasiertes Gesicht mit braunen Augen, die vor nonchalantem Übermut glänzten. Der junge Mann warf den Beutel beiseite, schüttelte sein volles dunkles Haar und schwang sich dann betont lässig aus dem Sattel. Entspannt schritt er auf den jungen yarl zu.
„Du bist immer noch der erste dabei, mich unentwegt Eulengesicht zu nennen“, versetzte der. „Obwohl du meinen Namen sehr wohl kennst.“
Jándris Altabete grinste und öffnete weit seine Arme. „Osse Emberbey“, sagte er feierlich und umarmte ihn. „Lass mir den Spaß. Du weißt, wie herzlich ich es meine.“
Osse seufzte ergeben und ließ sich umfangen. „Jándris. Lass dir eines raten – zum Straßenräuber taugst du nicht.“
„Nicht? Nun, dann muss ich wohl doch ein hochedler yarl bleiben, wie die anderen.“
„Es ist gut, dass du endlich hier bist, Osse.“ Auch der Hüne entledigte sich seiner Maske und stieg ab. Groß und beeindruckend muskulös war er geworden in den vergangenen Sommern. Das hellbraune Haar und den Bart trug er akkurat gestutzt. Seine Miene zeugte von Sanftmut, die einen absonderlichen Kontrast zu seiner imponierenden Statur bildete.
„Láas Grootplen.“ Osse wollte dem um einige Sommer älteren Mann die Hand reichen, fühlte sich jedoch schon im nächsten Moment in einer bärengleichen Umarmung, die ihm die Luft nahm. Ein großer, freundlicher Bär, der um die Zerbrechlichkeit des Freundes wusste, sich aber wenig darum kümmerte.
Auch der dritte Reiter, der jüngste der drei, hatte sich den Beutel abgezogen und war abgesessen. Er wartete geduldig einen Moment, bis Láas von Osse Emberbey abließ.
„Du hast uns gefehlt, Osse“, sagte er schlicht. Mehr der Worte waren nicht vonnöten. Merrit Althopian fasste Osse sacht bei den Schultern, schloss seine eisblauen Augen und legte seine Stirn vertraut an die seines Freundes. Ein paar Strähnen von seinem weißblonden Haar gerieten dazwischen. Einen verwegenen Kinnbart hatte Merrit sich stehen lassen, wahrscheinlich nach einer neuen Mode, die ihm die Mädchen empfohlen hatten. Osse hatte stets äußerst aufmerksam jedes Wort studiert, das ihm Truda und Tíjnje aus Wijdlant ins ferne Ivaál gesendet hatten. So wusste er, dass es den fánjulaé [≈ junge Mädchen] gefiel, Merrit zu ermuntern und herauszuschmücken. Er hatte nie so recht gewusst, ob er den Freund bemitleiden sollte, dass die Mädchen ihm so sehr zugetan und besorgt um den Eindruck waren, den er auf die teirandanja machte.
Tíjnje Moréaval war es auch, die nun aus dem Wald zu ihnen gestürmt kam. Schon von Weitem winkte sie Osse stürmisch zu, während sie graziös und flink wie ein Waldschäfchen über Wurzeln und Steine sprang. Tíjnje, die Tochter von Láas Grotpleens Schwester und somit dessen Nichte, war einige Sommer jünger als er. Seit ihrer letzten Begegnung war die yarlaranda [≈ junge Edeldame] zu einer bezaubernden fánjula herangewachsen. Ihr dunkles, langes Haar wippte in kessen Locken um ihr Gesicht herum. Bar jeder höfischen Sittsamkeit sauste sie heran und warf sich stürmisch an ihn. Hier, im Herbstwald, ohne gestrenge Beobachter, war das möglich. Hier, im Wald am Rand des Landes ihres Großvaters, da mussten sie alle nicht auf Zucht und Manieren achten. Osse zuckte verlegen zusammen. Er war es nicht gewohnt, von Damen so geherzt zu werden. Tíjnje duftete nach Rosenwasser, aber er entschied, dass sie gerade noch Kind genug war, dass er sie umarmen konnte, ohne dass es ihrer Ehrbarkeit zuwiderlief. „Tíjnje! Wie groß du geworden bist!“
„Ich hab ihnen gesagt, sie sollen dir keine Angst machen“, sprudelte sie ohne Begrüßung los. „Aber dann hat Láas gesagt … und Jándris … und …“
„… und da konnte ich auch nicht anders.“ Merrit zog sich nun auch den Sack vom Leib. Darunter trug er den formellen Überwurf mit dem Wappen seiner Familie, einem silbernen Pferd auf blauem Grund. „Tíjnje, nicht so fest! Du erdrückst ihn uns noch! Wir brauchen ihn heil!“
„Aber ich freu mich doch so! Endlich ist er wieder da!“
„Ich freue mich auch unbändig, dass ihr mir entgegen gekommen seid“, brachte Osse hervor. „Ich habe euch vermisst, euch alle! Aber ich wäre übermorgen Abend ohnehin in Wijdlant eingetroffen. Warum habt ihr mich hier abgefangen?“
„Einfach so“, behauptete Láas, der sich ebenfalls der engen Verkleidung über seinem weizengelben Wappenrock mit dem Bild üppiger Ähren entledigte. Er log nicht besonders gut. Osses Misstrauen war geweckt.
„Woher wusstet ihr, dass ich gerade heute hier vorbeikomme?“
„Wir haben auf dich gewartet. Du hattest Truda geschrieben, mit welcher Reiseschar du herkommst und wann du wo eintriffst. Und Raýneta doch sicher auch, nicht wahr?“
„Natürlich. Mein Vater muss es doch auch erfahren.“
Er zögerte. Die drei Männer und das junge Mädchen wechselten untereinander vielsagende Blicke, die er nicht zu deuten vermochte. Offenbar hatte er gerade etwas bestätigt, das sie befürchtet hatten.
„Wie kommt es, dass ihr alle zusammen den Hofdienst verlassen habt? Wissen die teiranday davon?“
„Ja. Also, zumindest größtenteils“, gab Jándris zu. Sein richtiges Gewand war grün und mit einem Widder geschmückt, der gegen eine Tanne anrannte. „Wir sind nicht offiziell zusammen hier, aber Manjév hat uns allen nach der Ordnung Urlaub gewährt. Láas und Tíjnje sind uns zwei Tage voraus gewesen, um der yarlara von Grootplen bei den Reisevorbereitungen zu helfen. Ich habe eigentlich einen Termin zur Anprobe beim Plattner.“
„Es wird auffallen, dass du nicht da bist.“
„Nur, wenn es ganz dumm läuft. Mein neues Eisenzeug habe ich längst in Wijdlant. Und Merrit …“
„Ich bin genau genommen daheim bei meinem Vater. Ich brauche ein zweites Pferd als Ersatz. Für das vasposár, falls … etwas schiefgeht.“
„Er ist nämlich ganz nervös“, stichelte Jándris gutmütig. „Nicht auszudenken, wenn sein Gaul ausgerechnet dann lahmt, wenn es gilt, diesem schnöseligen Gecken aus Lebréoka eins auf den Helm zu geben.“
„Dafür brauch ich kein Pferd“, zischte Merrit verärgert. „Das schaffe ich sogar bequem in einem Sessel sitzend!“
„Ich sag doch, er ist nervös“, spottete Jándris und wich feixend der Faust aus, die unernst nach seinem Arm boxte.
„Ich verstehe“, sagte Osse taktvoll. Weiter fragen wollte er nicht. Nicht jetzt und vor den anderen. Das hatte Zeit.
„Jedenfalls haben Merrit und ich uns nördlich der Burg getroffen und sind Láas und Tíjnje nach. Die eld-yarlara [≈ hochadlige Dame mit Tochter, also zweite Generation] ist eingeweiht. Wir übernachten auf der Burg Grootplen und brechen morgen früh auf. Wir sind in Eile.“
„Da du gerade das Aufbrechen erwähnst“, sagte Láas, bückte sich nach einer von Osses Kisten und wuchtete sie hoch, „wir haben da hinten unsere Sättel, unser Eisenzeug und ein zweites Maultier mit Packsattel haben wir auch dabei.“
„Wir haben an alles gedacht“, fügte Jándris hinzu.
„Ich hab euch an alles erinnern müssen“, stellte Tíjnje tadelnd klar. „Das Packtier hättet ihr völlig vergessen, vor lauter Maskerade. Osse, du hättest sie sehen sollen! Wie die kleinen Wiegenkinder haben die drei sich gefreut über ihren Streich. Kaum zu glauben, dass sie alle in ein paar Tagen öffentlich vor all den yarlay von nah und fern zu Rittern unserer teirandanja berufen werden. Gut nur, dass ich dabei war und aufgepasst habe!“
„Kaum zu glauben, dass eine Hofdame der künftigen teiranda immer noch so unentwegt schwatzt wie ein launischer Schilfspatz“, kam es freundschaftlich von Láas. Tíjnje schnaubte verächtlich, zog eine Schnute und nahm einen Teil der Pergamente an sich. Merrit und Jándris griffen Osses zweite Kiste. Die Pferde und das Maultier führten sie hinter sich her am Zügel.
„Was hast du da drin, Eulengesicht? Ziegelsteine?“
„Bücher, im Wesentlichen. Ein paar Andenken an Ivaál. Kleine Geschenke für die Damen. Für dich ist auch etwas dabei, Tíjnje. Und natürlich das Geld, das ich in Ivaál für die Dinge bekommen habe, die ich nicht transportieren konnte. In Gold selbstverständlich, damit es weniger Platz wegnimmt.“
„Etwas leichtsinnig, mit viel Geld auf so eine weite Reise zu gehen.“
„Ich habe es von Ivaál bis gerade eben geschafft, zu verheimlichen, yarl Emberbey zu sein. Niemand raubt einen reisenden Studenten aus. Und kein Räuber würde einen Blick in ein Tintenfass werfen. Was sollte ein Räuber auch mit Tinte anfangen?“
„Schlau“, gab Láas anerkennend zu. „Das muss ich mir merken.“
„Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wieso ihr einen solchen Aufwand betreibt, mir entgegen zu kommen. In Wijdlant wird längst aufgefallen sein, dass ihr alle auf Abwegen seid.“
„Keine Sorge, Eulengesicht. Manjév und Truda halten uns den Rücken frei.“
„Meine Schwester habt ihr also auch in die Sache hineingezogen? Bei allen Mächten, was geht denn nur vor?“
Die drei jungen Männer wechselten Blicke miteinander. „Wer sagt es ihm?“, fragte Jándris.
„Wer sagt mir was?“
Tíjnje klemmte sich die Pergamente unter den Arm und legte Osse die Hand auf die schwache Schulter. „Osse … wir haben das alles natürlich nicht gemacht, weil wir es für einen großen Spaß halten. Manjév hat uns gebeten, dich abzufangen.“
Osse hob überrascht die Brauen. Dass die teirandanja höchstpersönlich ihre Gefolgsmänner und ihre engste Vertraute dazu anstiftete, etwas im Geheimen an ihren Eltern, Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor vorbei zu tun, war so ungewöhnlich, dass es etwas Ungeheuerliches damit auf sich haben musste.
„Abzufangen? Warum denn das?“
„Manjév glaubt, dass jemand anderes versucht hätte, dich spätestens zwischen der Herberge nördlich von hier und Wijdlant aufzuhalten, während du allein die letzte Etappe nimmst.“
„Wer soll das sein? Und warum? Niemand weiß, dass ich hier bin.“
„Doch. Jeder, der einen deiner Briefe zu sehen bekommen hat.“
Nun war Osse sich nicht mehr sicher, ob die drei yarlay und die junge yarlara ihn vielleicht doch veralberten. Aber nicht einmal Jándris, der Spaßmacher, zeigte auch nur die Andeutung eines Grinsens.
„Wer?“, fragte er. „Heraus damit.“
„Das Wer können wir nicht beweisen, aber wir denken alle dasselbe. Und das Warum … das solltest du wissen.“
Osse blieb stehen. Vor seinen Füßen segelte ein verfärbtes Blatt von einer Baumkrone zu Boden.
„Mögen die Mächte geben, dass wir uns irren. Wir werden uns für einen falschen Verdacht entschuldigen. Aber es liegt in Venghiárs dringendem Interesse, dass du nicht bei Manjévs vasposár auftauchst. Manjév will sicherstellen, dass du dort wohlbehalten erscheinst. Wir sind deine Leibwache.“
„Venghiár? Mein Weitvetter? Woher nimmt Manjév diese Idee?“
Merrit Althopian setzte die Kiste ab. Aus seiner Gürteltasche förderte er ein kleines gefaltetes und versiegeltes Stück Papier hervor.
„Wir wissen keine Einzelheiten“, erklärte er und nahm Osse einige Pergamente ab, damit der den Brief greifen konnte. „Nur so viel: Meister Yalomiro hat offenbar etwas gesehen, was ihn beunruhigt.“