In der Herberge am Rande der Reiseroute, die vom teirandon Valvivant aus den Fluss Rífluír entlang in Richtung Virhavét führte, ging es geschäftig zu. Der Fluss bildete die Westgrenze des Landes, wo yarl Andriér Altabete über seine Bauern und Handwerker wachte. Der Gasthof war ein noch recht neu errichtetes Gebäude, nahe der Steinbrücke über den Rífluír, und genoss einen ausgezeichneten Ruf als einer der sichersten Wegpunkte für all jene, die auf der Hauptstraße zwischen Virhavét und dem Montazíel unterwegs waren.
Zwei Reisescharen und ein gutes Dutzend einzelner Reisender waren eingekehrt, um die Nacht in einem der Schlafsäle oder – gegen entsprechenden Aufpreis – in einer privaten Kammer zu verbringen. Diejenigen, auf die der junge Mann aus dem Norden wartete, waren allerdings noch nicht eingetroffen.
Venghiár Emberbey war unruhig. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete und Neuankömmlinge den geräumigen Speisesaal betraten, war er nahe daran, aufzuspringen. Aber dann war es doch immer nur jemand Fremdes oder einer von den Bediensteten des Gasthauses, der etwas von draußen in Richtung der Küche brachte. Das Warten war zermürbend. Venghiár Emberbey war nie geduldig gewesen. Mit jedem Herzschlag, den er hier ausharrte, verschwendete er Zeit, die ihm an anderer Stelle fehlen würde.
Der junge Mann seufzte unwillig, aber er ließ die Tür nicht aus dem Blick. In der Gaststube, unter all den Durchreisenden, fiel er nicht weiter auf. Wer nicht wusste, wen er vor sich hatte, musste ihn für einen Edelknecht oder vielleicht einen berittenen Sendboten halten. Er trug schlichte, neutrale Gewänder und war mit einem groben Wollmantel angetan. Niemand musste ihn hier als einen Vertreter des hochedlen Hauses Emberbey erkennen. Er zog ohnehin schon zu viele neugierige Blicke auf sich, zumeist die interessierten der anwesenden jungen Herbergsmägde und reisenden Damen. Ungeachtet seiner diskreten Kleidung fiel der dunkelblonde Herr mit seinen gefälligen Zügen und seiner gestählten Statur ins Auge. Dass er ganz selbstverständlich ein Schwert bei sich hatte, ließ allenfalls darauf schließen, dass er sich auf seinem Weg wohl selbst gegen Raubgesindel verteidigen konnte.
Venghiár hatte den weiten Weg von der Burg seines Großonkels, vier scharfe Tagesritte nordöstlich von hier am Meer, nur unter einem sehr fadenscheinigen Vorwand aufgenommen, bei seinem arglosen Großonkel eine ganz andere Geschichte aufgetischt als die, die wirklich in seinem Sinn war. Mochten die Mächte dafür sorgen, dass ihn nicht ausgerechnet jetzt jemand dort suchte, wo er sich angeblich aufhielt.
Viel Zeit hatte er nicht. Er würde hier beaufsichtigen, was zu tun war, und noch bevor das Blut trocknen würde, stand ihm ein eiliger Ritt bevor, um Raum zwischen sich und etwaigen Verdacht zu bringen. Er hätte sich aus der Sache heraushalten und einfach den Auftrag geben können, aber der junge Ritter traute seinen geheimen Gehilfen nicht. Sie waren zu vielerlei groben Dingen gut zu gebrauchen, aber diese Sache war zu heikel, als dass er sie allein wirken lassen konnte. Bis ins Detail geplant war das Vorhaben, und bald wäre es so weit, es durchzuführen. Vielleicht schon, wenn die Tür sich das nächste Mal öffnete.
Schlau hatte er es angestellt, so viel stand fest. Mit fünf Handpferden waren er und seine Begleiter ausgeritten. Die Tiere hatte er eines nach dem anderen an Kleingehöften entlang der Abkürzung querfeldein zwischen den yarlmálon Altabete, Althopian und Emberbey zurückgelassen, gegen ein großzügiges Entgelt, das ihm die Achtsamkeit und das Schweigen der Bauern sicherte. Für eine Goldmünze konnten die Leute wohl einige Tage ein Pferd gut versorgen und sich im Nachhinein nicht daran erinnern, wer ein solches in ihre Obhut gegeben hatte. Für seine Rückreise musste er dann nur die Pferde tauschen und konnte so ohne Pause die Distanz überbrücken. Gut, es würde ihn mehrere Tage Schlaf kosten, aber Schlaf wurde ohnehin überbewertet angesichts dessen, was auf dem Spiel stand. Venghiár Emberbey war ein starker Mann, der Entbehrungen gut wegstecken konnte. Das hatte man ihn in Rodekliv gelehrt.
Die Pferde würden später seine Gehilfen einsammeln, wenn sie ihm in normaler Geschwindigkeit nachfolgten und das nach Emberbey transportierten, was es auf so tragische Weise nicht mehr aufrecht im Sattel selbst fertig brachte.
Venghiár streckte die Beine unter dem Tisch aus und brach von dem Brotlaib ab, den eines der emsig hin und her huschenden Schankmädchen herangebracht hatte. Es war sehr gutes, knuspriges Brot, noch warm vom Backofen. Aus der großen Küche, in der mindestens zwei Dutzend Personen geschäftig waren, drangen köstliche Düfte in den Speisesaal. Im Hintergrund zupfte ein reisender Musiker seine Laute, gegen eine Schale Eintopf. Das Wirtspaar hatte seinen Betrieb gut im Griff, und wohl einen lückenlosen Überblick darüber, wie viele Übernachtungsgäste an welchen Tagen hier aufkreuzten und was an Mahlzeiten benötigt werden würde.
Venghiár wusste den Luxus derartiger Wirtshäuser zu schätzen. Hinter dem yarlmálon des Großonkels, wenn man nach Osten in Richtung Ferocrivé reiste, gab es so etwas klug durchdachtes nicht mehr. Aber diese Rückständigkeit, dessen war er sicher, würde sich einst beheben lassen. Vielleicht schneller, als die Herren sich träumen ließen, für die er all diese Plagerei auf sich nahm.
Die beiden Idioten, die er vor einiger Zeit bei einem Aufenthalt in Rodekliv in einer heruntergekommenen Schenke aufgelesen hatte, hatten nicht die allerbesten Tischmanieren. Sie waren jedoch nicht so unzivilisiert, dass es unangenehm aufgefallen wäre. Venghiár vermutete, dass die beiden sich irgendwann früher einmal zumindest zeitweise in besseren Kreisen bewegt haben mussten. Das musste gewesen sein, bevor sie aus irgendeinem Grund Hals über Kopf aus Aurópéa hatten fliehen müssen. Manchmal, wenn sie betrunken waren, redeten sie wirres Zeug von einem greisen Leuteschinder, der ihnen noch eine Menge Opale schuldete, und von einer verheerenden Überschwemmung und einem Sandsturm.
„Lassen sich ganz schön Zeit, was?“, sagte der geringfügig intelligentere der beiden zwischen zwei tiefen Zügen aus seinem Bierkrug. Cró war sein Name.
„Noch bin ich nicht beunruhigt“, sagte der junge Mann und stippte sein Brot sittsam in ein Schälchen mit einer Soße aus jungem Käse und Kräutern.
„Wäre jammerschade, wenn ihnen jetzt schon etwas zugestoßen wäre, was?“, sagte der andere etwas zu laut. Sein Name war Ungro, und was Aussehen und Statur betraf, hätten er und Cró Brüder sein können. Das waren sie zwar nicht, aber offenbar verband die beiden seit vielen Sommern eine innige Zweckverbundenheit. Trotz gewisser Defizite in ihrem Verstand waren die beiden ein eingespieltes Gespann mit überschaubarem Ehrgefühl. Das war etwas, das man in diesen Tagen und in der Welt der hochedlen und achtbaren, weltfremden yarlay des teirandon von Wijdlant und Spagor gar nicht genug schätzen konnte.
„Haltet euch zurück“, mahnte Venghiár Emberbey. „Und denkt dran: Wir sind uns hier rein zufällig begegnet. Ihr habt keine Ahnung, wer ich bin.“
„Klar, Herr Venghiár.“
Der junge Ritter ächzte, ließ es aber für den Moment gut sein. Solange er nicht in Eisenzeug und mit dem Wappen des Großonkels auftrat, würde wohl niemand mit seinem zufällig aufgeschnappten Namen etwas anfangen können. Richtig wohl fühlte der junge Mann sich allerdings nicht.
Erneut öffnete sich die Tür. Venghiár schaute erwartungsvoll auf, aber wieder war es nur ein einzelner Ankömmling. Ein großer, schlanker Mann mit einem Hut und einem weiten schwarzen Mantel. Er wirkte unter all den Menschen im Speisesaal wie ein Rabe in einer Schar bunter Hühner. Irgendwie ... unwirklich.
Venghiár musterte den Mann etwas länger, als es angemessen gewesen wäre. Warum kam der Kerl nicht einfach hinein? Stattdessen stand er einen Moment einfach starr im Türrahmen und blickte sich unter den essenden, schwatzenden und zechenden Herbergsgästen um, als hielte er Ausschau nach jemandem. Die Leute in seiner Nähe, die ihn bemerkten, warfen ihm nur flüchtige Blicke zu und ließen sich durch seine Anwesenheit nicht stören. Dann wurde der junge Ritter jäh abgelenkt.
„He!“, rief Ungro und versuchte, eines der vorbeieilenden Mädchen an der Schürze festzuhalten. „Mehr Käse!“
„Bitte“, setzte Venghiár hinzu. „Und sag, wir warten hier auf den Reisezug nach Norden. Dies ist doch der richtige Tag?“
„Die kommen wohl noch“, sagte das Mädchen und entzog sich gekonnt Ungros grober Pranke. Wahrscheinlich hatte sie es täglich mit Gästen zu tun, die ihre Hände nicht bei sich halten konnten. Für Venghiár hatte sie immerhin ein Lächeln übrig. Gute Manieren, das hatte der junge Mann als eines der ersten Dinge gelernt, als er in Emberbey so freundlich aufgenommen worden war, öffneten Tür und Tor, insbesondere bei edlen Damen. Und bei einfachen, naiven fánjulaé erst recht. „Was darf es für dich noch zu trinken sein?“
„Einen herben Met hätte ich gerne“, bemühte er sich um geschliffene Worte. „Ich hörte, der Honig von den südlichen Grenzwiesen Wijdlants sei ein Gedicht.“
Sie stutzte, schenkte ihm dann ein Lächeln, das möglicherweise mehr versprach als süßen Met und verschwand dann mit schwingenden Hüften in Richtung Keller.
Cró stieß bewundernd einen leisen Pfiff aus. „Du verstehst es aber mit den Weibern, Herr!“
„Wie machst du das?“, fragte Ungro.
„Ich wasche mich regelmäßig“, versetzte Venghiár ungnädig. Für einen Herzschlag war er versucht, der Einladung des Mädchens für einen kurzen Moment des Vergnügens zu folgen, rief sich dann aber selbst zur Ordnung. Im falschen Augenblick den Speisesaal zu verlassen, wäre ärgerlich. Cró und Ungro grinsten unverschämt. Der junge Ritter wandte sich brüsk ab und ließ seinen Blick wieder über die anderen schwatzenden und speisenden Gäste an den Tischen schweifen.
Wo war der unheimliche Mann mit dem Hut geblieben? Hatte er den Saal etwa wieder verlassen?
In diesem Moment wurde die Tür nicht geöffnet, sondern heftig aufgestoßen. Eine Schar von Neuankömmlingen quoll herein. Eine Dame und ein junges Mädchen waren dabei. Die Wirtin der Herberge und ihr hýardor eilten der Gruppe entgegen und wechselten ein paar Worte mit dem, der wohl der Reiseführer war.
„Na endlich“, brachte Ungro schmatzend an einem Bissen Brot vorbei hervor. „Da sind sie wohl.“
Venghiár zog sich seine Kapuze über, spähte unter dem Saum hervor und wunderte sich über die erschrockene Mimik auf dem Gesicht des Wirtes. Der schien entsetzt über das, was der Reiseführer ihm zu erzählen hatte.
„Wer von denen ist es denn, Herr Venghiár?“, fragte Cró und gaffte neugierig zu den Leuten hinüber, die nun mit offensichtlicher Besorgnis vom Personal der Herberge in Empfang genommen wurden. Jemand brachte einen Willkommenstrunk aus kleinen Tonbecherchen auf einem Tablett herbei. Einer der Männer, ein Kerl mittleren Alters in denkbar unauffälliger Kleidung, stürzte den seinen herunter und schaute sich dann suchend um. Venghiár lüftete vorsichtig seine Kapuze und hob halb seine Hand.
„Ein Überfall?“, entfuhr es da der Wirtin, sehr zum offensichtlichen Entsetzen des Reisescharführers, der um Diskretion bemüht gewesen war.
„… ganz schlimm!“, versicherte das junge Mädchen, das wohl das dringende Bedürfnis hatte, von dem Schrecklichen zu berichten, das ihnen widerfahren war. „Drei böse Räuber! Sie hatten Säcke als Masken auf!“
„Bei den Mächten! Hat man euch ausgeraubt?“
Nun war die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Reisegruppe gerichtet. Sogar der Musiker hörte mit seinem Geklimper auf.
„Nein! Die haben den jungen yarl Emberbey entführt!“
„Einen yarl?“ Der Wirt schien verblüfft. Einen hochedlen Gast hatte er nicht erwartet.
„Wir dachten, er sei lediglich ein Student aus Iváal. Aber jetzt wollen sie Lösegeld für ihn erpressen!“
„Mehr wisst Ihr nicht?“
„Sie waren bewaffnet und maskiert!“
„Und sie wollten nichts von meinen Waren“, fügte ein vendyr hinzu. Es klang fast beleidigt.
„Wo war das Ganze?“
„Einen halben Tag südlich.“
„Wir müssen unserem yarl Bescheid sagen! Du da!“ Der Wirt winkte einen der jungen Küchenknechte heran, einen agilen, schlanken Jüngling, der aussah, als würde er öfter als Eilbote ausrücken. „Du! Nimm dir ein Pferd und verliere keine Zeit! Unser yarl muss seine Landwächter ausschicken! Vielleicht holen sie die Kerle noch ein!“
Stimmengewirr erhob sich. Hektisch diskutierten die Hinzugekommenen und das umstehende Herbergsgesinde darüber, was nun zu tun sei. Es mischten sich einige tatkräftige Gäste ein, und für einen Moment herrschte im Speisesaal eine merkwürdige Mischung aus Empörung, Sensationsgier und Besorgnis. Seit vielen Sommern war es auf dem Land der Familien Altabete und Grootplen nicht mehr geschehen, dass so dreist eine Reiseschar überfallen wurde! Und dann auch noch eine vorsätzliche Entführung – was waren das nur für Zeiten, in denen man nun lebte? Wo sollte das hinführen?
Venghiár nahm seine Kapuze wieder ab, schloss die Augen und verfluchte sein Los. Warum mussten die Mächte ihm nur so sehr in seinen Plan hineinpfuschen?
Der Mann mit den unauffälligen Gewändern setzte sich ungefragt zu ihnen an den Tisch, unbeeindruckt von der aufgescheuchten Hektik im Raum.
„He!“, protestierte Cró. „Hier ist besetzt!“
„Lass ihn. Der gehört zu uns. Was hat das zu bedeuten, Výnrath?“
„Wir hatten verfluchtes Pech, Herr“, sagte der Spion, den Venghiár schon im vergangenen Winter für diesen einen, nun gescheiterten Auftrag angeworben hatte.
„Aber was soll das heißen?“ Venghiár schaute sich misstrauisch um und flüsterte: „Wer kommt denn auf die Idee, beiläufig einen im Geheimen reisenden … Studenten zu entführen? Ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet ihn?“
„Heißt das, der, der da entführt wurde ist der, den Ihr aus dem Weg haben wolltet?“, fragte Ungro verdutzt. Zum Glück nicht so laut, dass es in dem Gewirr jemand mitbekommen hätte. „Sind wir etwa ganz umsonst den ganzen weiten Weg …“
„Das war keine zufällige Entführung“, fiel Výnrath ihm ins Wort und nahm den für Venghiár bestimmten Metbecher an sich, den das Schankmädchen gerade herbeibrachte. Abgelenkt von der plötzlichen Unruhe bemerkte die fánjula gar nicht, dass sie den falschen Gast bediente, klemmte das Tablett unter den Arm und mischte sich neugierig in den Tumult hinein.
„Was soll das heißen?“
„Die Strolche wussten ganz genau, wen sie vor sich hatten. Und das, obwohl der yarlandor offensichtlich die ganze Reiseschar mit seiner Maskerade zum Narren gehalten hat, seit er in Ivaál aufgebrochen war. Diese Idioten von Scharbegleitern waren mehr aufgebracht darüber, als darüber, dass man ihnen einen hochedlen Kunden weggeschnappt hat.“
„Und warum hast du das nicht verhindert? Es war deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Kerl pünktlich hier eintrifft! Ich hatte dich dafür bezahlt, dass du dafür sorgst, dass mein Weitvetter sich auf dem Weg hierher nicht … verirrt.“
„Es ist nicht meine Schuld, dass Euer Weitvetter ohne Geleitschutz durch das halbe Weltenspiel reist. Ich habe ihn von Hethrom bis kurz vor diesem yarlmálon nicht aus den Augen gelassen.“
„Das nützt uns nur überhaupt nichts!“
Výnrath verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Es war nicht mein Auftrag, Euren lieben Verwandten allein gegen drei Bewaffnete zu verteidigen.“
„Drei? Drei nur? Wie viele wart ihr? Da waren doch mindestens zehn gestandene Männer bei der Schar!“
Výnrath schwenkte seinen Becher in Richtung der anderen Reisenden, die wie eine aufgescheuchte Hühnerschar immer noch mitten im Saal standen und von Gästen und Gesinde mit Fragen bedrängt wurden. „Zehn gestandene Memmen. Einer davor noch nicht mal in der Lage, sich auf seinem Gaul zu halten. Und die drei Räuber sahen mitnichten aus, als hätten sie ihre Waffen zur Zierde dabei. An mir lag es nicht.“
„Nun gut.“ Das Argument war einsichtig. „Aber wer hat euch meinen … geschätzten Weitvetter denn nun vor der Nase weggeschnappt? Niemand konnte wissen, dass er unerkannt genau mit dieser Schar reiste!“
„Niemand, Herr?“
„Nein, niemand. Der alte Ma- ... mein Großonkel hatte sogar darauf bestanden, dass er zu Schiff auf dem Rífluír reisen sollte. Nur zur Sichereit. Mögen die Mächte wissen, warum er sich am Ende anders entschieden und den Alten umgestimmt hatte! Selbst ich hätte nichts davon gewusst, hätte Osse nicht der kleinen Kröte …“
„Wie dem auch sei – diese Sache war offensichtlich von langer Hand geplant. Sicher haben noch andere außer Euch Interesse daran, den künftigen mynstir der teirandanja daran zu hindern, sein Amt anzunehmen.“
„Stimmt“, sagte Cró und nickte eifrig. „Die Herren wollen-“
Ungro reagierte bemerkenswert schnell, indem er seinem Partner vors Schienbein trat und verschwörerisch die Finger an die Lippen legte. Cró begriff. „Stimmt. Darf ja niemand wissen.“
Der Mann aus Hethrom grinste. Es war offensichtlich, dass er sich über seinen Auftraggeber und dessen tumbe Gehilfen amüsierte. Er tat sich genüsslich an seinem Met gütlich.
Venghiár Emberbey bemühte sich um Beherrschung. All die Planung, all der Aufwand, den er auf sich genommen hatte, all die Überzeugungsarbeit, die er den Herren in Ferocrivé und Rodekliv gegenüber geleistet hatte – umsonst und müßig. Und was noch viel schwerer wog – der alte Emberbey weilte während all der Zeit unbeaufsichtigt auf seiner Burg.
Was sollte und konnte er nun noch tun? Der Ritter griff nach dem Bierkrug, den Cró erst zur Hälfte geleert hatte und trank, um nicht ungeduldig loszubrüllen. Wenn wirklich jemand anderer von sich aus auf die verwegene Idee gekommen war, Osse Emberbey zu entführen und Lösegeld zu erpressen, dann würde es nicht lange dauern, bis die teiranday oder der alte Emberbey auf seiner Burg am Meer davon erfuhr. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
„Wäre es möglich“, fragte Výnrath, „dass Euer Weitvetter seine eigene Geiselnahme inszeniert hat? Allzu überrascht wirkte er jedenfalls nicht angesichts der Räuberbande.“
„Unsinn. Mein Weitvetter neigt nicht zu solchen … Narreteien. Was sollte das Ganze bewirken?“
„Wusste wirklich niemand außer Euch von seiner Reiseplanung?“
„In Wijdlant wird man natürlich unterrichtet gewesen sein. Aber Wijdlant schickt keine maskierten Entführer voraus. Was sollte das bringen?“
„Vielleicht“, meinte Výnrath nachdenklich, „sicheres Geleit?“
Venghiár runzelte die Stirn und dachte nach. Der Spion aus Hethrom mochte erfolglos gewesen sein, aber er hatte mehr Verstand als Cró und Ungro zusammen. Wenn er sich auch in diesere Sache irrte.
„Die teiranday hätten ihm ohne Aufhebens eine offizielle Eskorte mit allem Drum und Dran entgegenschicken können“, sagte er. „Und selbst das nur, wenn jemand von … meinen Interessen Wind bekommen hätte.“
„Und das ist ausgeschlossen?“
„Selbstverständlich.“ Venghiár neigte sich flüsternd zu ihm über den Tisch. „Ich habe bis vorgestern nicht mal den beiden Schwachköpfen hier gesagt, weshalb wir eigentlich unterwegs sind!“
Výnrath zuckte die Achseln. Die Aufregung um die Reiseschar legte sich nach und nach. Man führte die Dame, das Kind und die Männer an die für sie reservierten Tische, um sie zu bewirten. Nach und nach normalisierte sich der Geräuschpegel wieder.
Venghiár Emberbey dachte nach. Irgendetwas musste nun geschehen, nachdem der ursprüngliche Plan fehlgeschlagen war. Hatte es Sinn, nach Wijdlant zu reiten und abzuwarten, bis die Lösegeldforderung dort eintraf und die Entführer sich zu erkennen gaben? Nein, das wäre unsinnig. Wie sollte er seine Anwesenheit dort so frühzeitig vor dem vasposár glaubhaft erklären?
Wären Cró, Ungro und Výnrath schlau genug, dass er ihnen diesen Auftrag anvertrauen und selbst wie geplant zurück nach Emberbey reiten konnte, bevor dort irgendetwas geschah? Einer an Herrn Alsgör gerichteten Lösegeldforderung würde er auf diesem Weg auf jeden Fall zuvorkommen. Aber was, wenn die teiranday seinen idiotischen Weitvetter derweil selbst auslösten? Einen schönen Einstand gab Osse Emberbey da, indem er sie gleich viel Geld kostete!
Es gab keine Mitwisser, die hätten ahnen können, dass Osse Emberbey seine Übernachtung in der Herberge unweit des neuen Flusshafens nicht überlebt hätte. Wie Venghiár Emberbey es auch drehte und wendete, so, wie sie stattgefunden hatte, ergab die Entführung schlichtweg keinen Sinn.
Alles, was ihm im Augenblick als Möglichkeit blieb, war schleunigst nach Emberbey zurückzukehren und zu hoffen, dass dort niemandem seine mehrtägige Abwesenheit allzu seltsam vorgekommen war.
„Ich breche auf“, sagte er und erhob sich abrupt. „Wir machen es wie besprochen. Ihr zwei, ihr bleibt über Nacht hier und sammelt dann hinter mir die Pferde ein. Und du ..“
Výnrath streckte ihm wortlos die offene Hand entgegen. Venghiár runzelte verwirrt die Stirn.
„Ihr entlohnt mich augenblicklich dafür, dass ich hergekommen bin.“
„Schon. Aber nicht alleine. Du solltest dafür sorgen, dass mein Weitvetter hier ankommt und nicht zwischendurch seltsame Umwege nimmt!“
„Es war nie die Rede von unvorhersehbaren Ereignissen.“
Das stimmte. Venghiár wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Osse Emberbey jemals etwas Unvorhergesehenes hätte zustoßen können. Immer, wenn er seinem Weitvetter begegnet war, hatte er dessen Sinn für Präzision, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit beinahe abstoßend empfunden. Er holte den Geldbeutel hervor, den er für die Dienste des Handlangers schon vorbereitet hatte, nahm vor dessen Blick aber vier Goldmünzen heraus. Ungro und Cró machten große Augen. So viel Geld hatten sie von ihm – wohlweislich – bislang nicht bekommen.
„Die“, sagte Venghiár, „bekommst du, wenn du herausfindest, wo mein Weitvetter jetzt ist. Wer ihn vor deiner Nase weg entführt hat. Oder wenn du mir einen Beweis dafür bringst, dass die Lösegeldzahlung sich … erübrigt hat.“
Výnrath gab ein halb abfälliges, halb zustimmendes Schnauben von sich. Dann nahm er den halb leeren Beutel an sich.
„Herr“, sagte Cró vorsichtig, „was unser Geld angeht …“
„Das bekommt ihr erst, wenn alle Pferde wieder im Stall sind. Und wehe, ihr verliert auch nur ein Hufeisen auf dem Weg!“
Der Ritter warf allen dreien noch einen warnenden Blick zu. Dann ging er zur Wirtin, bezahlte seine Zeche, ließ sich noch eines der köstlichen Brote und etwas harten Käse mitgeben und machte sich dann auf den Weg in den Stall, um sein Ross zu holen. Dort waren einige Knechte gerade damit beschäftigt, die Reit- und Zugtiere der Reiseschar zu versorgen.
Der Stall war ein lang gestrecktes Gebäude gegenüber dem Gastgebäude und bot Platz für vier Dutzend Pferde und Maultiere. Das Gasthaus selbst war aus festem Stein gebaut und sogar ein wenig nett geschmückt und von Lornizeren berankt. Es fasste etwa das Doppelte an Menschen. Von diesen Gasthäusern gab es entlang der wichtigen Straßen im Tagesrittabstand noch mehr. Teiranday, yarlay und Städte im ganzen Weltenspiel hatten derartige Einrichtungen für sehr nützlich befunden, denn seit kaum noch jemand bei Nacht reisen musste und auch größere Gruppen zuverlässig eine Unterkunft erreichten, fanden Wegelagerer nur noch wenig lohnende Beute.
Wieso hatte es ausgerechnet Osse Emberbey auf der ersten großen Reise ereilt, die er seit mehreren Sommern angetreten war – und dann noch so kurz vor dem Ziel?
Ein junger Stallknecht sattelte und brachte Venghiár sein Pferd. Der Bursche wunderte sich wohl, dass der Fremde aus dem Norden jetzt zu einem nächtlichen Ritt aufbrechen wollte, stellte aber keine Fragen. Es war dem Ritter drei Kupfermünzen wert, seine Spuren zu verwischen. Venghiár Emberbey packte sein Bündel, stieg auf und ritt los, ohne einen Gruß zu hinterlassen.
Aber sein Pferd tat nicht, was er von ihm verlangte, nämlich ihn so schnell wie möglich zur nächsten Etappe zu bringen. Er trieb es an und gab ihm die Sporen, mit zunehmender Ungeduld und Schärfe, aber das Tier trottete im gemächlichen Trab voran, als spüre es nicht, dass da ein Mensch auf ihm tobte. Venghiár Emberbey war den Umgang mit den großen, schweren Kampfrössern gewohnt. Dies hier war nur ein kleines, flinkes Kurierpferd. Aber mit aller Kraft, die er aufwendete, brachte er es doch nicht zum Galopp.
Das wurde ihm unheimlich, denn während die Sonne sank, befand er sich immer noch beinahe in der Sichtweite des Gasthofs. Zu allem Übel näherte sich von dort in der Abenddämmerung ein Reiter, der sicherlich die Peinlichkeit schon eine Weile beobachtete.
„Allzuviel Eile habt Ihr wohl nicht?“, fragte der Reiter, als er bis auf Rufweite heran war.
„Ach, der Zosse ist toll geworden!“, tat der Ritter es ab und hoffte, der andere würde einfach an ihm vorbei reiten.
Das geschah, und zu seiner Überraschung erkannte Venghiár nun den schlanken Mann mit dem Hut und dem schwarzen Mantel, den er in der Herberge aus den Augen verloren hatte. Er saß jetzt auf dem Rücken eines eleganten schwarzen Feuerblutpferdes, das mit Sattel und Zaumzeug nach der Art angetan war, wie sie in Forétern üblich war. Von seinem Gesicht war im Schatten seiner Hutkrempe und bei einbrechender Dunkelheit nicht viel zu sehen, aber Venghiár wusste, dass der Mann ihn belächelte.
„Wir haben denselben Weg“, behauptete der Schwarzgewandete. Seine Stimme war seltsam, sehr wohltönend. Warm. Wie … weicher Samt.
„Das wüsste ich aber“, schnaubte der Ritter.
„Nun wisst Ihr es.“ Der Fremde passierte – und im selben Moment setzte sich auch Venghiárs Ross in Bewegung. Es trabte eilig dem feurigen Rappen nach, als wäre es nichts anderes gewohnt.
„Ihr wisst doch gar nicht, wohin ich will.“
„Ihr wollt, so schnell es nur geht, zurück zu Eurem lieben Verwandten, bevor es zu spät ist. Ihr habt gerade eine Nacht Zeit dazu.“
„Eine Nacht? Das ist doch …“ Venghiár unterbrach sich. Konnte der Fremde wissen, wohin er unterwegs war?
„Mehr nicht. Es tut mir Leid.“
„Was wisst Ihr, was ich nicht wissen kann?“
Der Fremde lachte. „Oh, weit mehr, als Euch lieb ist.“
„Und wieso redet Ihr in Rätseln?“
„Weil wir noch kein gemeinsames Vertrautes haben.“
„Wer sagt, dass ich mit Euch vertraut sein will? Ich weiß doch weder, wer Ihr seid, noch was Ihr im Schilde führt!“
„Wenn Ihr mir vertraut“, entgegnete der Fremde belustigt, „dann bringe ich Euch nach Emberbey, bevor Pataghíus Glanz über der Wüste emporsteigt.“
„Das ist unmöglich! Dazu müsstet Ihr zaubern können.“
Der Fremde lachte. Ganz leise. Venghiár Emberbey ergriff tiefe Furcht. Und, ganz gegen seinen Instinkt … Interesse.
„Bleibt einfach in den Spuren meines Pferdes“, schlug der Schwarzgewandete vor. „Und lasst Euch überraschen.“