Der báchorkor hatte seine Erzählung unterbrochen, aber über Begebenheiten in Rodekliv und Ferocrivé hatte er noch nicht geredet. Vielleicht war diese Ankündigung ein Vorwand gewesen, leere Worte, um vor den Burgherrn treten zu können. Vielleicht hatte der junge Mann nicht erwartet, vor einen halb blinden Greis geführt zu werden, und wusste nun nicht, wie er sich aus der Sache herausreden konnte.
Unter anderen Umständen hätte Alsgör Emberbey den Märchenerzähler verärgert fortjagen lassen. Aber obwohl der Strolch nicht auf den Punkt kam, hatte Alsgör Emberbey aufmerksam gelauscht. Es war keine Geschichte, wie báchorkoray sie üblicherweise vor höfischem Publikum vortrugen. Keine verwegenen Heldentaten, keine romantischen Verwicklungen, keine Kämpfe, keine Siege. Die Geschichte des jungen Mannes hatte nicht einmal eine richtige Handlung gehabt. Und doch hatte sie auf eine mehr als wundersame Weise im Herzen des greisen Ritters etwas aufgeschlossen und befreit. Dem alten Mann kam es vor, als habe er ein eng verschnürtes Bündel in seiner Brust getragen, an dem sich nun die Knoten gelöst hatten und das sich daraus entfaltete. Das fühlte sich gut an, erleichternd und tröstlich. Es hatte etwas bewirkt, das Alsgör Emberbey nicht verstand, nicht einordnen konnte. Es war die bisher beste Geschichte, die der alte Ritter jemals von einem báchorkor gehört hatte. Die sanften Worte des Erzählers ließen in seinem Geist Bilder entstehen, weckten Erinnerungen und rührten an Gefühle, die der alte Mann längst verloren geglaubt hatte.
Yarl Emberbey hatte seine trüben Augen geschlossen und dämmerte vor sich hin, ohne zu schlafen. Hellwach war er in seinen Gedanken, sein Verstand klar und scharf wie damals, als er als junger Bursche am Hofe des teirand Vóudir von Spagor gedient hatte. Dort und gemeinsam mit dessen Sohn, seinem verehrten späteren und Vater seines jetzigen Herrn, hatte Alsgör Emberbey in der Blüte seiner Jugend Abstand von dem gesucht, was sich hier in Emberbey zutragen hatte. In Pflicht und Amt war er vor dem geflüchtet, was daheim die Familie zerrissen hatte. Damals, als junger Ritter, hatte es nicht ertragen können, wie sehr seine Mutter gelitten hatte und sein Vater mehr und mehr verbitterte, seit seine Schwester Merýa Emberbey fortgegangen war.
Vielleicht, so kam es Herrn Alsgör überrascht in den Sinn, war es sein Streben gewesen, der beste unter den Gefolgsleuten von Vóudir von Spagor zu sein, Ehre und Ansehen für sich selbst zu gewinnen. Damit hatte er dem eigenen Vater, der eigenen Mutter gefallen, sie von der Enttäuschung und Schande ablenken wollen. Vielleicht hatte er sich auch selbst betäuben wollen von der Sorge und der Enttäuschung und berauschen, an seiner jugendlichen Kraft und Fertigkeit. Wie seltsam, nun, nach all der Zeit, so abgeklärt, so gelassen darüber nachzusinnen!
So klar die Farben, so hell war der Tag in den Worten des Geschichtenerzählers. Alsgör Emberbey glaubte, den salzigen Wind von damals spüren zu können und hörte das Trommeln der Hufe auf dem feuchten Sand, als er und der teirandanjor im Übermut mit stumpfen Lanzen gegeneinander geritten waren. Sie hatten sich für das vasposár ertüchtigen wollen, bei dem sie sich den Damen zu präsentieren, weit im Westen, jenseits des Montazíel. Längst vergangen war diese Jugend, diese Unbekümmertheit. Diese unschuldige Überheblichkeit, derer sie sich nicht gewahr waren. Der teirandanjor hatte damals tatsächlich eine kluge und herzliche yarlaranda als hýardora erkannt und heimgeführt. Alsgör Emberbey war allein geblieben. Die Mächte hatten seine Wege nicht mit denen einer hýardora zusammengeführt. Aber was machte das schon? Er hatte doch Zeit gehabt, noch so viel Zeit …
Später dann hatten die Mächte dem hochedlen Paar einen Sohn geschenkt, einen Knaben, der den Namen Asgaý erhielt und bald darauf seine Eltern verlor. Der Sturm hatte sie verschlungen, den teirand, seine anmutige hýardora, das Schiff und seine, Alsgör Emberbeys eigene Zukunft. Die war nun bedeutungslos geworden angesichts der Verantwortung für Asgaý von Spagor, dem kleinen gekrönten Waisenjungen. Diese Verantwortung hatte nun ihm oblegen, ihm und yarl Althopian, seinem Nachbarn, der damals kaum alt genug war, um bereits ein Vater zu sein. So viele ihrer Lebenssommer hatten der junge Waýreth Althopian und er selbst für den neuen, ebenso kindlichen wie kindischen teirand geopfert.
Und daheim, hier auf der heimischen Burg, da war der Vater zwischenzeitlich hinter den Träumen und die enttäuschte Mutter redete niemals mehr über Merýa, die vor so vielen Wintern entschwunden war. Die ihnen den Rücken gekehrt und die Brücken hinter sich zerstört hatte, kurz bevor Alsgör Emberbey im teirandon Spagor nichts anderes mehr kannte als Pflicht und Treue gegenüber seinem Herrn.
Herr Alsgör ächzte unter dieser schweren Erinnerung, die plötzlich in seine Fantasien hinein brach, in denen er sich als junger Mann am Strand mit seinem jungen Herrn im Kampfspiel tummelte und sich seiner Jugend erfreute.
Merýa! Merýa war fortgegangen, an der Seite eines zwielichtigen, liederlichen hýardor aus dem Osten jenseits der Sümpfe. Einem Mann, dem der eld-yarl Emberbey, der Vater von Herrn Alsgör, nicht traute. Die Warnungen, das Flehen und später den Tadel, den Zorn hatte Merýa nicht hören wollen. Siebzig Winter war das her …
Als der alte Burgherr das nächste Mal die Augen öffnete, war es dunkel geworden, bis auf den Schein eines kleinen Feuers im Kamin. Herr Alsgör fand sich nicht mehr in seinem Sessel, und der Duft einer Suppe hing in der Luft. Offenbar war zwischenzeitlich Gesinde bei ihm gewesen, das ihm seine Abendspeise eingeflößt, ein Nachtgewand übergezogen und ihn ins Bett getragen hatte, ohne dass er es bemerkt hatte. Das war in den letzten Tagen oft geschehen, dass ihm am Ende Augenblicke in seiner Erinnerung fehlten. Wie Löcher in einem Käse. Wie lange hatte er geschlafen? Hatte er all das vielleicht tatsächlich nur geträumt? Was für ein wunderlicher Traum, so befremdlich und doch so echt.
„Báchorkor? Bist du noch da?“, flüsterte er.
„Ich wache bei Euch, Herr Alsgör.“ Der Geschichtenerzähler saß auf dem Boden vor dem Sessel des yarl, mit untergeschlagenen Beinen und locker ineinander gelegten Händen. Das niedrige Kaminfeuer warf zuckende Schatten auf seine Gestalt.
„Wo ist mein Gesinde? Ist niemand sonst da, der noch nach mir schaut?“
„Es wird nicht mehr lange dauern, bis jemand kommt, um sich um Euch zu kümmern. Aber noch können wir reden. Welche Sorge hat Euch aus dem Schlummer geweckt, Herr? Was hat Eure schönen Erinnerungen gestört?“
„Ich hätte etwas tun müssen“, wisperte der alte Mann, nun, da das Gedenken an seine ältere Schwester aus dem entwirrten Bündel seines Herzens emporstieg. Plötzlich waren sie da, all die Gefühle, all der Schmerz. Die Last seines Alters und der versäumten Gelegenheiten und falschen Entscheidungen brach über ihm zusammen wie ein morsches Dach. „Ich hätte es verhindern müssen.“
„Ihr hättet es nicht verhindern können“, widersprach der báchorkor sanft.
„Ich hätte der Kerl umbringen müssen“, murmelte Herr Alsgör. „Dann wäre all das nicht geschehen, und meine Schwester …“
„Ihr hättet es noch schlimmer gemacht, hättet Ihr es getan. Es war ihre Geschichte, Herr Alsgör, und jener, dem Ihr grollt, war ihr wahrhaftiger hýardor, was immer Eure Eltern und Ihr selbst davon halten mochtet. Es war ihrer beider Bestimmung und was sie von Herzen angenommen hatte. Was später geschah, das hättet auch Ihr nicht mehr umlenken können.“
„Sie hätte nicht fortgehen dürfen! Der Unhold hat ihr Leben zerstört!“
„Nein, Herr Alsgör. Ihr irrt Euch, also befreit Euch von diesem alten Groll. Was immer sein Leumund in Euren Augen war, er hat Eure Schwester von Herzen geliebt. Das Glück zerstört haben andere.“
„Woher willst du das wissen?“, begehrte Herr Alsgör auf. „Was weißt du schon?“
„Die Wahrheit, Herr Alsgör. Und habt Ihr Frau Merýa nicht so oft die Hand reichen wollen?“
Alsgör Emberbey schreckte verwirrt aus seinem Jammer heraus. Wie konnte der junge Mann ihren Namen kennen? Er hatte ihn nicht erwähnt!
„Ich hätte sie mit Gewalt aus Rodekliv zurückholen müssen, sie und … ihr Kind! Ich … habe versagt.“
Der báchorkor schüttelte den Kopf. „Ihr habt weit mehr hingegeben und geopfert, als nötig war, Herr Alsgör. Eure Schwester wusste das. Ihr hättet sie nicht gegen ihren Willen retten können, auch wenn Euch das so erscheinen mag, weil Ihr es so gewohnt seid. Sie hatte ihren Stolz, um zu ihren Entscheidungen zu stehen.“
Alsgör Emberbey ballte die Fäuste und ignorierte den stechenden Schmerz, der ihn an seine Gicht erinnerte. „Sie hätte jederzeit zurückkehren können! Mit offenen Armen hätte ich sie empfangen! Aber sie wollte nichts mit mir zu schaffen haben!“
„Es muss Euch nicht reuen. Es ist wohl so eine Sache mit dem Stolz des Hauses Emberbey. Eine seltene Kostbarkeit heutzutage, so viel Ehre, Treue und Sitte, und all das ohne jeglichen Hochmut. Und so viel unnötige Härte gegen Euch selbst.“
„Woher weißt du das alles? Ich habe nie mit jemandem über diese Dinge geredet!“
„Ist es bedeutsam, auf welchen Wegen ich davon erfahren habe? Genügt es nicht, dass ich offensichtlich recht habe?“
Der alte Ritter dachte nach. Dann schluchzte er leise auf. Wie demütigend! Nie zuvor hatte der alte Mann sich vor Zeugen Tränen erlaubt – und schon gar nicht vor einem Fremden!
„Es tut so weh“, brachte er hervor. „Es ist so schwer …“
„Dann redet es Euch vom Herzen. Stück für Stück, so als räumtet Ihr eine Truhe mit lauter unnützem Krempel aus und würfet all die Beschwerden der Zeit von Euch. Dann wird es Euch leichter.“
Der Ritter zögerte verwirrt, und der báchorkor fügte freundlich hinzu: „Niemand wird von mir erfahren, was Euch all die Zeit erdrückt hat. Schüttet mir Euer Herz aus. Nichts soll ungesagt bleiben.“
Plötzlich drängte es Alsgör Emberbey, Dinge auszusprechen, die er mit niemandem sonst teilen konnte als mit diesem fremden Fahrenden, den Raýneta, der letzte Sonnenstrahl seines dahinwelkenden Daseins, eingelassen hatte. Irgendetwas geschah, allein dadurch, dass der junge Mann ihm geduldig zuhörte. Der alte Mann erzählte, zunächst zögernd, dann immer mehr von seiner Trauer über das Zerwürfnis der Eltern mit seiner Schwester, über den tragischen Tod seines teirand. Seine Enttäuschung über die gedankenlose Achtlosigkeit und Undankbarkeit des verwaisten Bengels Asgaý, der sich so gar nicht für seine herrschaftllichen Pflichten interessieren ließ. Von der Verantwortung und den Mühen, mit denen er versucht hatte, den jungen Thronfolger zu einem mächtegefälligen Menschen zu machen, dem er guten Gewissens dienen konnte.
Alsgör Emberbey fand von einem Wort zum nächsten, und mit jedem Satz kehrte das tröstliche Gefühl zurück, versetzte ihn mehr und mehr zurück in seinen ungestümen jungen Körper und diesen einen, herrlichen Tag am Strand, als er jung und übermütig und hungrig nach der Zukunft gewesen war. Der yarl berichtete von all den zurückgestellten Lebenssommern, die so fruchtlos verflogen waren.
Von der so viel jüngeren, freundlichen yarlara, die er schließlich in seiner Verzweiflung über das unbarmherzige Altern aufgenommen und die ihm dafür die drei Nachkommen geschenkt und darüber ihr Leben gelassen hatte. Die Dame, die er so sehr geliebt und geehrt hatte, ohne es ihr jemals vertrauensvoll zeigen zu können.
Den Sohn, der ohne eigene Schuld seine Erwartungen enttäuscht hatte, als tadelloser, tauglicher Ritter das Erbe der Familie Emberbey weiterzutragen. Die Töchter, deren Zukunft er nicht mehr beobachten konnte. Vor allem die kleine Raýneta, sein Vögelchen, das Kind, das einen hinfälligen Greis zum Vater hatte. Die nur etwas ältere, die schon bald das Interesse junger Herren erregen würde, für ihn jedoch zu spät. Was, wenn Truda auf einen fragwürdigen Halunken hineinfiel, so wie es Merýa geschehen war?
Würde Venghiár diese Last, diese Verantwortung tragen können, für das yarlmálon, für die Schutzbefohlenen, für die teiranday und vor allem für die Mädchen, die einen besseren Vater verdient hatten, als er es gewesen war?
Darüber verging einige Zeit. Am Ende stand Herr Alsgör in der Szenerie des Traumbildes seiner Erinnerung am Strand und schaute hinauf auf das Meer, nackt und wahrhaftig, und mit einem Herzen, das sich nun so weit anfühlte wie der Himmel. Noktámas Schleier legte sich langsam über das Firmament und verdunkelte das honiggoldene Farbspiel, mit dem Pataghíus Glanz ins Meer tauchte. Nach und nach wurde das goldene Wasser schwarz und es spiegelten sich Mond und Sterne darin. Bald war es in seiner Erinnerung dunkel wie in seiner Stube.
Der báchorkor war bei ihm und hörte geduldig zu.
„Ich war ein schlechter Vater“, brachte Herr Alsgör endlich bekümmert hervor.
„Ihr wart ein guter Mensch“, behauptete der Fahrende, durchaus nicht so, als wolle er dem mächtigen yarl schmeicheln.
„Nein. So viele Fehler … so viele Menschen, die ich missachtet habe …“
„So viele Menschen, die Euch geliebt haben und lieb haben, ungeachtet Eures so wahrhaftigen, unbezwinglichen Stolzes, den Ihr um Euch getragen habt wie Euer Eisenzeug.“
„Mein Sohn“, brach es aus Alsgör Emberbey heraus. „Wie grausam war ich zu meinem eigenen Sohn. Bald ist das vasposár. Bald ist Osse wieder hier … ich will … nein, ich muss ihn um Vergebung bitten!“
„Euch ist längst vergeben, yarl Emberbey. Ihr müsst keine Worte darum machen. Nicht darum. Es gibt etwas Dringlicheres. Vertraut Ihr Herrn Venghiár?“
Venghiár? Alsgör Emberbey stutzte. Ging es nun wohl doch an die geheimen Dinge aus Rodekliv, die Venghiár ihm angeblich vorenthielt? Aber was ging den báchorkor an, wie er zu Venghiár stand? Er wollte Fakten, keine Spekulationen. Keine Enttäuschungen.
„Er ist mein Großneffe! Er ist die letzte Spur, die von Merýa geblieben ist.“
„Das habe ich verstanden. Aber vertraut Ihr ihm? Wird er ein guter Ritter für Euer yarlmálon sein, ein getreuer Gefolgsmann der teirandanja?“
„Natürlich“, wisperte der alte Ritter. „Er hat all meine Erwartungen übertroffen. Er ist heimgekehrt, hat seine unstandesgemäße Vergangenheit in Rodekliv hinter sich gelassen und ist ein getreuer Diener der teiranday von Wijdlant.“
„So.“ Der báchorkor schien plötzlich sehr interessiert „Unstandesgemäß?“
„Seine Mutter ist als Halbwaise aufgewachsen, ohne Vater und in sehr einfachen Verhältnissen.“
„Was ist mit seinem Vater geschehen?“
„Nicht einmal seine Mutter weiß, wer sein Vater ist“, knurrte Herr Alsgör verlegen. „Es hat Mühe gekostet, sie in Rodekliv zu finden. Ich habe dafür viele Leute gut bezahlt. Reicht dir das?“
„Wer hat ihn erzogen?“
Alsgör Emberbey seufzte. „Die yarlay von Rodekliv kümmern sich verantwortungsvoll um die Knaben in ihrem yarlmálon. Sie werden versorgt und bekommen eine gute Ausbildung.“
„Ich verstehe. Ich habe auf meinen Reisen jenseits der Sümpfe solche Lehrhäuser gesehen. In Ferocrivé halten die yarlay es ähnlich. Es gilt als erstrebenswert, dort angeleitet zu werden. Hat Euer Großneffe gut gelernt bei seinen Herren?“
Der alte Ritter zögerte. Er war angenehm überrascht gewesen, als Venghiár Emberbey damals mit einer der seltenen Reisescharen aus dem Osten auf der Burg eingetroffen war. Der Junge war artig und manierlich gewesen, wenn auch nicht ganz so höfisch gewandt, wie es zu hoffen gewesen wäre. Aber das ließ sich üben. Und an seinen Fertigkeiten als angehender Kämpfer hatte es nichts auszusetzen gegeben. Welch ein Unterschied zum jungen Asgaý von Spagor, der sich weigerte, der erste Ritter seines eigenen teirandon zu sein! Allein, dass Venghiár kaum über seine Mutter und Großmutter redete, das hatte Alsgör Emberbey betrübt.
„Die Lehrhäuser sind den Mächten gefällig“, behauptete der alte Mann trotzig. „Kein Kind geht verloren. Sie bekommen alles, was ihnen ihre Familien nicht bieten können.“
„Und Ihr habt Euch entschieden, dem jungen Mann für seine Entbehrungen nun auch mit einer Familie zu belohnen?“
„Ich habe ihn nach Emberbey geholt, damit dieses yarlmálon einen tauglichen Schutzherrn hat. Ist das so falsch? Von einem unbedeutenden Waffenknecht unter einem herrenlosen yarl habe ich ihn zu meinem Statthalter gemacht. Um zurechtzurücken, was damals ins Wanken geriet. Osse kann sich nicht um dieses yarlmálon und seine Schwestern kümmern und zugleich der teirandanja dienen.“
„Es ist nichts Anstößiges daran, dass Ihr wünscht, einen guten, ehrenvollen Herrschaftsverwahrer zu benennen, bis Euer Sohn einst einen solchen zeugt. Die Familie Emberbey hat dieses yarlmálon zum Gefallen der Mächte seit jeher mit Umsicht und Gerechtigkeit zur Blüte gebracht. Meinesgleichen preist noch heute den Ruhm Eures Ahnherren Thorgar Emberbey.“
Alsgör Emberbey seufzte schwer.
„Waýreth Althopian und mein teirand Asgaý von Spagor“, gestand er dann. „Die und die anderen yarlay … sie wollten mich davon abhalten, Venghiár nach Emberbey zu holen.“
„Aber Ihr habt Euch um Eurer Liebe zur Familie willen gegen Eure Freunde und Euren Herrn durchgesetzt.“ Der báchorkor sprach sanft, ohne Aufregung. „Ihr hattet nur Lauteres im Sinn, Herr Alsgör. Und wer weiß, vielleicht bin ich einfach nur voreingenommen.“
„Was weißt du?“, flüsterte der alte Mann. „Und woher weißt du es?“
„Ich war dort. Ich habe ihre Geschichten gehört, die der herrenlosen yarlay und die ihrer … Schutzbefohlenen.“
„Ich kenne die Geschichten auch. Waýreth Althopians Leute greifen gelegentlich Unzufriedene aus den yarlmálon hinter den Sümpfen auf. Venghiár sagt, man habe ihn allezeit gut behandelt. Es sei ein gutes Leben am Hof der freien yarlay.“
„Warum sollte er lügen? Warum sollt er selbst es anders sehen? Aber was, wenn ich Euch sagte, dass in Ferocrivé und Rodekliv erneut die Lust nach Macht und Land erwachte?“
„Davon wüsste ich. Und wie soll das gehen? Die Chaoskriege sind vergangen. Alle Kriege sind vergangen! Und die Sümpfe sind immer noch da. In den beiden yarlmálon leben sie ihr Leben und wir das unsere.“
„Es braucht keinen blutigen Krieg mehr, um Unfrieden zu stiften. Nicht in diesen Tagen. Herr Alsgör, die Loyalität von Venghiár Emberbey ist so manchem Mächtigem hinter den sumpfigen Ebenen eine Menge wert. Sehr viel Versuchung und Gewissensfragen für einen so jungen Herrn. Euer Großneffe steht vor schweren Prüfungen. Wird er sie bestehen?“
„Ich hoffe, du hast für diese frechen Andeutungen einen guten Beweis und Zeugen“, stieß Herr Alsgör hervor. „Wirst du ihm das genau so ins Gesicht sagen, wenn er wieder hier eintrifft nach seiner Reise nach Virhavét?“
„Ich denke nicht, dass er dergleichen von mir hören möchte, Herr.“
„Auch in Emberbey“, brachte Alsgör Emberbey hervor und versuchte, sich aufzurichten, „bleiben Lügen und Verleumdungen nicht ungeahndet, Bursche! Du spielst mit deinem Leben!“
„Ich hätte es Euch gern erspart, yarl Emberbey. Aber es steht Großes auf dem Spiel. Um Unheil abzuwenden, bin ich hier.“
Der alte yarl öffnete die Augen. Schemenhaft sah er den báchorkor vor sich. Der junge Mann war aufgestanden und stand nun dicht vor dem Bett.
„Du meinst es ernst, nicht wahr?“, fragte der alte Mann matt.
„Ja. Aber ich kann von Euch nicht erwarten, dass ihr meinen Geschichten Glauben schenkt. Schließlich bin ich nur ein dahergelaufener báchorkor, und Herr Venghiár ist ein Teil Eurer Zukunft und einer, dem Ihr vertraut.“
„Er würde mich nicht hintergehen“, beteuerte der yarl leise. „Er ehrt und respektiert mich, und er tut alles, um sich hier um die Geschäfte und Schutzbefohlenen zu kümmern.“
„Ich wünsche von Herzen, dass er sich Eures Vertrauens würdig erweist. Doch an den Dingen, die in Rodekliv rumoren, gibt es nichts zu deuteln. Auf welcher Seite Herr Venghiár am Ende stehen wird, ist einerlei. Aber was das Andere betrifft, bin ich gekommen, um mich einzumischen“, sagte der báchorkor.
Yarl Emberbey blinzelte. Ungeachtet der Dunkelheit erkannte er den báchorkor jetzt ganz deutlich vor sich. Der alte Ritter war verwirrt. Der junge Mann hielt nun ein Schwert in der Hand. Wo hatte er das hergenommen? Der Blick des Greises schweifte irritiert durch den Raum. Sein eigenes Schwert war an seinem Platz, ruhte auf einem Gestell an der Wand gegenüber, zusammen mit der goldenen Amtskette des mynstir. Seit vielen Monden hatte Alsgör Emberbey seine Klinge nicht in der Hand und das schwere Geschmeide nicht um den Hals gehabt. Seine einst vom Kampf gestärkten, nun von der Gicht starren Finger konnten das Schwert nicht mehr halten.
Der Ritter seufzte müde und musterte den jungen Mann im Widerschein des glimmenden Feuers. Unter anderen Umständen hätte die Waffe in der Hand eines so schmächtigen, sichtlich nicht damit geschulten Mannes absonderlich ausgesehen. Und was war das für ein seltsames, schimmerndes Metall?
„Also hat jemand dich ausgeschickt, um mich zu ermorden?“, fragte Alsgör Emberbey gefasst.
„Nein. Ganz im Gegenteil. Ich bin um Euretwillen und auf eigene Sache hier.“
Alsgör Emberbey nickte langsam. Dann streifte er sich die Decke vom Körper und stemmte sich mühsam hoch. Der báchorkor trat verwundert einen Schritt zurück.
„Hilf mir, Bursche. Ich will aufstehen. Und gib mir mein Schwert, da vom Regal.“
„Ihr habt ernsthaft den Wunsch, mit mir zu fechten?“, fragte der báchorkor. Alsgör Emberbey hatte erwartet, dass der junge Mann ihn auslachen würde, angesichts seiner lächerlichen Altersschwäche. Aber das tat er nicht.
„Ich schätze keine Besucher mit blanker Waffe in meinem Gemach, Bursche. Und wenn ich schon im Nachthemd bin statt im Eisenzeug und bedroht werde, dann will ich doch wenigstens meine Klinge noch einmal halten.“
„Ich habe fast nichts anderes erwartet, Herr Alsgör. Aber ich bin kein Gegner für Euch.“
„Das weiß ich, Bursche! Aber ich habe nicht vor, mich billig zu verkaufen, wer immer dich schickt! Und nur, weil deine Geschichte mir so gut getan hat, und weil du mein Geheimstes gehört hast, will ich es persönlich mit dir beenden.“
Der Geschichtenerzähler lächelte. Dann erfüllte ihm seinen Wunsch, nahm den Einhänder von seinem Gestell und legte ihn in Herrn Alsgörs Hände. Yarl Emberbey umfasste den Griff seines Schwertes, mit dem er so viele Kämpfe bestanden hatte. Wie schwer es war! Doch wie seltsam … kaum berührten seine Hände das Metall, flutete ihm Wärme und Kraft durch die Finger. Die Gicht war wie verflogen. Alsgör Emberbey blickte überrascht auf und spürte, wie seine gebeugte Gestalt sich straffte und sein Blick aufklarte. Der Geschichtenerzähler lächelte, so freundlich, so sanft.
„Mein Sohn“, sagte er dann. „Meine Töchter. Raýneta … sie hat sich so auf das Fest der teirandanja gefreut.“
„Ich verspreche Euch“, versicherte der báchorkor, „dass ich ihnen allen die ruhmreiche Geschichte ihres Vaters erzählen werde. Und was Raýneta betrifft … macht Euch überhaupt keine Gedanken. Das Kind wird in Sicherheit sein. Und auf dem Fest wird die Kleine das schönste Kleidchen unter allen Damen tragen. Sie wird Euch stolz machen.“
Alsgör Emberbey nickte. Das Schwert bebte in seinen zitternden Händen. Dann holte er weit aus.
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Achtung: Wegen Überlänge geteiltes Kapitel, es folgt die zweite Hälfte!