„Feinste Samtblütenfasern aus Pianárdent“, pries der Tuchhändler seine Ware an. „Warm wie Wolle, leicht wie Seide. Exquisite Qualität!“
Das Mädchen betrachtete staunend die schönen bestickten Stoffe, die der Tuchmacher geschäftstüchtig vor der opayra [≈ Governante, Erzieherin] ausbreitete. So etwas Hübsches hatte es lange nicht gesehen und schon gar nicht angetastet.
„Und davon darf ich mir wirklich etwas aussuchen?“, fragte sie artig und tat ihr Möglichstes, ihr Entzücken zu verbergen. Eine Dame sollte sich nicht zu übertriebener Freude hinreißen lassen. Das galt als ungebührlich. Zumindest behauptete die opayra das.
„Was du willst. Schließlich sollst du fein angezogen sein, wenn du den teiranday und der künftigen teiranda unter die Augen trittst.“
„Wird es Osse wohl gefallen?“
„Dein Bruder wird wohl damit zufrieden sein. Wenn er es denn schafft, den weiten Weg bis dahin pünktlich zurückzulegen. Mögen die Mächte das geben, aber verlassen sollte man sich nicht darauf.“
„Das wird er. Ganz bestimmt.“
„Der Weg von Ivaál über den Montazíel ist weit und beschwerlich, Kind. Es kann ihn allezeit etwas aufhalten.“
„Er wird da sein. Er würde niemals verspätet zu einer so wichtigen Sache erscheinen.“
Der Tuchhändler aus Virhavét wartete das Gespräch geduldig ab. Raýneta Emberbey wandte sich wieder den Stoffen zu, geradezu berauscht von all den Farben und Mustern. Wie anders war das als ihr gewöhnliches Kleidchen aus Leinen mit dem Überwurf in honiggelb. Sie tastete zaghaft all die schönen bunten Stoffe an, aus denen nun bald ein schönes Festkleid für sie entstehen sollte. Nur noch einen Mond war es bis zum vasposár, dem prunkvollen Fest mit Musik und Tanz und vielen guten Speisen und dem großen Turnier, dem größten, das seit vielen Sommern, nein – seit überhaupt jemals stattgefunden hatte. In den zehn Sommern ihres bisherigen Lebens hatte es auf der Burg der Familie Emberbey keine nennenswerten Feste gegeben. Allenfalls ganz kleine, wenn jemandem vom Gesinde etwas Freudiges widerfuhr. Ihr Vater, der greise yarl Alsgör Emberbey, war nie ein Freund von ausgelassenen Vergnügungen und Feiern gewesen. Wenn andere sich an etwas freuten, hüteten sie sich, ihn damit zu plagen. Er ließ seinen Schutzbefohlenen die Ausgelassenheit, wollte selbst aber unbehelligt davon bleiben.
Doch das, was Truda, ihre ältere Schwester, ihr in ihren Briefen begeistert schilderte, klang aufregend. Raýneta hatte oft davon gehört, wie es in Wijdlant zuging, auf der Burg der teiranday. Truda war mit ihren fünfzehn Sommern längst eine Hofdame in Diensten der jungen teirandanja. Sie gehörte damit zum engsten Kreis der Hauptperson, um die sich das große Fest drehen würde. Die teirandanja solle sich vor aller Augen einen hýardor erwählen, der einmal mit ihr zusammen das große teirandon von Wijdlant und Spagor beherrschen sollte. Ein teirandon, dessen nördlichster Punkt eben das yarlmálon ihres Vaters war, die uneinnehmbare, trutzige Burg am Meer, an der großen Bucht. Ganze fünf yarlmálon und zwei teirandon standen unter der Obhut der herrschaftlichen Familie, ein großes, zusammenhängendes Gebiet nördlich des Montazíel. Wer mochte der Glückliche sein, der das Herz der jungen Frau gewann? Mehr als ein junger teirandanjor würde sich dem Wettstreit stellen, um sich der Dame zu präsentieren. Aufregend würde das sein.
Die kleine Raýneta hatte keine Vorstellung, was für eine Bedeutung das vasposár in den Augen mächtiger Leute hatte. Sie freute sich über die Aussicht, ein aufregendes Fest mitzuerleben. Sie liebte Musik, wenn auch selten welche auf der Burg erklang. Sie fantasierte seit vielen Monden von den vielen stolzen Rittern und schönen Pferden und all den Leuten in prächtigen Gewändern und Musikanten und all den Farben und Klängen und Düften, von denen Truda schwärmte und stets bedauerte, dass die kleine Schwester an solchen Freuden nicht öfter teilhaben konnte.
Doch am meisten freute das Mädchen sich auf Osse. Fast drei Winter war es her, dass sie ihrem Bruder zuletzt begegnet war. Herrliche, viel zu kurze Tage waren das gewesen, damals, im Winter, bevor der junge Mann endgültig weiter nach Ivaál gezogen war. Das war nötig, hatte er ihr erklärt, als sie sich unter heißen Tränen von ihm verabschieden musste. Nur südlich des großen Gebirges war es ihm möglich, all das zu lernen und an Weisheit zu erringen, das er einmal an der Seite der teirandanja benötigen würde. Er wolle alles Wissen an sich bringen, das es im Weltenspiel zu sammeln gelte, hatte er gesagt. Manjév von Wijdlant und Spagor sollte einen gebildeten, zuverlässigen und fähigen mynstir an ihrer Seite haben. Einen, der zwar kein Schwert, aber Verantwortung tragen konnte!
Raýneta konnte sich nicht viel unter der Gelehrsamkeit vorstellen, nach der ihr geliebter Bruder gierte, denn sie hielt ihn ohnehin für den klügsten Menschen im Weltenspiel. Aber sie brannte darauf, in seiner Nähe sein zu können. Sie genoss die liebevolle Aufmerksamkeit, mit der er sie bedachte, obgleich er mehr als doppelt so alt war wie sie. Aus Ivaál und Aurópéa hatte er ihr unzählige Briefe geschrieben, oft zusammen mit einem kleinen Geschenk. Eine bunte Feder von einem Prachtvogel, ein glitzernder Stein, einmal sogar ein Geschmeide aus Glasperlen, winzig wie Kieselsplitter und jeder in einer anderen Farbe; ein Schatz, den Raýneta nur ablegte, wenn sie ein Bad nahm.
Venghiár freute sich nicht darüber, dass Osse zurückkehrte. Er hütete sich, das laut auszusprechen, wenn yarl Emberbey in Hörweite war, aber Raýneta las es in seiner überdrüssigen Miene und den abfälligen Worten, die er hier und dort über seinen Weitvetter fallen ließ. Wenn die beiden jungen Herren miteinander redeten, dann kam es dem Raýneta stets so vor, als führten beide einen Tanz, ein Versteckspiel, ein Tun-als-ob auf. Dass sie einander nur schwer ertrugen, war offenkundig. Den Vater wollten sie beide im Glauben lassen, dass er sich nicht um das yarlmálon zu sorgen brauchte oder um das, was sein würde, wenn er einmal hinter die Träume trat. Wo Venghiár im Augenblick war, wusste Raýneta nicht. Vor zwei Tagen war er fortgeritten. Er habe etwas in Virhavét zu tun, hatte er gesagt. Venghiár Emberbey, der Enkel der Schwester des alten yarl, war ein ehrgeiziger junger Mann, dessen Geschäfte sich nicht mit der des kleinen Mädchens kreuzten. Raýneta hatte nichts dabei zu suchen, wenn er mit den Gefährten beisammen war, die regelmäßig auf der Burg einkehrten, oder wenn er mit Spieß und Schwert und unklaren Plänen an die Grenzen des yarlmálon ritt. Was hätte er, ein junger Ritter, auch mit einem kleinen Mädchen zu schaffen? Für das schöne Kleid, das sie erwartete, würde er sich sicher nicht interessieren.
Raýneta untersuchte neugierig die Stoffe, während der vendyr, ein aufwändig gekleideter Mann aus Virhavét, der opayra die Vorzüge verschiedener Wirkarten und Fasern darlegte.
„Den da will ich!“, entschied Raýneta und deutete auf ein Tuch, das golden und silbrig zugleich schimmerte, je nachdem, wie man es glattstrich. „Der ist fein und weich.“
„Eine ausgezeichnete Wahl“, lobte der vendyr. Zur opayra sagte er sachlich: „Ein Silberstück je Elle.“
„Das kann ich nicht selbst entscheiden“, sagte die opayra und war sichtlich empört über den hohen Preis. „Das muss der Herr gestatten.“
„Darf ich es ihm zeigen?“, fragte Raýneta emsig. „Ich bringe es ihm. Er erlaubt es bestimmt! Und so viel davon brauchen wir auch gar nicht. Ich bin ja noch klein.“
Der Tuchmacher schaute misstrauisch, aber die alte Dame nickte. „Mach dir keine Sorgen. Das Kind ist achtsam und wird dir deine Ware wohl nicht beschädigen. Der Herr ist schlecht zu Fuß und wird nicht zu uns in die Halle kommen.“
„Nun gut.“ So ganz schien der Tuchhändler der Sache nicht zu trauen. Aber er faltete den teuren Stoff sorgfältig zusammen und legte ihn Raýneta in die Arme. Das Kind knickste zierlich und eilte dann mit dem Schatz davon, so schnell die Füße es trugen.
Der Vater hielt sich in seiner Stube im östlichen, dem Meer abgewandten Teil der Burg auf, dort, wo der schneidende Wind von der Seeseite nicht durch die Fenster kam. Raýneta entschied sich, von der Halle aus den kürzeren Weg über den Wehrgang auf der Mauer zu gehen. Sie nahm den entsprechenden Abzweig ins Freie auf den Umlauf hinter den Zinnen, der an den Eingang zum Wohngebäude anstieß. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie auf einen Wortwechsel am nördlichen Tor unter sich aufmerksam wurde. Dort erklang eine Stimme, die sie keinem der Burgbewohner zuordnen konnte.
Neugierig blieb das Kind stehen, spähte über die Mauer hinab und schaute, was dort vor sich ging. Unten, unter dem Tordurchlass, versuchten die Torwächter, einem Bittsteller den Zutritt zur Burg zu verwehren. Sehen konnte sie von hier aus nichts, sehr wohl aber mithören, denn das Mauerwerk trug hier gut den Schall voran.
„Hier ist für dich nichts zu holen“, sagte der eine der beiden wachhabenden Männer gerade. „Versuchs im Dorf. Da haben sie vielleicht Sinn für einen wie dich!“
„Wollt ihr euren Herrn nicht wenigstens fragen, ob er mir nicht zuhören mag?“
„Brauchen wir nicht! Pack dich. Hier verschwendest du deine Zeit.“
„Unser Herr hat keinen Sinn für Märchen.“
„Ich habe mehr als Märchen zu bieten. Ich bringe Geschichten, über die man in Ferocrivé, Forétern und Ivaál nur errötend flüstert.“
„Tatsächlich?“, fragte einer der Männer. Raýneta erkannte die Stimme. Venghiár hatte diesen Mann erst vor einigen Monden eingestellt. Ein Bekannter aus Rodekliv sollte er sein.
„Von verführerischen fánjulaé“, erklärte der Besucher verschwörerisch.
„Sowas braucht er erst recht nicht mehr, sittenloser Kerl“, herrschte der andere Wächter, ein älterer, der auf der Burg diente, seit Raýneta denken konnte. „Der Herr ist jenseits solcher … Gelüste.“
„Wie könnt ihr beide das wissen?“
„Wissen? Weit jenseits des achtzigsten Sommers ist unser Herr!“
„Und ihr selbst? Für eure jungen Ohren wäre das nichts?“
„Verschwinde, bevor der yarlandor dich persönlich hinaus befördert, Kerl!“
„Der yarlandor?“
„Lass dir von uns raten. Der junge Herr fackelt nicht lange, wenn Pack wie deinesgleichen vor der Tür steht!“
„Wie könnt ihr wissen, dass der junge Herr keine Geschichten aus-"
„Du sollst verschwinden!“, rügte der zweite Wächter. Genaugenommen brüllte er fast. „Hier braucht dich niemand.“
„Auch nicht die Kinder?“, erwiderte der Fremde hartnäckig. „Ich wette, die Kleinen hier auf dieser Burg haben schon lange keine wundersamen Dinge gehört.“
„Wenn du nicht sofort verschwindest“, drohte der erste Wächter, „dann helfen wir nach. Und das geht nicht gut für dich aus, Bursche!“
Der Besucher ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
„Ich bin mir sicher“, sagte er beharrlich, „dass auch hier in diesen Mauern jemand heute meine Geschichten hören sollte.“
„Wenn du nicht augenblicklich verschwindest“, drohte der erste Torwächter, „dann legen wir dich in Eisen und lassen dich über der Klippe herabbaumeln. Da kannst du den Möwen und dem Sturm deine Geschichten erzählen, solange du magst und kannst!“
Die beiden lachten grob. Raýneta runzelte die Stirn. Das war gemein von den Männern! Bei den Klippen hinter der Burg ging es tiefer hinab, als der Turm hoch war. Unten schlug das Wasser brodelnd hoch an die schroffen Felsen. Der Vater hatte sie oft ermahnt, sie solle sich niemals diesem Abgrund nähern. Zu viele Menschen seien dort bereits in den Tod gestürzt.
Auch der abgewiesene Besucher schien sich nun eines Besseren zu besinnen „Nun gut“, gab er sich geschlagen. „Ihr ahnt nicht, was euch an Kurzweil entgeht. Doch wenn ihr mich durchaus nicht haben wollt …“
„Verschwinde hier, Kerl! Und lass dich nicht noch einmal blicken. Solche wie dich will Herr Venghiár hier nicht sehen!“
Sie lachten dem báchorkor hinterher, der sich ohne ein weiteres Wort auf dem schmalen Pfad längs der Burgmauer wieder entfernte.
Raýneta lief die Mauer über ihm entlang, bis dorthin, wo es eine Kurve gab, die vom Tor aus nicht einzusehen war. Dann neigte sie sich zwischen den Zinnen vor und konnte erstmals einen genaueren Blick auf den Besucher werfen. Dort unten lief der junge Mann, ohne allzu große Eile zu haben. Er war von schmächtiger Statur und in abgewetzte, ausgeblichene Gewänder gekleidet, die einst wohl rot gewesen waren und weit bessere Tage gesehen hatten. Er trug ein Reisebündel über der Schulter und war erheblich gelassener, als es nach der Drohung der Torwächter angemessen gewesen wäre.
Raýneta zögerte. Báchorkoray verirrten sich wirklich äußerst selten nach Emberbey. Es war weithin bekannt, dass Herr Alsgör keinen Wert auf die Vorträge von fahrenden Künstlern legte, also versuchte es nur äußerst selten einer. Aber Raýneta war beflügelt von all den aufregenden Dingen, die sie heute schon erlebt hatte. Sie fühlte sich gepackt von der Lust, aufregende Dinge zu erfahren. Sie konnte sich zwar unter den Flüstergeschichten aus Ivaál für Erwachsene nichts vorstellen, aber Märchen hörte sie viel zu selten. Und überhaupt - es wäre nicht das erste Mal, dass Herr Alsgör seiner jüngsten Tochter die Darbietungen eines Fahrenden erlaubt hätte, wenn sie ihn artig darum bat.
„He, du! Báchorkor! Lauf nicht weg!“, rief sie zu dem jungen Mann hinunter. „Ich will deine Geschichten wohl gerne hören!“
Er blieb stehen und schaute zu ihr hinauf. „Das ehrt mich, kleine fánjula. Aber du hast ja wohl gehört … Streuner wie ich haben keinen Zutritt in diesem Haus. Vielleicht hat man im Dorf tatsächlich mehr Sinn für gute Geschichten. Und mehr Geschmack und Anerkennung dafür, als die Möwen, die um die Felsen kreisen.“
Raýneta beugte sich so weit über die Mauer, wie sie es mit dem kostbaren Stoff im Arm verantworten konnte.
„Du hast lustige Haare“, sagte sie. Nie zuvor hatte sie einen Menschen mit einer so wilden Mähne gesehen. Die Locken des jungen Geschichtenerzählers schimmerten wie blankes Kupfer in der sinkenden Sonne und standen nach allen Seiten ab.
„Nicht so amüsant wie die Geschichten, die ich bei mir trage“, antwortete der báchorkor vergnügt.
„Bitte warte noch! Ich bin gerade auf dem Weg zum yarl. Ich werde ihn bitten, dass du heute hierbleiben darfst.“
„Das würdest du für mich tun?“
„Ja, bitte. Komm nochmal zurück zum Tor! Ich will, dass du heute Nacht hier bleibst und mir deine Geschichten erzählst. Es wird bald dunkel und kalt ist es schon. Du sollst auch etwas Warmes zu essen bekommen und ein Nachtlager.“
„Es wird nichts nützen. Du hast doch gehört, dass sie mich den Möwen vorwerfen wollen, wenn ich es noch einmal versuche. Ich bin nicht begierig darauf, Prügel zu beziehen, kleines Mädchen.“
Raýneta dachte nach. Dann hatte sie eine kluge Idee.
„Fang auf!“, rief sie und warf das Stoffbündel die Mauer hinab.
Der báchorkor schnappte überrascht zu. Das silberteure Tuch landete in seinen Händen, bevor es den Boden berührte. Ein Glück! Nicht auszudenken, wenn es schmutzig geworden wäre!
„Was tust du?“, rief der junge Mann verblüfft.
„Ich laufe herunter zum Tor. Du bringst mir das zurück. Dann müssen sie dich einlassen.“
„Und wenn ich nun mit deinem Schatz einfach wegliefe?“
Das war ein berechtigter Einwand. Raýneta hatte einen kurzen Moment Bedenken, ob sie eine Dummheit begangen hatte. Aber er lächelte zu ihr empor, raffte das Tuch ordentlich zusammen und schlenderte den Weg zurück. Das Kind hastete hinterher, die nächste Treppe hinab und gelangte gerade noch rechtzeitig auf den Hof.
„Du schon wieder?“, brüllte der ältere Wächter gerade los, so dass jedermann auf dem Hof zusammenzuckte.
„Für diese Dreistigkeit …“
„Beruhigt euch“, sagte der báchorkor. „Ich will gar nicht herein. Aber ich denke, das hier gehört einem von euch.“
Raýnetas Herz pochte. Nun musste es ihr glücken.
„Wo hast du das her, Kerl?“, ereiferte sich der Wächter. „Das ist doch gestohlen!“
„In den Salzbüschen unter der Mauerkrone lag es“, behauptete der báchorkor, doch schon hatte ihn der jüngere beim Kragen gepackt und zu Boden gestoßen. Bei den Mächten, mitten hinein in die Pfütze auf den Pflastersteinen, die sich an dieser Stelle nach Regentagen immer sammelte, mitsamt dem feinen Tuch!
„He!“, rief Raýneta, wesentlich erschrockener über den Schmutz auf dem teuren Stoff denn über die Grobheit des Wächters und eilte so schnell heran, wie sie konnte. „Wartet!“
Die Männer wandten sich ihr ertappt zu und nahmen Haltung an. Nicht so respektvoll und ehrfürchtig, wie sie es Venghiár oder dem Vater gegenüber getan hätten, aber doch ausreichend ehrerbietig, wie es sich der Dame des Hauses gebührte.
„Mein Stoff!“, rief sie und riss den Tuchballen an sich, bevor der noch mehr Schmutzwasser aufsaugen konnte. „Was für ein Glück! Du hast ihn gefunden!“
„Ich wollte ihn gerade hier abliefern“, sagte der báchorkor und setzte sich in der Pfütze auf. „Wie es sich für einen redlichen Finder gehört. Aber Ehrlichkeit weiß man hier wohl nicht wertzuschätzen.“
„Oje“, machte Raýneta, ernsthaft betroffen. „Hoffentlich ist das Tuch nicht verdorben!“
„Herrin“, ließ sich der ältere Wächter unbehaglich hören, „Ich bin untröstlich …“
„Mir ist das Tuch aus der Hand geglitten, als ich es oben am Fenster im Licht betrachten wollte“, log Raýneta. „Ich hatte schon befürchtet, der Wind habe es aufs Meer weggerissen. Der Mann da hat es gefunden!“
„Ich dachte mir“, sagte der báchorkor, „dass es gewiss nicht ins Gebüsch gehörte.“
„Steh auf“, sagte Raýneta und mühte sich, die Wächter so geflissentlich nicht zu beachten, wie Venghiár es mit den Schutzbefohlenen tat, auf die er hinabsah. „Du sollst eine Belohnung für deine Ehrlichkeit erhalten. Von meinem Vater! Komm mit!“
Der jüngere Wächter wollte aufbegehren, aber der báchorkor kam ihm zuvor. „Ich glaube, ich sollte besser nicht durch dieses Tor hindurch“, sagte er scharfzüngig. „Ich wurde mehrfach gewarnt, von denen hier.“
„Unsinn“, sagte Raýneta und warf den Wachleuten jeweils einen ungnädigen Kinderblick zu. „Die können sich glücklich schätzen, wenn der Stoff wieder sauber wird. Ich hab doch gesehen, was passiert ist! Oh, die opayra wird schimpfen! Und mein Vater erst! Wenn das Tuch verdorben ist, dann … dann werdet ihr das mit eurem Sold begleichen!“
Der jüngere Mann, Venghiárs Freund aus Rodekliv, wollte protestieren, aber der ältere legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Noch schlimmer machen musste der Hitzköpfige die Sache nicht.
„Komm! Komm herein“, drängte Raýneta. „Ich bringe dich zu meinem Vater, du ehrlicher Bursche!“
Der báchorkor erhob sich aus der Schmutzwasserpfütze, verneigte sich höflich vor den Wächtern und kam mit forschem Schritt auf sie zu. Raýneta warf den Wachen noch einen ärgerlichen Blick zu und winkte ihm dann, ihr zu folgen. So schnell wie möglich, lotste sie ihn durch die nächste Tür ins Gebäude. Einige Burgleute, die die Szene beobachtet hatte, lächelten belustigt. Vielleicht freuten sie sich, dass ihre junge Herrin den Märchenerzähler durch das Tor gebracht hatte und dachten an die Geschichten, die er ihnen vortragen würde, wenn es Abend war. Aber die meisten hatten wichtigeres zu tun, als auf das Kind und einen harmlosen Fahrenden zu achten.
„Ich muss dir von Herzen danken, dass du mich aus freien Stücken hereingebeten hast“, sagte der báchorkor. „Ich hatte schon befürchtet, hier keinen Zutritt zu erhalten.“
„Ja“, sagte Raýneta betreten. „Aber der Stoff ist schmutzig geworden. Die opayra wird schelten. Das ist so teurer Samtblumenstoff aus Pianárdent.“
„Stimmt. So kannst du ihn deinem Vater nicht zeigen. Gib ihn mir noch einmal.“
Sie schaute betrübt zu ihm auf, aber er streckte ermunternd die Hand aus. „Vertrau mir. So verknittert wird er dem hochedlen yarl nicht gefallen.“
Sie überließ ihm den Stoff und er begann, das feuchte Gewebe auszuschlagen und ordentlich zu falten. „Lass uns weiter gehen, bevor dein Weitvetter mich hier erwischt.“
„Die Wachen haben geflunkert. Venghiár ist überhaupt nicht da.“
„Wo ist er denn hin, dein Weitvetter?“
„Ich weiß nicht. Sowas erzählt er mir nicht. Ich …“ Sie stutzte und fragte überrascht: „Woher weißt du, dass er mein Weitvetter ist?“
Der báchorkor lächelte. „Ich informiere mich über die Familien, in deren Burgen ich meine Geschichten anbiete. Und wer, wenn nicht die junge Herrin des Hauses, würde mit so prächtigem Tuch in Händen einher laufen?“
„Gefällt es dir?“
„Es ist wunderschön“, sagte er und legte ihr das Tuch zurück in den Arm. Er hatte es so ordentlich umgeschlagen, dass man den Dreck auf den ersten Blick nicht sah. „Samtblumenstoff ist ganz erstaunlich erlesen. Man sagt, er sei so rein, dass Schmutz nicht haften bleibt.“
„Tatsächlich?“
„Es gibt ein schönes Märchen von dem einem Weber, der ihn erstmals gewirkt hat, und seinen beiden Söhnen und einer wundersamen Blumenwiese.“
„Erzählst du mir das?“
„Später.“
„Der teure Stoff ist für ein Kleid zum vasposár der teirandanja. Ich bin gerade unterwegs, um ihn dem yarl zu zeigen. Hast du schon einmal vor der teirandanja erzählt?“
Wie seltsam. War das ein Hauch von Bedauern, der da über seinen dunkeläugigen Blick huschte?
„Nein. Noch nicht.“
„Meine große Schwester sagt, sie sei sehr freundlich und lustig und immer gut zu allen Schutzbefohlenen.“
„Man hört allerorten nur Löbliches von ihr. Mögen die Mächte sie zu einer klugen und gnädigen Herrin für euch alle machen. Führst du mich nun bitte vor deinen Vater, kleine yarlaranda? Es wird … Zeit.“
„Hier entlang“, sagte Raýneta und ging voran. „Nur ins Haus und zwei Treppen hoch. Er kann nicht mehr gut laufen, musst du wissen. Mein Vater ist schon sehr alt.“
„Ich weiß“, sagte der báchorkor.
„Wo kommst du her? Und wohin reist du als nächstes?“
„Ich komme direkt aus Rodekliv. Und ich will weiter zum vasposár für die teirandanja.“
„Wirklich?“
„Solche Feste sind gut für meinesgleichen. Wo Leute zusammenkommen und feiern, da wollen sie Geschichten hören. Und die kühnen Ritter wollen, dass man nachher von ihnen Ruhmestaten erzählt. Das ist ihnen oft viel Geld wert. Ein wortgewandter báchorkor hat ein gutes Auskommen.“
„Vielleicht kannst du mir uns zusammen reisen.“
„Mit dir und deinem Weitvetter?“
„Und meinem Vater. Er will unbedingt dabei sein, wenn die teirandanja ihren hýardor erwählt.“
Gesinde, das ihnen entgegenkam, während sie so plauderten, nahm von den wildfremden Mann keine Notiz, der artig in gebührendem Abstand hinter ihr her ging. In Raýnetas Gegenwart hatte das wohl seine Ordnung.
Vor yarl Emberbeys Gemach stand niemand, der sie aufgehalten hätte.
„Bleib hier an der Tür“, bat sie. „Ich muss schauen, ob er wach ist. Manchmal schläft er am Tag ein.“
Der báchorkor nickte und setzte sein Bündel ab. Raýneta schlüpfte ins Zimmer.
Yarl Alsgör Emberbey hatte die Augen geschlossen. Der greise Ritter saß nahe des Kamines in einem schweren, geschnitzten Sessel, aber es brannte kein Feuer. Stattdessen versank der gebrechliche Körper weitgehend zwischen Schaffellen und Decken. Dem alten Mann war in der letzten Zeit nun so oft so kalt.
„Vater?“
Er war wach. Herr Alsgör wandte den Kopf in ihre Richtung. Die dünnen, bleichen Lippen in seinem faltigen Gesicht formten ein erschöpftes Lächeln.
„Raýneta“, brachte er hervor. „Mein Vögelchen. Was gibt es?“
„Der Tuchmacher hat endlich die Stoffe gebracht. Magst du fühlen, Vater? Ich glaube aber, der opayra ist es zu teuer.“
„Bring es mir“, sagte er mit spröder Altmännerstimme. „Und sag der opayra, dass es mir jede einzelne Münze wert ist, solange es dir gefällt, mein Kind.“
Sie näherte sich ihm und legte ihm den Stoff unter seine dürre Hand, die schon lange kein Schwert mehr halten konnte. Das feine Muster und den schönen Schimmer würde er nicht mehr richtig sehen können, mit etwas Glück aber auch den Schmutz nicht bemerken. Doch das Tuch für ihr Festkleid schien ihm wichtig zu sein. Er untersuchte den teuren Stoff kritisch und faltete ihn sogar ein Stück weit auseinander. Raýneta stockte der Atem, denn gleich würde er den Schmutz entdecken. Aber der Stoff glänzte goldsilbrig, trocken und ohne Dreck darauf.
Raýneta warf einen verwirrten Blick zu dem báchorkor hinüber. Ob sein Märchen von dem Weber und den Blumen wahr war?
„Du wirst entzückend darin aussehen“, sagte der alte Mann leise. „Wie deine Mutter.“
„Ich will eine Borte daran“, erzählte sie. „Die sticke ich gerade selber. Mit hübschen Fischlein, wie die auf unserem Banner.“
„Das ist fein, mein Kind …“
„Truda hat schon längst ein Festkleid, schreibt sie. In fliederblau und goldbestickt. Fast so schön wie das der teirandanja …“
„Ihr werdet entzückend aussehen, alle beide …“
Der báchorkor regte sich an der Tür, nur eine winzige, diskrete Bewegung. Aber yarl Emberbey entging sie nicht. Er wandte den Kopf.
„Ich hab einen báchorkor mitgebracht“, erklärte Raýneta rasch. „Er hat am Tor um Einlass gebeten. Aber die Wächter sind dumm und wollten ihn fortjagen. Darf er bitte hierbleiben? Er sagt, er kennt viele Märchen.“
„Ich bringe außerdem Interessantes aus Rodekliv für Eure Ohren, Herr“, fügte der junge Mann demütig hinzu.
„Aus Rodekliv?“, fragte Alsgör Emberbey und richtete sich mit überraschender Beweglichkeit auf.
„Ich hatte mir gedacht, dass es Euch interessieren dürfte, was dort in den letzten Wintern voran geschritten ist. Offenbar, ohne dass jemand es Euch zugetragen hätte. Aber wie auch. Herr Venghiár ist schließlich nicht mehr dort.“
Raýneta schaute überrascht zwischen den beiden hin und her. Sie hatte zwar nicht erwartet, dass der Vater den báchorkor fortjagen würde, aber sein unverkennbares, fast alarmiertes Interesse erschreckte sie.
Der Geschichtenerzähler kam selbstbewusst heran, ohne dass der yarl ihn dazu aufgefordert hätte. Er näherte sich dem Sessel nur bis auf drei Schritte, kniete untertänig nieder und überkreuzte seine Hände vor sich, zeigte seine leeren Handflächen vor, wie es die Sitte gebot. „Ich komme zu Euch, um Euch zu unterrichten und um etwas zu bitten, Herr Alsgör.“
„Du ersuchst um meine Hilfe, Bursche?“
„Nein. Nicht ich. Ich spreche für jemanden, dem Ihr Eure Treue geschworen habt.“
Der yarl regte sich. Eines der Schaffelle kam ins Rutschen und glitt zu Boden. Raýneta wollte es aufheben, aber der alte Mann stemmte sich in seinem Sessel hoch und stand schließlich wankend, hoch aufgerichtet auf seinen Füßen. Das Kind streckte die Hand nach ihm aus, unsicher, ob es ihn stützen oder auffangen sollte.
„Lass mich mit dem da allein, Raýneta.“
Raýneta zögerte. Die plötzliche Wachheit des Vaters beunruhigte sie. Sie hatte ihn seit vielen Monden nicht mehr ohne fremde Hilfe aufstehen sehen. Plötzlich war es ihr gar nicht mehr geheuer, den jungen Mann mit den wirren Haaren ins Haus gebracht zu haben. Seine Anwesenheit schien den Vater aufzubringen. Vielleicht hatten die Torwachen doch recht damit gehabt, ihn abweisen zu wollen. Vielleicht …
„Hab Vertrauen, junge yarlaranda. Deinem Vater wird in meiner Gegenwart kein Leid geschehen.“
„Geh, Raýneta. Was er mir für eine Geschichte bringt, ist wohl nicht für Kinderohren bestimmt. Geh zur deiner opayra und sorg dafür, dass sie nicht geizt und dem vendyr genug vom Tuch abkauft.“
Sie raffte den Stoff zusammen und warf einen fragenden Blick auf ihren Vater. Die Aussicht auf das neue Kleidchen wollte ihr gar nicht mehr recht gefallen. Aber sie wusste, wann es an der Zeit war, ihm zu gehorchen.
„Bis später, Vater“, grüßte sie ihn und drückte den Stoff in ihrem Arm zusammen.
„Du bist ein gutes Kind, Raýneta“, sagte der alte Mann leise.
Sie verneigte sich, warf im Vorbeigehen noch einen bangen Blick auf den Geschichtenerzähler und wollte schon zur Tür hinaus. Doch Alsgör Emberbey rief sie noch einmal zurück. „Raýneta?“
Sie blieb stehen, hatte aber Scheu, sich noch einmal zu ihm umzuwenden. „Vater?“
„Ich habe dich lieb. Mein kleines Vögelchen.“