Der eld-yarlara von Grootplen hatte ihren Sohn, ihre Enkelin und die drei jungen yarlay herzlich empfangen. Jándris und Merrit waren häufige Gäste auf der kleinen Burg ganz im Süden des teirandon, aber von Osse hatte die ältere Dame in den vergangenen Sommern immer nur reden hören. Nun war sie hingerissen von dem artigen, gebildeten jungen Mann, der bei ihnen am Tisch saß und vom fernen yarlmálon Ivaál erzählte, in Worten, die so klar und geschliffen waren wie ein Lesestein. Oder wie die feinen Gläser in einer filigranen Silberfassung. Die Brille hatte Osse Emberbey bereits tragen müssen, bevor ein Unglück ihm auch noch die Schulter ruiniert und ihm endgültig jede Möglichkeit genommen hatte, als tauglicher Kämpfer seinem gestrengen Vater nachzueifern.
„Die teirandanja kann sich glücklich schätzen“, sagte die eld-yarlara herzlich, als sie sich zur Nachtruhe verabschiedete, „dass Ihr endlich heimgekehrt seid, Herr Osse.“
„Es ist mir eine Ehre und eine große Auszeichnung“, antwortete Osse bescheiden, „die Nachfolge Eures hýardor und die meines Vaters anzutreten. Ich werde den Rat und die Erfahrung von Herrn Daap noch lange Zeit nicht missen wollen.“
Dass er seinen eigenen Vater nicht mehr lange um seinen Rat würde bitten können, das erwähnte er nicht. Jeder im Raum wusste es, aber niemand hatte Worte, um etwas Angemessenes darauf zu entgegnen. Also hatten sie den ganzen Abend das Thema gemieden wie einen Stolperdraht.
„Ich komme mit dir, Großmutter“, sagte Tíjnje und erhob sich ebenfalls. „Dann können die jungen Herren ungestört … Männerzeug untereinander sprechen.“ Sie knickste anmutig vor den Junkern, neigte ihre Stirn kurz gegen jene ihres Onkels und folgte der alten Dame und deren Kammermagd aus dem Kaminzimmer. Kaum waren die Damen fort, erschien ein Hausdiener, sammelte die feinen Becher und die Kanne mit den Resten des teuren, aber bitteren Kräutersudes aus dem fernen Forétern ein. Als er zurückkehrte, brachte er stattdessen zwei große Krüge mit Met herbei. Dann waren die vier Freunde wieder unter sich. Kaum allein miteinander, gaben die drei jungen Ritter ihre Zucht erleichtert auf. Jándris legte seine Füße auf Tíjnjes nun verwaisten Sessel und Láas lümmelte sich in die Kissen auf der Bank in der Nische am Fenster. Dessen Läden waren natürlich geschlossen. Es war kalt, nun, da die Herbstnächte kamen.
„Auf unsere liebe Tíjnje“, sagte Jándris feierlich und hob seinen Becher. „Möge sie in den Schlaf finden, indes sie sich vor Neugier plagen wird, was wir hier zu reden haben.“
„Wie sähe es denn aus, wenn sie hier mit uns ungeratenen Kerlen herumlungerte, während anständige Damen tugendsam schlafen?“ Láas prostete den anderen zu. „Auf dich, Eulengesicht, und auf dein neues Amt.“
„Danke.“ Osse nippte an seinem Becher. „Es ist bei weitem nicht so, dass ich dieser Aufgabe unbeschwert entgegen sehe. Ein vereintes teirandon mit fünf yarlmálon … das ist sehr viel. Und ich bin wenig mehr als ein Knabe, der ein paar Bücher studiert hat.“
„Und dann stell dir nur vor“, redete Jándris gedankenlos weiter, „wenn Manjév noch Gefallen an einem aus Valvivant fände. Zehn yarlmálon zusammen!“
„Das mögen die Mächte verhüten“, unterbrach Láas geistesgegenwärtig, denn über Merrits Gesicht huschte ein verdrießlicher Ausdruck. Jándris begriff, auf welch dünnes Eis er gerade zulief und wandte sich rasch wieder seinem Becher zu.
„Das ist ein ausgezeichneter Met“, sagte Osse unverbindlich.
„Láas sitzt jetzt an der Quelle.“
„An welcher Quelle?“
Der hünenhafte Jungritter errötete. „Na ja … ich hab jemanden kennen gelernt, der davon allezeit genug beschaffen kann.“
Osse schaute interessiert zu ihm hinüber, aber außer einem ebenso verlegenen wie versonnenen Grinsen kamen keine weiteren Hinweise. Das war verdächtig, aber jetzt zweitrangig. Osse stellte seinen Becher hin und holte das Brieflein der teirandanja hervor. „Lasst uns dies hier besprechen, solange wir unter uns sind. Die teirandanja schreibt, Meister Yalomiro habe eine verschwommene Warnung vor Gefahr im Zusammenhang mit dem vasposár ausgesprochen.“ Er blickte in die Runde und fragte zweifelnd: „Was haltet ihr davon? Und was habe ich damit zu tun?“
„Ich halte es für eine Warnung, für die es kein Orakel braucht, das über die Magier hinein bricht“, antwortete Láas. „Es ist doch klar wie Pataghíus Glanz, dass eine Menge Leute ein Interesse daran hätten, dich aus dem Weg zu schaffen. Manjév sagt, wenn über irgendjemandem Unheil dräut, dann bist du das.“
„Ich? Aber wieso?“
„Deine Bescheidenheit blendet dich, Osse“, ließ Merrit sich vernehmen. Der junge Ritter war mit seinem Becher aufgestanden und setzte sich auf die Bank neben Láas. „Sie werden dich anlässlich des vasposár zum mynstir von Wijdlant-Spagor einsetzen. Du wirst bald der zweitmächtigste Mann eines der größten teirandon des Weltenspiels sein, gleich nach Manjév und … ihrem hýardor.“
„Ja und? Das ist ein großer Titel, aber macht mich bei Tag betrachtet zu nichts mehr als einem besseren maedlor. Wer hätte einen Vorteil davon, mich am Amtsantritt zu hindern? Oder wisst ihr etwas, was ich nicht weiß? Gibt es jemanden, der diesen Dienst dringender haben will?“ Er breitete das Briefchen vor sich aus und fügte hinzu: „Zeigt mein Weitvetter dahingehend Ambitionen? Wieso misstraut ihr ihm?“
„Sei nicht albern, Eulengesicht. Venghiár ist ein Ritter wie wir. Nun, genaugenommen ist er nicht mehr als ein besserer Waffenknecht. Gut genug, um Emberbey wehrhaft zu machen, nicht mehr. Selbst, wenn es dich gar nicht gäbe, niemand käme ernsthaft auf die Idee, ausgerechnet Venghiár wäre der richtige Mann für dieses Amt.“
„Und nicht mal nur für das Amt“, fügte Merrit hinzu und grinste geheimnisvoll. Osse warf seinem Freund einen rügenden Blick zu. Vermutlich hatte Merrit nicht widerstehen können, Venghiár bei irgendeiner passenden Gelegenheit im Kampf nachhaltig zu blamieren.
„Das erklärt indes noch weniger die Verschwörung, die ihr euch einbildet.“
„Du weißt, dass Venghiár dich nicht ausstehen kann. Der Trottel hätte tausend Anlässe, dich zwischen ihm und der Nachfolge deines Vaters zu entfernen. Aber nicht wegen des Amtes.“
„Nun gut. Aber lassen wir private Abneigungen beiseite. Wenn nicht Venghiár, wer sonst könnte mich aus dem Weg geschafft sehen wollen?“
„Im Prinzip jeder, der in Wijdlant-Spagor eine Gefahr sieht. Und in dem, was daraus werden kann. Wir greifen hier dem vor, was dir morgen, spätestens übermorgen auch schon die teiranday erzählen werden.“
„Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor drängen auf das vasposár, nachdem aus dem Osten immer mehr beunruhigende Dinge ans Licht kommen.“ Merrit suchte nach Worten und trank, um die Pause zu überbrücken.
„Nicht, Merrit“, warnte Jándris sanft. „Lass das den teiranday. Wir wissen doch nur, was wir zufällig aufgeschnappt haben.“
„Lauscht ihr etwa immer noch an Türen?“
„Nein, das überlassen wir den Mädchen.“
„Aber es vergeht kein Mond, an dem die Leute meines Vaters nicht jämmerliche Gestalten aufgreifen, die es irgendwie aus Rodekliv heraus durch das unwirtliche Land hinüber an den Rand von Althopian geschafft haben“, sagte Merrit unbeeindruckt. „Es werden immer weniger, aber das heißt nicht, dass es besser wird. Es bedeutet nur, dass sie besser darin werden, ihre Leute zu hüten. Vorsichtiger und misstrauischer. Lumpenkerle.“
Osse nickte. „Es ist schrecklich, ich weiß. Aber weder Rodekliv noch Ferocrivé, noch beide gemeinsam hätten weder einen Grund noch einen Anlass, sich in die Angelegenheiten von Wijdlant-Spagor einzumischen. Und die Mittel schon gar nicht.“
„Gut. Aber was, wenn wir Grund, Anlass und Mittel hätten, unsererseits nach dem Rechten dort zu sehen?“
Osse schwieg nachdenklich. Bei den Mächten, die drei tanzten um ein Thema herum, das so offensichtlich ihr Gewissen und ihren Ehrsinn belastete. Aber es lag auf der Hand, was sie in den Schranken hielt. Noch waren sie nicht frei, vor den teiranday zu sprechen.
„Kann es den Mächten gefällig sein, wenn Menschen andere Menschen knechten?“, wurde Láas deutlicher. „Wie lange kann man das dulden, ohne dass einem das Herz darüber zumindest staubig wird?“
„Es wäre deine Sache, die teiranday zu beraten in diesen Dingen. Du hast die alten Bücher gelesen und das, was die Strategen damals geschrieben haben. Was damals dort geschehen ist“, sagte Merrit.
„Ja, und im edlen Weltenspiel bist du uns allen über“, fügte Láas hinzu. „Bei den Mächten, Osse, keiner von uns wünscht sich, dass es so weit kommt. Aber wenn … dann bist du der, der den teiranday, Manjév und ihrem hýardor zu raten hat.“
„Wir sind nur die spaßigen Gesellen mit dem Eisenzeug und den großen Messern“, fügte Jándris lässig hinzu. „Wir werden tun, was immer uns geheißen wird. Das werden wir auf dem vasposár von den teiranday und den Mächten geloben.“
„Damit übernehmen wir den Hofdienst, und unsere alten Herren können es ruhiger angehen lassen und sich um andere Dinge kümmern. Aber wenn es ernst würde, dann … nun, wir werden es den Lumpenkerlen nicht leicht machen.“
„Ich will und werde keinen von euch anderswo sehen als auf einem Turnierplatz“, rief Osse aus. „Alles andere wäre lästerlich vor den Mächten!“
„Das ist rücksichtsvoll von dir. Aber vielleicht wollen die Lumpenkerle es nicht auf einem Turnierplatz austragen, oder in einem ehrenhaften Zweikampf, wie es sich gehört. An uns liegt das nicht“, sagte Láas.
„Nun gut.“ Osse Emberbey lehnte sich zurück und schloss die Augen. Auf ein heiteres Wiedersehen mit seinen lang vermissten Freunden und den Mädchen, mit der teirandanja hatte er sich gefreut. Dass ihm nun auf diese Weise die Leichtigkeit und Freude der Heimkehr getrübt wurde, schmerzte ihn. Aber wenn sich selbst die Magier vorsorglich einmischten, was sollte er selbst denn dagegen sagen? „Klärt mich auf. Ich muss mehr darüber wissen, was mich erwartet. Haben sich … Lumpenkerle aus Ferocrivé oder Rodekliv angesagt, um beim vasposár um die Gunst der teirandanja zu werben?“
„Noch nicht“, sagte Jándris. „Aber Tíjnje sagte, alle yarlmálon von Valvivant schicken mindestens einen yarl.“
„Valvivant?“
„Der alte Benjus von Valvivant“, erklärte Jándris so unaufgeregt wie möglich, „hat bekanntlich keinen leiblichen Erben. Er will daher angeblich sein teirandon an denjenigen yarl weitergeben, den es trifft, sollten die Mächte Manjévs Gunst zu einem der ihren lenken. Vielleicht zum yarlandor von Lebréoka.“
„Lebréoka?“ Den Namen hörte Osse nun schon zum zweiten Mal.
„Merrits Vater ist gut einem seiner Onkel befreundet“, erklärte Láas. „Ein seltsamer Geselle, der yarlandor. Schickt Manjév dauernd geschmacklose Geschenke.“
Merrit stellte seinen Becher etwas zu heftig ab und stand auf. „Entschuldigt mich. Ich muss mich erleichtern.“
Láas wartete, bis der junge Ritter aus dem Zimmer war und flüsterte dann verschwörerisch: „Er hat angefangen, Gedichte zu schreiben.“
„Oje.“ Von diesem bedenklichen Stadium der Verliebtheit hatte Merrit in seinen Briefen an Osse nichts erwähnt.
„Tíjnje sagt, sie wünschte sich, einmal so niedliche Worte von ihrem hýardor zu hören.“ Láas schaute verstohlen zu Jándris hinüber und schenkte sich dann erneut ein.
„Woher weiß Tíjnje …“
„Sie sammelt auf, was Manjév fortwirft.“
„Weiß er, dass sie das tut? Dass sie seine Gedichte nicht will?“
Jándris schüttelte den Kopf. „Nein. Niemand will ihm mit Tatsachen das Herz brechen. Aber manchmal denke ich, er täte besser daran, von allein die Hoffnung aufzugeben.“
„Jedenfalls“, lenkte Láas das Gespräch wieder in vermeintlich sicherere Bahnen, „angenommen, Manjév entscheidet sich für einen der Herren aus Valvivant – das gäbe ein teirandon mit drei Mitten und zehn yarlmálon. Das können die Lumpenkerle sich noch viel weniger gefallen lassen.“
„Und den teirandon und yarlmálon ringsum noch weniger. Möglicherweise.“
„Siehst du nun, warum Manjév so viel daran liegt, dich sicher nach Wijdlant zu bekommen? Ohne dich sind wir verloren. Deshalb hat sie dir ihre besten Dienstmänner als Eskorte geschickt.“ Láas schaute aufmunternd zu Osse hinüber.
„Und das seid also ihr?“, fragte Osse trocken, obwohl ihm nicht zum Scherzen war.
„Natürlich. Nun bist du sicher. Dir passiert nichts mehr. Wir reiten morgen nach Wijdlant zurück, und wenn dir jemand zu nahe kommt, dann wird er es bereuen.“
Osse prostete ihm zu und trank. Der Met war weit stärker als das, was er gewöhnt war, die Themen, die er hier zu hören bekam, weit über dem, was er mit seinen zwanzig Sommern und auf nur einer Schulter tragen konnte. Wie gut, dass er Herrn Daap an seiner Seite wusste – und seinen Vater. Mochten die Mächte wissen, wie lange der noch vor den Träumen stand und ihn Rat geben konnte.
„Und nun erzähl mal, Eulengesicht“, sagte Jándris und hielt Láas seinen Becher hin, damit der nachschenkte. „Wie sieht es aus?“
„Womit?“
„Na, womit wohl. Mit den Damen in Ivaál. Wann lernen wir sie kennen?“
„Wovon redet ihr?“
Láas und Jándris schauten ihn verwirrt an.
„Du willst doch nicht sagen“, setzte Láas dann an, „dass du drei ganze Sommer in Ivaál verbracht hast und keiner hýardora begegnet bist? Ausgerechnet in dem yarlmálon, wo die die lieblichsten fánjulaé des Weltenspiels so dicht gedrängt leben wie die Hühner im Stall?“
„Natürlich will ich das sagen. Bei den Mächten, wer setzt euch solche Gedanken in den Kopf?“
„Truda“, antwortete Jándris kurzweg. Láas drückte ihm schnell den Becher an die Lippen.
„Unfug. Ich war in Ivaál, um Gelehrsamkeit zu finden, keine fánjulaé!“
„Hast du denn wenigstens nach einer gesucht?“
„Nein! Was soll ich denn mit …“ Osse unterbrach sich errötend. Die beiden älteren yarlandoray warfen einander vielsagende Blicke zu.
„Eulengesicht“, seufzte Jándris und streckte die Füße von sich, „mach dir keine Sorgen. Für solche Angelegenheiten hast du nun ja uns.“