Autorinnenkommentar: Und hier kommt das letzte Kapitel, das auf dem „alten“ Belletristica erscheinen wird. Wer weiter dabei bleiben will, findet die Geschichte nebenan auf Wattpad (https://www.wattpad.com/story/391205368-scherbenlied-oder-die-suche-nach-dem-b%C3%B6sen) oder kann alternativ die nächsten Teile auch als PDF direkt ins Mailpostfach bekommen – PM an mich genügt. :-) Viel Spaß!
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Herr Kárar, yarlandor von Ferocrivé, grummelte unwillig, als ihn der Lichtschein weckte. Sein Knappe war also zurückgekehrt, nachdem er vorhin schon so unbotmäßigen Lärm gemacht hatte, als er eilig aus dem Zelt gestürzt war, angetrieben von übermäßig viel Bier. Konnte der Nichtsnutz seine Lampe nicht löschen und einfach still zurück auf sein Nachtlager gehen?
„Sei leise, Kerl, und mach das Licht aus“, grunzte der junge Ritter aus dem yarlmálon jenseits der Sümpfe verärgert und warf sich auf seinem Reisebett herum, dass dessen Lederriemen nur so knarrten. „Ich brauche meine Ruhe.“
„Ja, Herr“, nuschelte der Junge eilig und pustete die Handlaterne mit dem kleinen schwimmenden Licht aus. „Verzeihung, Herr.“
Einen Moment lang lag der Ritter still. Aber es half auch nichts, dass der Dummkopf versuchte, lautlos zu atmen. Nun war Kárar Ferocrivé wach und spürte seinerseits ärgerlich den Druck auf seiner Blase. Mit einem Seufzer stemmte der junge Mann sich auf. „Hervorragend. Jetzt muss ich auch ins Freie. Gib mir das Licht.“
Der Junge, der den yarlandor auf dem weiten Weg nach Westen begleitet hatte, um ihm mit Pferd, Gepäck und Waffen zur Hand zu gehen, beeilte sich, im Dunklen die Zündhölzer wiederzufinden. Es dauerte einen Moment, bis er damit zurande kam.
„Seid vorsichtig, wenn Ihr rausgeht, Herr! Nicht, dass Ihr die Leute aufstört.“
„Ich gebe wohl acht, dass die Idioten hier mich nicht bemerken, Rolk. Ich veranstalte keinen Lärm wie du. Oder wie ein toll gewordenes Waldschwein - was keinen Unterschied macht.“
„So dürft Ihr aber nicht vor den schönen Damen reden, Herr!“
Herr Kárar, der eigentlich vorgehabt hatte, sich schlicht gegen das pompöse Zelt seines Konkurrenten aus dem fernen Ycelia gleich gegenüber zu erleichtern, stutzte. „Welche Damen?“
„Na, die Damen draußen, ein paar Schritte nordwärts.“
„Hier bei den Zelten sind keine Damen, Rolk. Du bist besoffen.“ Es sei denn, räumte er für sich ein, irgendjemand habe an dem strengen Zeltmeister vorbei das eine oder andere Freudenmädchen eingeschmuggelt. Aber das war unwahrscheinlich. Nein – unmöglich. Nicht hier, nicht in Wijdlant. Hier achtete man auf Züchtigkeit.
„Doch nicht in den Zelten, Herr. Drüben, auf der Lichtung, hinter den Bäumen. Prächtige fánjulaé.“ Rolk kicherte betrunken, ein absurdes Geräusch irgendwo zwischen knabenhafter Verschämtheit und einer aufkeimenden Lüsternheit, für die er längst nicht alt genug war. „Eine blond und eine dunkel …“
„Das hast du geträumt, Bursche. Rede nicht so einen Schwachsinn.“
„Aber ich hab es doch gesehen, Herr! Ganz deutlich hab ich es gesehen! Ein Ritter war auch bei ihnen, in blankem Goldzeug.“
„In Goldzeug, soso.“ Kárar Ferocrivé grinste. Das wurde ja fast drollig. Als er selbst in Rolks Alter gewesen war, da hatte er mehr zu trinken vertragen, ohne wirre Wunschbilder zu sehen. „Aus Aurópéa dann wohl, was?“
„Möglich, Herr, ganz gut möglich. So ein großer, langhaariger Blonder. Bunte Gewänder, Eisenzeug aus Gold. Goldzeug eben.“
„Dann lass mal hören. Erzähl mir, was für Damen du da gesehen hast.“
„Oh, Herr, von den schwarzhaarigen hab ich nur den Rücken gesehen. Ein herrlicher Rücken. So schön wie … wie die von den prächtigsten fánjulaé auf den alten Bildern in der Badestube in der Zwischenburg.“
„Und weiter?“
„Weiter, Herr?“
„Wenn du sie nur von hinten gesehen hast, woher willst du wissen, ob sie nicht ein ungestaltes Gesicht hat?“
„Die nicht, Herr. Die war … war …“
„Ja?“
Rolk runzelte verwirrt die Stirn. Offenbar waren ihm die Worte ausgegangen. „Heißer als ein Schmiedefeuer“, sagte er schließlich inbrünstig und verwirrte seinen Herren mit solch gefühliger Ausdrucksweise.
„Und das andere Weibsbild? Hast du wenigstens von der etwas mehr gesehen als Haar und Schultern?“
„Oh ja, Herr. Die Blonde … also, die war jung, zierlich, wohlgestalt, fast so anmutig wie die teirandanja.“
Der Ritter fragte sich, woher Rolk einen solchen Vergleich nahm. Der Knappe war nicht zugegen gewesen, als Manjév von Wijdlant und Spagor am Mittag gemeinsam mit ihrer Hofdame und jenem yarl, der zu ihrem Schutz abgestellt war, das Zeltlager besucht hatte. Er selbst hatte den Jungen etwas zuvor zu einigen Besorgungen losgeschickt. Andererseits – diese Beschreibung war bemerkenswert frei von den unkeuschen Details, die zu erwarten waren, wenn heranreifende Burschen aus den Lernhäusern des yarlmálon sich verführerische Weibspersonen zusammenfantasierten.
Ob tatsächlich jemand die Dreistigkeit gehabt haben sollte, sich seine eigenen Lustgespielinnen zu einem vasposár mitzubringen? In Hörweite der anderen Herren und ihres Gefolges, und noch dazu des maedlor, der das Lager der Gäste beaufsichtigte? Einem dekadenten Kämpfer aus dem Süden, wo man Gold nutzte wie anderswo Eisen, war das zuzutrauen. Denn wenn der Mann, den Rolk zu sehen geglaubt hatte, tatsächlich echt war und aus Aurópéa kam, war es mit Sicherheit kein yarl, sondern allenfalls ein begüterter Großtuer aus der Stadt. Solchen Gecken war es zuzutrauen, dass sie ihre Mädchen mitbrachten, um die Nächte nicht allein zu verbringen. Dreist und ungehörig, aber es waren schon schamlosere Dinge geschehen im Weltenspiel.
„Und? Was hatte die Blonde so zu bieten? Ich meine, so obenrum zum Beispiel?“ Herr Kárar untermalte seine Worte mit einer unkeuschen Geste, um dem begriffsstutzigen Kerl auf die Sprünge zu helfen. Rolk schaute blöd, dann ging ihm ein Licht auf.
„Das hab ich nicht gesehen“, gab er zu und errötete. „Sie hatte ein loses Kleid an. Ein gelbes.“
„Ein gelbes Kleid?“
„Naja, nicht so richtig gelb wie eine Sonnenblüte. Eher so wie … wie Honig. Sah mindestens aus wie eine Edelmagd. Ein vornehmes Hauskleid, ein Wappenkleid. Kein Bauernzeug.“
„Woher weißt du das alles so genau? Es ist dunkel draußen!“
„Sie hatten ein Licht, Herr. Saßen um ein kleines Feuer und haben geredet. Aber verstanden hab ich nichts“, beeilte Rolk sich, klarzustellen. „Ich hab nicht gelauscht, Herr! Wirklich nicht. Waren auch zu weit weg.“
„Vielleicht hast du all das doch nur geträumt?“, fragte Kárar Ferocrivé geduldig. „Du hast weit mehr gesoffen, als du verträgst. Und wenn einem das Bier bis in den Schädel schwappt, dann sieht man schon einmal Dinge …“
Rolk schaute ratlos drein. Möglicherweise zog er in Zweifel, ob er wirklich gesehen hatte, wovon er gerade noch überzeugt gewesen war. Seinem Herrn zu widersprechen wagte er jedenfalls nicht.
Kárar Ferocrivé erhob sich. Was immer sein Knappe sich da zusammengesponnen hatte, länger konnte er selbst sein Wasser jetzt nicht mehr halten. „Schlaf deinen Rausch aus“, wies er den Jungen an. „Morgen gibt es viel zu tun.“
Rolk schloss gehorsam die Augen. Der Ritter schlüpfte durch den Zeltausgang ins Freie, reckte sich und schaute sich um. Das Lager war vorläufig noch recht übersichtlich, nur etwas mehr als ein Dutzend Zelte standen zwischen der Turnierwiese und dem Waldrand. Hier und da drang das Schnarchen schlafender Edler und ihrer Gefolgsleute durch die Leinwände. Kárar Ferocrivés Zelt war klein, aber er war nicht der Einzige, der mit bescheidenem Gepäck und einem Begleiter angereist war. Schlicht und unauffällig war die Unterkunft für ihn und seinen Knappen. Genau so wie sein Vater es angeordnet hatte, wies keine Farbe und schon gar kein Wappen auf die Herkunft des jungen Ritters hin. Die sollte so lange als möglich geheim bleiben und es war Herrn Kárar so auch ganz recht. Namentlich nicht genannt am Turnier teilzunehmen, das war erlaubt, bis zum Fall eines Sieges. Das Schweigen um seine Herkunft ersparte ihm vorerst viele dumme Fragen der Mitstreiter. Wenn nur Rolk sich nicht verplapperte!
Das protzige Zelt des yarl aus Ycelia gegenüber dem seinen bot seinen Bewohnern viel mehr Platz, doch auch darin wurde hörbar tief und fest geschlafen und geschnarcht. Das Honigbier, das Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor ihren frühen Gästen großzügig hatten ausschenken lassen, war exzellent, aber sehr stark, wenn man dünneres Gesöff gewohnt war. Wachen gab es hier nicht. Wozu? Welcher Narr käme auch auf die Idee, ein Zeltlager voller Ritter, ehrgeiziger Kämpfer und Waffenknechte zu überfallen?
Kárar Ferocrivé schlich hinüber und verteilte das zuvor Getrunkene mit erleichtertem Grinsen an der bunt geschmückten Zeltwand des Mitbewerbers. Ob der Goldgerüstete auch hier sein Zelt aufgeschlagen hatte?
Ein Kämpfer aus Aurópéa also, der zu nachtschlafender Zeit mit zwei Damen im Wald vertrauliche Gespräche führte. Einer Dame mit einem honiggelben Gewand. War es möglich, dass es sich bei der Schönen um die yarlaranda von Emberbey handelte, eine der Hofdamen der teirandanja? Die hatte er gesehen, früher am Tag. Ein wahrhaftig wohlgestaltetes Mädchen, etwas albern vielleicht. Blond war sie, das passte. Und sie trug, so wie es Sitte war, ein kostbares Überkleid in den Farben ihrer Familie, in diesem Fall bernsteingolden. So wie das Wasser der Bucht, wo die Burg des yarlmálon stand, wenn Pataghíus Glanz hinter den Horizont sank. Dass die yarlaranda sich hier in der Gegend herumtrieb, vielleicht im Geheimen und mit eigenen Plänen, war zumindest nicht ausgeschlossen.
Aber wer mochte die zweite rätselhafte Dame mit schwarzem Haar sein, die von der Rolk nur den betörenden Rücken gesehen hatte? Schwarzhaarige fánjulaé sah man nördlich des Montazíel nicht alle Tage, und wenn sie wirklich so schön war, dass allein ihre Kehrseite den Knappen schon so in Verzückung stürzte, hätte sich ihre Gegenwart längst unter den Herren und ihren Knechten herumgesprochen. Also schien sie zu dem mysteriösen Kerl in der Goldrüstung zu gehören.
Kárar Ferocrivé überlegte. Was es wohl mitten in der Nacht im Wald zu bereden gab? Ob etwas Geheimes abgesprochen wurde? Ob es um das vasposár ging? Passen würde das, wenn das Haus Emberbey – mit oder ohne Wissen der teiranday – einem Favoriten Vorteile verschaffen wollten. Hatte sein Vater, yarl Ebbmo Ferocrivé, nicht oft genug gemahnt, dass den Herren von Emberbey nie und nimmer zu trauen sei? Wieso sollte es bei den Weibern aus dieser Brut anders sein?
Nordwärts im Wald? Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht waren sie noch da. Mit eigenen Augen wollte er sie sehen, den Gecken in der Goldrüstung, die bernsteinfarben gewandete und das verführerische Weibsstück mit dem betörenden Rücken!
Und so machte Kárar Ferocrivé sich auf den Weg. Weit fort konnten die geheimnisvollen Verschwörer nicht sein. Vielleicht konnte er noch etwas herausbringen!
Doch als der Ritter auf der Lichtung ankam, war dort rein gar nichts zu sehen. Dass er an der richtigen Stelle war, das zeigte das an, was Rolk hinterlassen hatte und noch nicht gänzlich versickert war. Doch so sehr der junge Ritter mit seiner Lampe den Boden ableuchtete, es war nicht die kleinste Spur eines Feuers zu finden. Nur ein paar heruntergebissene Sträucher waren zu sehen, und darum herum Klauenabdrücke, die zu einem kapitalen Hirsch gehören mussten. Und einige Büschel Fell in den Dornen und an der rauen Rinde eines Baumes, bunt wie das Gefieder eines Prachtvogels.
Der junge Ritter pflückte das Haar verwirrt vom Busch. Seidenzart war es. Kein Pferd, kein Waldschwein, kein Schwarzhirsch hatte einen solchen Pelz. Und doch – Kárar Ferocrivé hatte genug über die alten Zeiten, über die vergangenen Kriege gelesen und von seinen mestaray gehört, um sich auszumalen, welcher Art von Tier ein solches Fell gehörte. Es gehörte nicht hierher, nicht auf die Nordseite des Montazíel. Aber goldenes Rüstzeug erklärte, wer es hergebracht hatte.
Bei den Mächten! Wie schön mussten die fánjulaé gewesen sein, dass Rolk darüber das Ungetüm übersehen hatte, das solche Spuren hinterließ! Und wie durchtrieben die teiranday von Wijdlant, einen solchen Verrat zu begehen!
***
„Bedien dich“, sagte Manjév.
Advon schaute sich Hilfe suchend nach Dýamirée um. Die zuckte die Achseln. Das Gesicht der Schattensängerin war hinter ihrem Schleier zwar verhüllt, aber dass ihr die Sache unbehaglich war, konnte auch das schwarzsilberne, hauchzarte Tuch nicht verbergen. Je länger sie zögerten, desto wahrscheinlicher wäre es, dass jemand vom Küchenpersonal in die Vorratsräume hineingehen wollte, die von hier aus zugänglich waren. Dýamirée gab sorgsam darauf acht, nicht unachtsam Männer in Gefahr zu bringen, die ahnungslos in ihre Nähe gerieten. Aber in ihre Eichhörnchen-Verkleidung schlüpfen, konnte sie jetzt nicht, denn es galt, Dinge zu transportieren.
„Greif zu“, wiederholte die teirandanja. „Hier ist alles, was du brauchst.“
„Aber das ist sämtlich alt und kaputt.“
„Eben. Niemand wird es vermissen. Und es dürfte doch kein Beschwernis für euch sein, es wieder heil zu zaubern, oder? Anders kann ich dir auf die Schnelle kein unmagisches Zeug beschaffen. Meine yarlandoray haben sich schon vor vielen Monden um ihr Eisenzeug gekümmert. Du bist spät dran, Advon Irísolor.“
„Es wird ein Problem sein, den Plunder durch die Tür zu bringen. Egal, ob kaputt oder nicht.“
„Du musst doch einfach nur wollen, dass uns niemand bemerkt, oder erinnere ich mich da falsch?“
„Es ist Altmetall!“
„Willst du am vasposár teilnehmen oder nicht? Einen Regenbogenritter lassen sie nicht zu. Das wäre gegen die Regeln. Du musst dich verkleiden.“
Advon Irísolor seufzte. „Es ist anstrengend“, behauptete er. „Je mehr Menschen ich ablenken muss, desto mühsamer wird es.“
„Ich helfe euch tragen. Ihr seid längst mit Farbenspiel aus der Burg heraus, bevor zu viele Leute erwachen und hier einherlaufen. Also?“
Der Regenbogenritter seufzte. Dann begann er, aus all den alten, rostigen und schartigen Schwertern eines herauszusuchen, das noch im besten Zustand zu sein schien.
„Einen Streitflegel brauchst du auch“, erklärte Manjév eifrig. „Aber nimm dich damit in acht! Das ist Merrits gefährlichste Gabe. Er kann mit so einer Waffe glatt dicke Bretter durchschlagen.“
„Ich verstehe nicht, warum du willst, dass ich den Favoriten des teirandon aus dem Feld schlagen soll. Das ist nicht richtig, Manjév! Euer Ansehen …“
„Merrit muss dieses Turnier überhaupt nicht gewinnen. Wer der Sieger bei dieser Veranstaltung ist, hat überhaupt keinen Einfluss darauf, wer möglicherweise mein hýardor wird.“
„Warum hast du denn dann Angst, dass er gewinnen könnte?“
Manjév griff nachdenklich nach einem zerschlagenen Schild, dessen Aussehen darauf schließen ließ, dass er seinem ursprünglichen Besitzer mehr als einmal das Leben gerettet hatte.
„Das verstehst du nicht. Das … verstehen nur fánjulaé.“
„Ich verstehe es auch nicht“, widersprach Dýamirée.
„Alle erwarten, dass ich mich für ihn entscheide“, sagte Manjév leise. „Und er wird alles daran setzen, mir zu beweisen, dass er der Beste ist. Ich weiß doch, dass er mir gefallen und dienstbar sein will. Merrit Althopian würde alles für mich tun.“
„Und wo ist das Problem?“
„Es ist … falsch! Es darf nicht so kommen!“
„Warum lässt du nicht einfach den Dingen ihren Lauf? Vielleicht ist unter den Mitstreitern einer, an dem Merrit sich selbst die Zähne ausbeißt. Vielleicht ist dieser yarlandor aus Ycelia viel stärker und geschickter als Merrit. Das bräuchte mich und meine Künste dann nicht.“
„Das ist mir nicht sicher genug. – Advon, du brauchst auch noch Eisenzeug. Das ist wichtiger als die Waffen. Der Helm da …“
„Du willst, dass ich Merrit vor den anderen Kämpfern beschäme, notfalls mit Magie. Das ist nicht nett von dir, Manjév.“
„Ich will nicht, dass er sich Hoffnungen macht.“
„Wenn du ihn nicht als hýardor haben willst, dann sag ihm das doch einfach. Es wird ihm das Herz brechen, aber dann ist die Qual für euch beide vorbei.“
Manjév blickte zu Boden und wich Advons blaugoldenem Blick aus.
„Ich kann es euch nicht sagen. Es … ihr würdet es nicht verstehen. Nicht jetzt. Lasst das vásposar erst einmal vorbei sein. Dann verrate ich euch, was mich antreibt.“
„Warum sollten wir bei etwas mitmachen, ohne zu wissen, wozu es gut ist? Wie sollten wir das mit unserem Gewissen in Einklang bringen?“
„Ich würde nie von euch etwas verlangen, das nicht den Mächten gefällig wäre. Ihr werdet das später verstehen. Aber du hast es mir versprochen, Advon.“
„Ja, weil ich dachte, es ginge um etwas Harmloses. Besser hätte ich mir die Zunge abgebissen!“
„Habt ihr beiden denn kein Vertrauen in mich? Denkt ihr, ich würde etwas den Mächten ungefälliges im Herzen führen? Kennt ihr beiden mich denn so schlecht? Ich hatte gedacht, wir sind Freunde.“
Der Regenbogenritter wechselte einen zweifelnden Blick mit der Schattensängerin. Dann probierte er den Kopfschutz an.
Manjév biss sich auf die Lippen. „Ihr werdet doch euren Eltern nichts davon erzählen, oder?“
„Ich bin eine camat'ayra“, sagte Dýamirée. „Ich kann nicht lügen.“
„Und ich kann dir nicht versprechen, dass ich es verheimlichen kann. Meine Mutter ist eine fájia, sie lässt sich nicht täuschen.“ Er reichte ihr den Helm. „Und wenn sie es herausbekommen, dann kann das für uns alle großen Ärger geben.“
„Wenn dein Vater und deine Mutter dir erlaubt haben, mich um die Teilnahme zu bitten“, sagte Manjév stirnrunzelnd, „wo ist dann euer Problem?“
„Ich habe darum gebeten, um auf dich und deine Leute aufzupassen. Weil Meister Yalomiro ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache hat und die Mächte uns rätselhafte Hinweise offenbart haben. Nicht, um in deinem Sinne dieses Turnier zu manipulieren, nur weil Merrit dir mit irgendetwas Verdruss bereitet hat.“
„Wir sind hier, um Magie abzuwehren, Manjév“, ergänzte Dýamirée sanft. „Nicht, um uns in die Dinge von Unkundigen einzumischen.“
„Aber es ist … Advon, Dýamirée – ich kann es euch nicht erklären. Ich weiß, wie das alles aus eurer Sicht klingen mag, aber es ist anders, als ihr denkt.“
„Warum verabscheust du Merrit Althopian, Manjév?“, fragte die Schattensängerin. „Was hat er dir getan?“
„Aber ich verabscheue ihn doch nicht!“, rief die teirandanja erschrocken aus. „Bei den Mächten … so dürft ihr nicht von mir denken! Es ist alles ganz anders, als es scheint.“
Advon Irísolor seufzte und drückte der teirandanja einen rostigen Streitflegel in die Hand. „Hier. Trag das. Und nun lass uns schnell von hier verschwinden. Wenn dir noch etwas einfällt, was ich haben oder wissen sollte, lass dir was einfallen und bring es raus auf die andere Seite der Mauer.“
„Wir bleiben in der Nähe. Doch für heute ist unsere Zeit um. Wir müssen Farbenspiel holen, bevor er draußen noch mehr in den Beeten nascht. Und du musst Truda schnell ihr Kleid zurückgeben. Niemand darf wissen, dass wir hier waren.“
„Auch Osse nicht, wenn er morgen oder übermorgen mit den anderen ankommt?“
„Nein. Lass es für alle anderen eine Überraschung werden.“
Die teirandanja senkte den Blick „Danke. Ich danke euch beiden für euer Vertrauen.“
„Das ist Vertrauen gegen Vertrauen, Manjév. Wir vertrauen darauf, dass du weißt, was du tust, und dass du es nicht zum Schaden eines anderen so willst.“
„Ich wünschte, ich könnte es euch anvertrauen. Aber … um ehrlich zu sein, ich weiß selbst nicht, was ich euch erzählen soll. Nicht … bevor es geschieht. Ich glaube, erst dann werde ich die richtigen Worte dafür haben.“
***
Niemand hatte sich erklären können, wie es zugegangen war, dass das Burgtor sich einfach so geschlossen hatte, mit einer Wucht, die nicht mit der Trägheit der dicken hölzernen Seitenteile zusammenpasste. Ebenso unerklärlich blieb, dass die Torflügel sich nicht verrücken ließen, fast als seien sie mit einem Riegel von außen gesichert. Doch Venghiár Emberbey blieb besonnen. Ein Teil der Knechte mühte sich, die Tür aufzuschieben, was jedoch nur fingerbreit um fingerbreit gelang. Derweil gebot der junge Mann dem Torwächter aus Rodekliv und drei weiteren, die er für geeignet hielt, aufzusatteln. Ein wenig töricht kam er sich dabei vor. Den báchorkor, den hatte er, ohne falsche Bescheidenheit, mit einem Meisterschuss erledigt. Selbst wenn der Kerl sich jenseits der Mauern noch einige Schritte aufrecht im Sattel halten konnte, würde er abstürzen, noch bevor er sich einen Steinwurf von der Burg entfernte. Wahrscheinlich lag er gleich draußen vor der Tür.
Aber die kleine Kröte, das Kind, das durfte nicht entwischen. Mit etwas Glück wäre es ebenfalls bereits vom Pferd gestürzt und hätte sich an einem Stein den Kopf aufgeschlagen. Aber sollte es weich gefallen oder, die Mächte mochten es verhüten, im Sattel geblieben und ohne den báchorkor weitergeritten sein – dann mussten sie es schnellstens einholen.
Venghiár schalt sich für seine nicht ganz unbegründete Sorge. Raýneta Emberbey konnte reiten, nicht gut, eben so, wie man es einem Mädchen zutraute. Doch der Gaul des alten Herrn Alsgör, der war – abgesehen von seiner Kraft und Größe – vom Gemüt her nicht viel anders als eben ein Pferdchen, auf dem Kinder das Reiten erlernten. Yarl Althopian hatte dem betagten Freund das sanftmütigste Ross aus seinen Ställen überlassen, damit der Alte noch so lange wie möglich zu reisen vermochte. Womöglich erinnerte der Graue sich an den Weg zurück zu der Weide, auf der er aufgewachsen war! Oft genug gelaufen war er diese Strecke.
Es fehlte gerade noch, dass das Mädchen es irgendwie fertigbrachte, den Weg ins nächste Dorf zu finden und Leute dazu zu bringen, Fragen zu stellen. Es wäre nicht einfach, all die Vorkommnisse in der Burg, die viel zu viele Leute bezeugen konnten, zu einer sinnvollen entgegengesetzten Geschichte zusammenzufügen.
Als Venghiár endlich mit seinen Gehilfen im Sattel war und aus dem Stall in den Hof trabte, war es den anderen Männern und Frauen gerade gelungen, den einen Torflügel so weit zu öffnen, dass ein Reiter hindurchpasste. Die Leute hechelten und waren schweißüberströmt, so als hätten sie lange Zeit in praller Sonnenhitze geschuftet. Der junge Ritter kümmerte sich nicht darum. Er ließ sich eine Fackel reichen und trieb sein Pferd durch den schmalen Torspalt hinaus.
Zu seiner Enttäuschung lag kein todwunder báchorkor draußen im Staub. Aber die Hufspuren, die von der Burg wegführten, waren nicht zu übersehen. Nach Süden führten sie, weg vom Meer. In die Richtung, in der Pataghíus Glanz sich bereits als feiner Schimmer am Horizont andeutete.
Ein Reiter nach dem anderen verließ die Burg und jagte über den Sandweg in die Richtung, in der das Kampfross des alten yarl gelaufen sein musste.
„Schwärmt aus!“, rief der junge Mann. „Nebeneinander! Leuchtet auf den Boden! Vielleicht ist das arme Mägdelein vom Pferd gestürzt und liegt bewusstlos im hohen Gras!“
Sie jagten über den Weg durch die dunkle Wiese, noch unter dem Schein von Noktámas Juwel und sterngeschmücktem Schleier. Doch es war keine Spur zu finden, weder von dem Pferd noch dem báchorkor, noch dem kleinen Mädchen. Dafür fiel Venghiár nach und nach deutlich hinter seine Begleiter zurück. Immer weiter setzten sich die vier Waffenknechte vor ihn, bis er schließlich die Kruppen und wehenden Schweife ihrer Pferde vor sich sah. Im ersten Moment dachte er, sein Ross würde trödeln, und er begann, wütend auf das Tier einzuprügeln. Doch das half nichts, und er musste einsehen, dass das Pferd gab, was es konnte. Es rannte in gestrecktem Galopp und plötzlich auch nicht mehr allein. Der Rappe des Schwarzgewandeten zog an seine Seite, und dann war es, als bewegten beide Tiere sich in rasendem Lauf auf der Stelle. Nicht einmal Gegenwind wehte ihm ins Gesicht, sodass die Stimme des unheimlichen Mannes so klar zu ihm drang, als säße er ihm in der Stube am Tisch gegenüber.
„Was soll ich davon halten?“, fragte der Fremde freundlich. „Wolltet Ihr mich aussperren aus Eurer gastfreundlichen Burg?“
„Ich habe jetzt keine Zeit für Euch!“, rief Venghiár ärgerlich. „Ich muss den Mörder meines Großonkels zur Strecke bringen! Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr davon abließet, mein Pferd zu verdrehen! Dafür habe ich keine Zeit!“
„Den báchorkor? Spart Euch die Mühe. Das habe ich bereits für Euch getan.“
„Was?“
„Ich habe Euren Pfeil an die richtige Stelle versetzt.“
„Ist der Kerl sicher tot?“
„Nun, es sind Lunge und Herz gründlich durchbohrt.“ Er präsentierte einen Pfeil, den Venghiár zweifelsfrei als den seinen erkannte, obwohl Blut Spitze und Befiederung verschmutzte.
„Und wo ist er?“
„Eure Leute sollten ihn gleich unter den Hufen haben.“
„Und das Kind?“
„Was kümmert Euch das Kind?“
„Ist das nicht offensichtlich genug?“
„Es muss frustrierend sein“, amüsierte sich der Schwarzgewandete, „wenn gleich vier Morde in nur einem halben Tag Frist missglücken, denke ich mir.“
Das war zu viel für Venghiár Emberbey. Ohne nachzudenken, zerrte er so fest an den Zügeln, dass er befürchten musste, das Pferd werde sich beim Versuch, aus seinem Lauf zu bremsen, zuschanden stürzen. Das wäre es ihm wert gewesen, würde vielleicht den unheimlichen Begleiter von ihm wegtragen. Stattdessen kamen beide Pferde zum Stillstand, ganz sacht, so als verlangsame sich die Zeit, bis sie verharrte.
„Bei den Mächten“, wisperte Venghiár verstört. „Wer seid Ihr? Und wer schickt Euch?“
„Ich habe schon einmal gesagt, dass mein Name nicht von Interesse ist. Und ich gehe, wohin ich möchte, ohne dass mir jemand Weisung geben müsste.“
„Dann sagt mir, was Ihr von mir wollt.“
„Seid Ihr zufrieden damit, dass Euer Großonkel hinter den Träumen ist?“
„Das unterstellt Ihr mir!“
„Ich bitte Euch, Herr Venghiár. Keine falsche Scham. Vor mir müsst ihr Euch nicht verstellen.“
Hatte es Sinn, es zu leugnen?
„Es bringt mich einen Schritt näher an das, was ich anstrebe, auch wenn es in dieser Aufeinanderfolge nicht geplant war. Aber nun muss ich mich wirklich um das Mädchen kümmern! Das Kind darf nicht entkommen und vor anderen Leuten daher plappern!“
„Das sagt Ihr nicht so, wie man es von einem liebenden Verwandten erwarten würde.“
„Bei den Mächten! So lasst es gut sein! Ja, ja, ich werde nicht ruhen, ehe nicht der letzte des Blutes von Alsgör Emberbey hinter den Träumen ist und mir gehört, was mir zustehen sollte!“
„Erzählt mir mehr davon.“
„Mehr davon! Seid Ihr so schwer von Begriff? Mir läuft die Zeit davon, und das widerliche Balg noch dazu!“
Der Schwarzgewandete war sichtlich belustigt. Venghiár fügte sich dem interessierten, geduldigen Lächeln, das er in der Dunkelheit erahnte.
„Was wisst Ihr über die Vergangenheit des Hauses Emberbey?“, fragte er resigniert.
„Alles. Ich weiß von dem unglücklichen Zerwürfnis, dass Herrn Alsgör und seine Schwester, die ehrenwerte yarlara Merýa Emberbey auseinander riss. Ein verantwortungsloser hýardor, wie man hörte. Aber was hat das mit Euch zu tun, so viele Winter später?“
Venghiár versuchte, sein Erstaunen darüber zu verbergen, dass der Fremde soeben den Namen seiner Großmutter ausgesprochen hatte. Alsgör Emberbey hatte das in seiner Gegenwart nie getan.
„Würdet Ihr nicht versuchen, Euch Euer Erbe zu sichern, wenn sich Euch diese Chance böte? Nicht die Gelegenheit ergreifen, zurückzuholen, was Euch zusteht?“
„Ich kann mir denken, wie sehr Euch das freut, Herr Venghiár. Ich sehe jedoch nicht recht die Notwendigkeit, unschuldige kleine Kindlein zu hetzen, wo es doch Euer Weitvetter ist, der Euch am nächsten im Weg steht.“
„Dass mein Weitvetter mir entwischt ist, das habt Ihr doch wohl mitbekommen. Ihr wart es doch, der mich in solcher Eile hierher versetzte!“
„Und doch denkt Ihr nicht geradeaus und handelt in kopfloser Panik, wenn ihr nun dem Kind ans Leben wollt. Zumal das kleine Mädchen Euch so viel nützlicher als Unterpfand wäre, um den Bruder gefügig zu machen, nachdem Herr Alsgör wohl nicht durch Eure Hand hinter die Träume gelangte.“
„Das ist nicht …“, begann Venghiár verdattert, unterbrach sich und fragte dann tonlos: „Woher wisst Ihr das nun wieder?“
„Der báchorkor hat zugegeben, dass er Euch zuvorkam.“
„Tatsächlich?“ Venghiár runzelte verwirrt die Stirn und zugleich fiel ihm ein Stein vom Herzen. „Gelobt seien die Mächte. Dann werden wir das Diebesgut wohl bergen, sobald wir seinen Kadaver finden. Wo ist er? Wo habt Ihr Ihn gelassen?“
Nun stutzte der Schwarzgewandete. „Welches Diebesgut?“
„Die … Nun, es scheint, als habe der Kerl etwas sehr Wertvolles mitgehen lassen.“
„Ah. Wie … ungewöhnlich. Darf ich fragen, worum es sich handelt?“
„Um ein Schmuckstück. Viel zu kostbar, als dass er etwas damit hätte anfangen können.“
„Nun, vielleicht handelte es sich gar nicht zuvorderst darum, Euren Großonkel zu meucheln. Möglicherweise war es ein Auftragsdiebstahl.“
„Wohl kaum. Niemand hätte einen Nutzen, den ich mir erklären könnte.“
„Und was verspricht sich Ebbmo Ferocrivé davon?“
„Ferocrivé? Wieso denn nun Ebbmo Ferocrivé?“
„Wer sonst? Wer hätte ein Interesse daran, Euch ohne jegliche Nebenbuhler als Herrn von Emberbey und darüber hinaus zu sehen?“
Venghiár schwieg verdattert.
„Na,“ sagte er dann, „der yarl von Rodekliv natürlich. Mein Herr, Álgjy Rodekliv“
„Erzählt mir mehr.“
„Was gibt es da zu erklären, was einem hochgescheiten Herrn wie Euch nicht offensichtlich sein dürfte?“
„Nun“, sagte der Schwarzgewandete, „lasst es mich anders fragen. Weiß Herr Ebbmo, dass Ihr hier seid und Euren entfernten Verwandten nach dem Leben trachtet?“
„Ich gehe davon aus. Yarl Ferocrivé war im Raum, als Herr Álgjy mich auf diese Mission schickte.“
Der unheimliche Mann musterte den jungen Ritter nachdenklich. Venghiár hatte das unangenehme Gefühl, dass er trotz der Dunkelheit mehr und andere Dinge erkannte, als ihm lieb sein konnte.
„Sagt, Herr Venghiár“, redete er schließlich weiter, „es macht mich neugierig und fast ein wenig besorgt. Wie hat der báchorkor Euren ehrenwerten Großonkel ermordet?“
„Wie meint Ihr das?“
„Ganz wörtlich. Ist Blut geflossen? Wurde der alte Mann erstickt, erwürgt oder erschlagen? Womöglich vergiftet?“
„Nun ja“, gab Venghiár zu. „Eigentlich sah der Alte sehr friedlich aus. Gänzlich unverletzt. So, als ob es auf natürlichem Wege geschehen war. Nur dass die Amtskette verschwunden ist. Ich musste … nachhelfen, um es wie einen Raubmord aussehen zu lassen. Wegen der Erbfolge, um Zeit zu gewinnen. Ihr versteht?“
„Auf natürliche Weise?“
„Ja. Das Alter, wahrscheinlich. Der Mann war annähernd achtundachtzig Sommer alt!“
Der Schwarzgewandete blickte auf. Er schien nachzudenken. Dann glomm es dort, silbrig auf, wo im Schatten seines Hutes die Augen liegen mochten. Er schloss ruckartig seine Faust und der Pfeil darin zerbrach mit einem scharfen Knacken wie ein mürbes Stöckchen. Venghiár wich eingeschüchtert zurück.
„Rotgewandet!“, zischte der Schwarzmantel, in einem Ton, der nicht zu seiner warmen Samtstimme passte.
„Wie bitte?“
„Es scheint, der báchorkor hat ein besseres Märchen erzählt, als ich annahm.“
Dann entließ er die Pferde aus seinem Bann, und sie beide preschten den Waffenknechten nach.