„Schau mal her, Manjév“, rief Truda Emberbey aufgeregt und eilte an den Wächtern vorbei, die die Gemächer der teirandanja hüteten und sich dabei gar sehr zu langweilen schienen. Die beiden Männer behielten den Zugang zum Korridor im Auge, zu dem nur die Familie, die yarlay und befugtes Gesinde Zutritt hatte. Aber abgesehen von Manjév von Wijdlant und Spagor und ihrer jüngeren Hofdame hielt sich zu dieser Zeit niemand hier auf. Das Herrscherpaar und seine engen Gefolgsleute hatten sämtlich andere, wichtige Dinge zu tun. In der Burg waren alle emsig mit den Vorbereitungen zugange. Sogar in der Küche wurden bereits haltbare Speisen gekocht, obwohl es bis zum Fest noch Tage dahin war.
In und um die Burg wimmelte es von ersten hochedlen Gästen und wichtigen, wohlhabenden Persönlichkeiten von nah und fern. So viel musste geregelt und organisiert werden, und ausgerechnet jetzt waren die drei yarlandoray des Hofes mitsamt der zweiten Hofdame abwesend.
Im Fall von Láas Grootplen und seiner Nichte Tíjnje Moréaval war das zu verzeihen, denn schließlich sollte die ehrenwerte eld-yarlara den Weg zur Burg nicht allein bewältigen müssen. Dass ihr jüngster Sohn und ihre Enkelin sie geleiteten, war geboten, da weder Herr Daap noch die yarlara von Moréaval abkömmlich waren. Aber Jándris Altabete, das hatte sein Vater, der hochedle Herr Andriér zerknirscht gegenüber seiner Herrin und ihrem hýardor gelobt, würde sich nach seiner Rückkehr dafür verantworten müssen, sich unter einem so billigen Vorwand vor seinen Pflichten gedrückt zu haben. Dieser leichtfertige Strolch, der sein neues Rüstzeug nur nachlässig verborgen hatte, und zwar unter seinem Bett. Bei seinem Plattner war er jedenfalls nicht.
Viel unruhiger waren Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor jedoch darüber, dass auch Merrit Althopian fort war. Aber gut, ein taugliches Ersatzpferd, das war ein Argument, und nirgendwo anders als auf den Koppeln seines Vaters würde er eines finden, das seinen Ansprüchen genügen würde. Sicher würden Vater und Sohn bald gemeinsam wieder eintreffen, denn auch Herr Waýreth weilte derzeit nicht in Wijdlant.
Es waren also noch einige Tage bis zum vasposár, und es waren noch längst nicht alle Gäste angelangt, die sich angesagt hatten, um dabei zu sein. Doch auf auf der großen Planwiese vor der Burg hatten die ersten ihre Zelte aufgeschlagen. Für all die Menschen und ihr Gefolge, die wegen ihr, Manjév, der teirandanja anreisen würden, bot selbst die große Burg nicht genug Platz. Nicht wenige der Angereisten hofften, dass die junge Dame sich nicht schon längst für jemanden entschieden hatte, und rechneten sich eine gewisse Chance aus, selbst der Auserwählte zu werden. Doch Manjév zeigte sich nicht. Die teirandanja hatte sich in ihr Gemach zurückgezogen und verlauten lassen, unpässlich zu sein. Nur Truda leistete ihr Gesellschaft, und das, obwohl es gerade jetzt so viel Aufregendes zu sehen gab, und so viele interessante Leute aus allen Winkeln des Weltenspiels anwesend waren. Die junge Hofdame machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie bedauerte, dass ihre um fünf Sommer ältere Herrin sich nicht in die Öffentlichkeit wagte. Aber Manjév ließ sich nicht erweichen. Sie würde nicht eher ihre Kemenate verlassen, als es unbedingt sein musste. Spätestens zum Abendessen, bei dem auch einige handverlesene hohe Herren und Damen mit ihren Söhnen und Töchtern mit an der Tafel sitzen würden. Bis dahin schickte Manjév das junge Mädchen ab und an zu yarl Daap Grootplen, dem mynstir der teiranda, um zu erfahren, ob es etwas Wichtiges gab. In der Regel kam Truda mit dem Gastgeschenk eines neu Eingetroffenen zurück.
Die Leibwächter der teirandanja hatten ein Würfelspiel ausgepackt und versuchten, so leise wie möglich damit zu sein. Truda lief an ihnen vorbei und stürmte in das Gemach, ohne anzuklopfen.
„Was ist es diesmal?“, fragte Manjév von Wijdlant und Spagor, künftige teiranda eines großen teirandon, ohne allzu großes Interesse. In den vergangenen Tagen waren neben Gästen nach und nach immer mehr Geschenke eingetroffen. Viele Edelleute und teiranday aus allen Gegenden des Weltenspiels hatten ihre Abgesandten mit Präsenten vorausgeschickt, wohl um ihre Chancen auf ein Wort, auf einen Blick mit ihr zu verbessern, denn ein wertvoilles Geschenk zwang sie, Manjév, dazu sich persönlich dafür zu bedanken - der erste Schritt zu einem Gespräch, das Grundlage für mehr sein konnte.
„Es kommt aus Ivaál“, sagte Truda, ließ sich äußerst formlos neben ihrer Herrin auf die Bettkante fallen und überreichte dem älteren Mädchen eine fein verzierte Dose aus Alabaster. Jemand hatte mit einem winzigen Pinselchen zierliche bunte Vöglein darauf gemalt. „Schau doch mal rein, was drinnen ist!“
„War kein Schreiben dabei?“
„Was? Ach ja … hier.“ Truda holte achtlos ein Briefchen hervor, das sie in ihrem Ausschnitt verstaut hatte. Manjév entfaltete es, warf einen uninteressierten Blick darauf, seufzte und legte es beiseite, ohne es zu Ende gelesen zu haben. Sie schrieben ja doch alle dasselbe, ganz so, als würden die maedloray der Gratulanten zwischen Virhavét und Aurópéa alle voneinander abschreiben. „Eine Aufmerksamkeit eines Edelstein-vendyr“, erklärte die teirandanja. „Wir nehmen es zur Kenntnis und zeigen uns künftigem Handel mit ihm gewogen. Notier das.“
Truda seufzte, erhob sich, trat an das Tischlein bei der Bank in der Fensternische, wo ein Wachstäfelchen mit Griffel lag, und fügte einen weiteren Eintrag hinzu. „Ich wünschte, Osse wäre hier und würde sich darum kümmern.“
„Oh ja, ich mir auch“, murmelte Manjév und schraubte das Döschen auf. „Ich bin froh, wenn er endlich bei uns ist. Ich habe gar keinen Sinn für dieses Zeug.“
„Was ist es denn?“
Manjév warf einen ratlosen Blick in das Döschen. „Ich glaube, es ist … bunter Staub.“
Truda hob die Brauen. In Modedingen war das Mädchen weit besser informiert als ihre Herrin. Das Geschenk aus Ivaál erkannte das Mädchen sofort.
„Das ist ganz fein gemahlener Edelstaub“, klärte sie die teirandanja auf. „Das machen sie mit den Resten, die beim Schmuckstein schleifen übrig bleiben.“
„Und wozu braucht man das?“
„Du machst dir einen Sud aus Linnenkrautsamen, lässt ihn stocken, rührst von dem Staub hinein und reibst ihn dir ins Haar. Das glitzert dann wie buntes Feuer.“
„Woher weißt du so etwas?“
„Die Kammerdame von Tijnjes Großmutter, die schwarzhaarige aus Iváal, hat mir das mal erklärt. Das ist etwas für sehr wohlhabende Damen. Du musst dich unbedingt mit ihr unterhalten, wenn sie die eld-yarlara von Moréaval hierher begleitet. In Ivaál wissen sie wirklich alles über solchen Zierkram.“
„Wenn ich mir den bunten Glimmer ins Haar schmiere, mache ich jemandem Hoffnungen, nicht wahr?“
„Könnte wohl sein.“
Manjév zögerte. Dann schloss sie das Döschen behutsam wieder. „Ich wette, es sieht bei Damen mit dunklem Haar viel besser aus als in meinem.“
„Die Hofdame hat es oft für ihre vorherige Herrin benutzt“, redete Truda weiter. „Du weißt schon, die Mutter von …“
Manjév gab es warnendes Schnauben von sich. Truda bemerkte wohl gerade noch rechtzeitig, in welche gefährliche Richtung das Gespräch abzugleiten drohte. Aber sie konnte sich nicht bremsen.
„Alle Welt redet davon, dass er es sein sollte, Manjév“, sagte sie behutsam.
„Und da musst du auch noch mitplappern?“
„Tíjnje findet das auch.“
Manjév schaute finster auf den bunten gewebten Wollteppich vor ihrem luxuriösen Bett. „Mir gefällt es nicht, dass ihr beiden neben mir her redet...“
Truda erhob sich und ging hinüber zu ihrer eigenen Schlafstelle. Sie und Tíjnje hatten ihre Betten im gegenüberliegenden Winkel von Manjévs Kemenate. Bald wäre es nicht mehr statthaft, wenn die jungen Hofdamen im selben Zimmer schliefen wie ihre Herrin und deren hýardor. Derjenige, den die Mächte, so es in deren Willen und Plan lag, während des vasposár zu ihr führen würden.
„Merrit Althopian verehrt dich“, sagte Truda. Mehr Keckheit wagte sie nicht. Manjév war so schnell so verstimmt.
Manjév schloss beide Hände fest um das Döschen mit dem eitlen Haarpuder.
„Ich weiß“, brachte sie tonlos hervor.
„Ich verstehe dich nicht, Manjév“, redete Truda vorsichtig weiter, nachdem die teirandanja eine Weile geschwiegen hatte und die Stille unerträglich wurde. „Er ist artig und hat gute Manieren. Er ist gebildet, sittsam und sauber. Selbst Láas gibt zu, dass er der Geschickteste unter ihnen ist. Und du musst zugeben: Er sieht auch noch äußerst schmuck aus.“
„Willst du ihn vielleicht haben, Truda? Oder Tíjnje? Ich würde euch alles Gute wünschen.“
Truda schwieg einen Augenblick, sodass man fast meinen konnte, sie zöge dieses Angebot ernsthaft in Erwägung. „Sei nicht närrisch, Manjév“, sagte sie stattdessen sanft. „Du weißt doch, wie gut er für dich wäre. Und dass Tíjnje längst nach .. einem anderen schaut.“
Manjév seufzte tief. Tíjnje, in der Tat. Sie wünschte sich, Tíjnje in diesem Moment bei sich zu haben. Tíjnje hatten die Mächte mit einem Gutteil mehr Feingefühl bedacht als das Mädchen aus Emberbey, die ältere der beiden Töchter des ehrwürdigen alten yarl. Sicher hätte Tíjnje Truda nun sanft in die Schranken gewiesen, denn die beiden waren engste Freundinnen geworden. Aber Tíjnje war eben nicht da. Die treue Kindheitsgefährtin war mit den Junkern unterwegs. Nicht um ihre Großmutter zu geleiten, sondern um Osse zu warnen.
Tíjnje war begeistert über den Auftrag gewesen und hatte es tatsächlich so zurechtgebogen, dass die drei jungen Ritter sich unabhängig voneinander von den Vorbereitungen für das vasposár hatten entfernen können. Als Geheimkurierin war das junge Mädchen äußerst geschickt. Manjév hatte ihr dafür versprochen, sich um die vielen Töpfe mit weißen Blumen zu kümmern, die Tíjnje in der ganzen Burg verteilt hatte. Dieses Versprechen hielt sie. Keine Nacht verging, in der sie nicht mit einem Krug Wasser die Blumen auf den Fenstersimsen tränkte. Dass bereits Gäste die herrlichen Pflanzen bemerkt und bewundert hatten, wusste Manjév. Tíjnje würde auf dem Fest viele kleine Beutelchen mit Samen verteilen.
„Ich denke“, sagte Manjév und bedauerte, der glanzsicheren und lebenshellen Truda gegenüber so abweisend sein zu müssen, „ich weiß schon ganz gut, wer und was gut für mich ist. Und das muss nicht unbedingt derjenige sein, mit dem die ganze Welt, du und Tíjnje mich verkuppelt sehen wollt, nur weil er ein nettes Gesicht und halbwegs gute Manieren hat.“
„Aber …“
„Ich will nicht darüber reden!“, entfuhr es der teirandanja, und ehe sie sich beherrschen konnte, hatte sie das kostbare Puderdöschen zornig zu Boden geworfen. Unglücklicherweise verfehlte sie dabei den Teppich. Betroffen schauten die Mädchen auf den schimmernden Staub zwischen den Scherben.
Manjév schluchzte lautlos auf. Je näher das vasposár kam, desto öfter brachte allein der Gedanke an Merrit Althopian sie dermaßen aus der Ruhe, dass sie in Zorn geriet, Zorn, der nur ein paar Herzschläge anhielt und sie zutiefst beschämte.
„Bleib sitzen“, riet Truda vorsichtig. „Keinen Windzug, und nicht mit deiner Schleppe da durch. Ich besorge ein Kehrblech und ein Sieb. Leg dich hin und rühr dich nicht, bis ich wieder da bin.“
Und schon war sie aus dem Raum geschlüpft, sichtlich dankbar dafür, den Launen der teirandanja für den Moment zu entrinnen.
Manjév zog die Füße an sich und legte sich auf das Bett.
Was geschah nur um sie herum, und wohin sollte es führen? Und wohin hätte es geführt, wäre nicht vor acht Tagen der Schattensänger aufgetaucht?
Vor acht Tagen waren ihr Leben und die bevorstehenden Ereignisse zwar nicht minder kompliziert gewesen, aber es hatte lange nicht die Verunsicherung und Schwere gehabt, die nun drückend auf ihrem Gemüt lag. Manjév hatte unter strenger Aufsicht ihrer alten opayra ihren Lektionen über die alte Vergangenheit des Weltenspieles beigewohnt und versucht, sich all die Wappen und Namen von hochedlen Familien einzuprägen, die irgendwo anders ihre yarlmálon und teirandon hatten. Das waren Dinge, über die sie jederzeit gut Bescheid wissen musste, auch wenn sie jederzeit einen maedlor, ihren mynstir oder im Zweifelsfall sogar ein Buch befragen konnte. Es war ein langweiliger Nachmittag gewesen, und Manjév hatte aufgeatmet, als es damit endlich zu einem Ende kam und der mestar die jungen Mädchen in die Freiheit entließ.
„Kommt“, hatte Tíjnje vorgeschlagen. „Lasst uns nachschauen, was die Jungs machen.“
„Was sollen sie schon tun um diese Zeit? Auf das Turnier werden sie sich vorbereiten.“
„Vielleicht sind sie schon fertig damit.“
„Dann sind sie hoffentlich im Badehaus und werden all den Schmutz und Schweiß los.“
Trudas Augen blitzten übermütig auf. „Wollen wir nachschauen?“
„Das gehört sich nicht“, sagte Tíjnje mit unbewegter Miene. „Eine junge Dame muss immer tugendhaft und sittsam und nicht neugierig sein.“
Das war eine so überzeugende Nachahmung von Rede und Gehabe der opayra, dass die drei Mädchen unwillkürlich kicherten.
„Kommst du mit, Manjév?“
„Nein. Geht allein. Ich habe die drei ohnehin den ganzen Abend vor der Nase, da muss ich nicht noch ein Auge darauf haben, dass sie sich ordentlich waschen.“
Truda und Tíjnje zögerten der Form halber.
„Dürfen wir nachschauen?“, fragte Truda dann.
Manjév schüttelte milde den Kopf. Dies waren Augenblicke, in denen ihr klar wurde, welchen Unterschied die fünf Sommer ausmachten, die sie von ihren Hofdamen trennten. „Ihr neugierigen Gänschen“, tadelte sie. „Aber seid bedacht, dass sich niemand bei mir über euren Vorwitz beschwert.“
Die beiden verneigten sich und stürmten kichernd und plappernd davon. Manjév war allein zu ihrem Gemach zurückgekehrt, hatte die Wächter gegrüßt und die Tür hinter sich geschlossen, um einen kurzen Moment des Alleinseins zu genießen.
„Majestät, bitte bleibt ruhig. Ich will Euch nicht erschrecken.“
Sie zuckte zusammen. Die Stimme hinter ihr war so unerwartet … und so vertraut. Zehn Winter war es her, seit sie sie das letzte Mal gehört hatte. Doch ihren Klang, diese sanfte Wärme und Zugewandtheit, die würde sie niemals vergessen.
Sie schickte sich an, sich freudig überrascht umzudrehen, aber der Eindringling hielt sie zurück. „Vorsicht, Majestät. Schaut mir nicht ins Gesicht, wie Ihr es als Kind noch tun konntet. Es mag nun für Euch gefährlich sein.“
„Ich habe keine Angst vor Euch, Meister Yalomiro. Wie seid Ihr hier herein gekommen? Die Tür ist bewacht, und …“
„Türen, Majestät?“
Er klang belustigt. Und warum auch nicht? Für einen Schattensänger, einen mächtigen Magier, war eine geschlossene Tür sicherlich nicht mehr als eine freundliche Empfehlung. Sie wandte sich zu ihm um und bezwang sich, ihn nicht direkt anzuschauen. Er saß auf Tíjnjes Kleidertruhe und hatte wohl gerade einen ihrer Blumentöpfe angeschaut, die überall im Zimmer verteilt standen. Er stellte die Pflanze beiseite, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.
„Ich freue mich über Euren Besuch. Was führt Euch her, Meister Yalomiro“, fragte sie und kam in den Raum hinein. Sie hätte sich auf ihren prunkvollen, geschnitzten und mit Blattgold und Perlmutt verzierten Sessel niederlassen können. Aber das erschien ihr falsch. Also setzte sie sich auf Trudas Truhe, die Tijnjes gegenüber am Fußende ihrer Schlafstelle stand. „Wissen meine Eltern, dass Ihr hier seid?“
„Nein. Und es würde mich beruhigen, wenn sie vorerst nicht davon wüssten. Ich möchte es so unkompliziert halten wie möglich.“
„Warum?“
„Weil das letzte Mal, als ich sie in ein äußerst vages Mysterium einweihen wollte, etwas Ungünstiges geschehen ist.“
„Ein Mysterium?“
„Ich bin hier, um Euch zu Vorsicht zu gemahnen, Majestät. Uns wurde etwas Rätselhaftes offenbart. Es könnte eine ernstzunehmende Warnung sein. Und ich mag Euch und die Euren nicht in Gefahr sehen.“
Ihr Blick zuckte hoch zu seinem Gesicht. Natürlich hatte er seine Augen bestmöglich im Schatten seiner Hutkrempe verborgen und hielt den Kopf geneigt. Trotzdem erhaschte sie einen kurzen Eindruck. Wie grau er geworden war - und wie gefällig er dessen ungeachtet immer noch aussah! Ihr Herz begann, schneller zu klopfen und eine unangemessene Hitze stieg in ihr auf. Sie schaute rasch beiseite und spürte, wie sie vor ihm errötete. Bei den Mächten, was für eine Peinlichkeit! Gehörte es sich denn für ein junges Mädchen, Gefallen an einem Mann zu finden, der vom Alter leicht ihr Vater hätte sein können?
„Ich würde mich in ein gefälliges Tier verwandeln, um Euch das zu ersparen“, sagte er sanft. „Aber dann könnte ich nicht zu Euch sprechen. Ich will mich hier nicht länger aufhalten, als erforderlich ist.“
„Womit kann ich Euch dienen, Meister?“
„Ich will mich kurzfassen. Wir erhielten aus dem Nichts heraus ein Zeichen, das sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf das vasposár bezieht. Es werden viele, viele hochedle Krieger hier in Wijdlant sein, nicht wahr?“
Krieger? Warum wählte er dieses schlimme Wort? Kriege waren lange, lange vorbei. Yarlay waren nicht mehr für Kriege da. Sie waren ... Wächter. Beschützer.
„Ich weiß nicht ganz genau, wie viele yarlay da sein werden. Aber es haben sich mindestens vier teiranday mit ihren Söhnen angekündigt. Wenn Ihr den alten Benjus von Valvivant mitzählen mögt, fünf.“
„Meine Tochter weiß zu berichten, dass Ihr Euch noch nicht unter Euren eigenen Gefolgsleuten entscheiden konntet. Ist das wahr?“
„Es mag sein, dass meine Hofdamen etwas zu viel mit ihr und ihrem hýardor plaudern, wenn die beiden zugegen sind“, antwortete Manjév schroffer, als es sich gebührte. Musste er sie denn nun auch noch mit der Nase auf Merrit Althopian stoßen, dessen Gegenwart sich anfühlte wie eine Kerzenflamme?
„Es geht mich nichts an, Majestät. Und ich bin nicht hier, um Euch in die eine oder andere Richtung zu drängen.“
Sie zwang sich dazu, nicht erneut zu ihm aufzublicken.
„Es mag sich dennoch zutragen, dass es zwei sein werden, die Euch zu gewinnen versuchen, junge teirandanja. Und ebenso mag es sein, dass der eine es nur über das Leben des anderen zu erlangen versucht.“
Sie zögerte. Dann fasste sie sich ein Herz.
„Ihr denkt an Merrit Althopian nicht wahr? Ich …“
„Es ist interessant, dass Ihr an ihn denkt.“
Sie seufzte, so aussichtslos und schwer, dass es ihn wohl anrührte. Er wartete einen Moment und fuhr dann sanft fort: „Es steht mir nicht an, mich hier einzumischen. Das ist eine Sache, die ihr mit unkundigem Herzen klären müsst. Aber es ist nicht unbedingt Euer Herz, das hier zur Debatte steht, so nahe es zu liegen scheint.“
„Was denn sonst? Diesen ganzen Aufwand veranstalten sie doch nur, damit ich einem hýardor einen Namen gebe.“
Er neigte sich zu ihr vor. Sie spürte, wie sein freundlicher silbriger Blick auf ihr lag, als wolle er sie trösten und beruhigen, und es doch nicht zu vermögen.
„Ist Euch bewusst, wie groß und mächtig Ihr seid, Manjév von Wijdlant und Spagor? Wie viel Einfluss Ihr hättet, würdet Ihr Euch entscheiden, Euch in Dinge … einzumischen?“
„Was wollt Ihr mir damit sagen?“
„Ist es nicht offensichtlich?“
„Meister Yalomiro … bitte werdet deutlicher. Ich bin nur ein einfaches Mädchen. Ich sehe nicht mehr, als meinen eigenen engen Kreis betrifft.“
„Dann lasst es mich anders formulieren. Stellt Euch nur vor, zwei Männer würden um Euch … konkurrieren. Wäre es wohl Euer Herz oder das, was eine Vereinigung mit dem teirandon von Wijdlant und Spagor bedeuten könnte? Was spürt Ihr bei diesem Gedanken?“
„Bitte, Meister Yalomiro. Sagt mir einfach, was Ihr zu wissen glaubt. Dann kann ich Euch antworten.“
„Nun gut.“ Er seufzte. „Leider ist es so vage, wie es nur sein kann. Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet die Antwort. Wir sahen viele hochedle Herren, die sich zu einer obsukren, verschleierten Gemeinschaft vereinten. Und zwei, die einander um Euretwillen das Leben nehmen würden.“
Und er erzählte ihr, wie ihn aus dem Nichts eine Ahnung, eine Vision getroffen hatte, so verwaschen und wirr, dass sie die Mächte beschworen hatten, es ihnen etwas klarer zu sagen. Sie verstand nicht viel davon und fand es beinahe absurd und ungehörig, dass sie schnöde Spielfiguren befragt hatten. Alles, was dabei herumgekommen war, war gewesen, dass sich eine Konfrontation zwischen zweien anbahnte, die nicht gut ausgehen konnte.
„Ihr wisst“, schloss er seine Rede, „was ich Euch damals über Kampf und Krieg erzählt habe. Dinge können aus dem Ruder laufen, allzu schnell und in aller Unschuld.“
„Ich würde niemals mehr meine Gefolgsleute gegeneinander ausspielen“, sagte sie beschämt. „Nicht so, wie es geschehen ist und wofür ich mich heute noch schäme. Und … die yarlandoray von Grootplen, Altabete und Althopian sind in den Sommern seither unzertrennliche Freunde geworden.“
„Wetteifern Sie untereinander um Eure Gunst?“, fragte er. Sie musste eine Weile überlegen, wie sie ihre Antwort formulierte.
„Nein“, behauptete sie dann fest. „Jándris und Láas … die beiden scheinen ihre Wahl getroffen zu haben. Obwohl … offiziell weiß ich davon nichts.“
Nun hörte sie in seiner Stimme, dass er lächelte. „Und wie sieht es mit der anderen Sache aus? Mit der Macht? Was ist mit diesem anderen Jungen? Dem Sohn von yarl Emberbey?“
„Osse? Meister, ich weiß, dass ich in Osse Emberbey einen treuen und unbestechlichen Freund an meiner Seite haben werde. Aber mein Herz ... nein. Und außerdem hat er in all den Sommern in Ivaál und Aurópéa sicher schon längst jemanden erspäht, der ihm gefällt.“
„Und dennoch wird Osse Emberbey bei seiner Rückkehr einen festen Platz ganz nahe bei Euch finden?“
„Osse wird anlässlich des vasposár die Nachfolge seines Vaters als mynstir antreten. Natürlich anfangs unter der Aufsicht von Herrn Daap, schließlich ist er noch so jung. Aber …“
„Osse Emberbey wird also Euer mynstir werden? Der mächtigste Mann, gleich neben Euch und Eurem hýardor?“
„Ich wüsste keinen besseren für diese Aufgabe.“
„Hat Osse Emberbey einen Mitbewerber?“
„Nein“, lachte sie, „nur einen Weitvetter, der …“
„Wieso redet Ihr nicht zu Ende?“
„Es ist … nichts“, hatte sie behauptet, wohl wissend, dass es unmöglich war, einen Schattensänger anzulügen.
Er wartete einen Moment. Aber sie schwieg. Nein, sie konnte ihm nicht sagen, was ihr durch den Kopf ging. Er würde es längst wissen.
„Majestät?“
Sie schaute zu ihm auf. Er hielt seinen Blick gesenkt, aber streckte seine Hand nach ihr aus. Eine Verwegenheit, aber das war ihr egal. Sie griff nach der seinen und fühlte eine Wärme, eine Zuneigung, die sich ganz fremd und doch so gut, so richtig anfühlte.
„Majestät … meine Tochter und … der junge Mann aus Aurópéa werden es sich nicht nehmen lassen, Euch während des vasposár Gesellschaft zu leisten.“
„Ich wäre glücklich darüber, Dýamirée und Advon hier zu begrüßen. Aber was ist mit Euch und Eurer hýardora?“
„Wir werden da sein. Aber bis dahin ist es wichtig, dass Ihr aufmerksam seid. Es wird etwas während des vasposár geschehen. Unter Umständen wird es einen der jungen Herren aus dem Weltenspiel sein Leben kosten, vielleicht einen, den Ihr derzeit überhaupt nicht in Gedanken habt. Es wird um Euretwillen geschehen. Und möglicherweise ist es an Euch, es zu verhindern.“
„Aber wie?“, rief sie aus. „Bei den Mächten, niemand soll um meinetwillen Schaden nehmen!“
Er neigte sich zu ihr vor.
„Wenn es soweit ist“, sagte er leise, „bewegt Euch. Verlasst die Position, in der alle Euch erwarten. Macht es so, dass sie einander nicht im Wege stehen. Um das andere … um all die Ritter unter demselben obskuren Banner … darum will ich mich kümmern. Das scheint mir ein anderer Wettstreit zu sein als jener zwischen zwei Herren, die Euch nicht erreichen können, solange sie einander im Wege sind. Das mag etwas zwischen, nun ... Magiern sein.“
Er erhob sich. Sie zögerte einen Moment.
„Meister Yalomiro? Darf ich Euch etwas fragen?“
„Selbstverständlich.“
„Könnt Ihr mir sagen, wie … wie wahre Liebe sich anfühlt?“
„Wieso nehmt Ihr an, dass ich das weiß?“
„Weil Dýamirée weiß, dass Ihr es wisst.“
„Ist das ein Thema zwischen ihr und Euch?“
„Manchmal. Nein ... häufig. Sie ... redet anders über solche Dinge als meine Hofdamen. Oder meine Mutter. Und meist verstehe ich sie nicht.“
Er zögerte. Dann setzte er sich noch einmal hin. „Nur Euer eigenes Herz kann es Euch sagen, Majestät. Was mich und meine hýardora betrifft …“ Er nahm Tíjnjes Blumentopf zu Hand. Dann zog er die Pflanze mit einem Ruck aus dem Topf hervor.
Manjév war erschrocken. Dann aber sah sie, dass das feine Wurzelwerk der Blume die Erde so durchdrungen und umschlungen hatte, dass sie gänzlich mit ihr aus dem Tontopf gehoben worden war, ohne dass sich ein Krümel löste.
„Ohne die Pflanze“, sagte er, „wäre die Erde karg. Ohne die Erde, wäre die Blume tot. Liebe ist … ein Miteinander. Eines nicht ohne das andere. Unzertrennlich. Eine Einheit. Etwas … Heiliges, das sich gegenseitig erhält.“
„Bitte“, flehte sie, beunruhigt über darüber, wie die entwurzelte Pflanze in seiner Hand lag, „setzt es zurück. Tíjnje ist besessen von diesen Blumen. Ihnen darf nichts geschehen.“
Er brachte den Erdballen samt Blume sacht wieder zurück in den Topf. Als er das Ganze zurückstellte, sah es fast so aus, als gewänne die Pflanze an Fülle.
„Manchmal“, setzte er sanft hinzu, „braucht es allerdings eine ganz bestimmte Erde, damit gewisse Samen Wurzeln schlagen.“
„Danke“, sagte sie. „Darf ich mit meinen Eltern darüber reden?“
„Nichts liegt mir ferner, als Euch das Wort zu verbieten“, hatte er geantwortet. „Aber Ihr selbst solltet wissen, wem Ihr von meinem Besuch erzählt. Und wem besser nicht. Wenn Ihr meinen Rat wollt ... ich denke,. dass es unter euch jungen Menschen gerade besser aufgehoben ist als unter Erfahrenen, die eine übergroße Sache daraus machen könnten.“
Sie nickte. Aber als sie den Blick hob, war da nur noch ein großer, grauschwarzer Rabe, der auf den Truhe hockte, sich vor ihr verneigte und dann mit raschem Flügelschlag durch das offene Fenster entschwand.
So war es gewesen, erst ein paar Tage war es her. Manjév erlaubte sich ein leises Schluchzen und verbarg das Gesicht in Händen, bis sie hörte, wie Truda nach einer viel zu langen Frist mit dem Kehrblech zurückkam und schweigend begann, Edelsteinstaub und die Überreste des Döschens wieder zusammenzuklauben. Die beiden Mädchen sprachen eine Weile nicht miteinander, bis die teirandanja begriff, dass es an ihr war, das Schweigen zu brechen.
„Und wenn die Mächte mir einen anderen zeigen würden?“, fragte sie leise. „Einen, dem mein Herz zustrebt?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Sie sind ja noch nicht einmal eingetroffen, all die jungen Herren aus den fernen yarlmálon.“
„Und wenn sie um mich kämpfen?“ Manjév sagte das, ohne einen präzisen Gedanken damit zu verbinden.
„Du musst nicht den nehmen, der das Turnier gewinnt, das weißt du. Das wäre ja unsinnig. Das Turnier ist für was anderes da.“
„Ja. Ja, ich weiß.“
„Die Jungs freuen sich darauf. Sie sind es überdrüssig, nur gegeneinander und mit ihren Vätern zu fechten. Das wird lustig.“
„Worauf freust du dich dabei, Truda?“
„Ich?“
„Und wenn für dich ein hýardor dabei ist? Oder für Tíjnje?“
„Der wird wohl warten müssen. Wir lassen dich nicht allein, bis du glücklich bist. Und du weißt, für wen Tíjnjes Herz brennt.“
„Ich bin nicht glücklich. Es ist so viel Schwere in meinen Gedanken.“
„Du fühlst dich gedrängt. So soll es nicht sein. Du sollst nur schauen, fühlen. Nicht entscheiden.“
„Was ist mit Venghiár, Truda? Wird er wohl auch … erscheinen und am Turnier teilnehmen?“
„Natürlich. Denkst du, er wird sich das entgehen lassen? Allein, um Osse zu demütigen, wird er mit dabei sein.“
„Ich will das alles nicht!“
Truda legte das Blech vorsichtig neben die Notiztafel und ließ sich dann neben der teirandanja auf der Bettkante nieder. Vorsichtig, tröstend spürte Manjév die Hände der Jüngeren auf ihren Schultern.
„Vielleicht solltest du dich mit leichteren Dingen zerstreuen. Komm, lass uns hinausgehen. Das wird dir gut tun. Vielleicht ein Ausritt über die Felder. Das bringt dich vielleicht auf andere Gedanken.“
„Ist es dafür nicht schon zu spät am Tag?“
„Ach was. Wir bitten Herrn Jóndere, dass er uns begleitet. Der ist bestimmt auch froh, wenn er mal etwas anderes zu sehen bekommt als all die anstrengenden Leute, zu denen er höflich sein muss.“
Manjév zögerte kurz. Sie bezweifelte, dass Tijnjes Vater, jener Ritter, der am Hof als Leibwächter der teiranday fungierte, mitten am Tag und angesichts der Umstände abkömmlich sein würde. Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich auf. Truda hatte sicher recht. Wem nützte es etwas, wenn sie hier in ihrem Gemach in Selbstmitleid zerfloss. Sie hatte zwar keine rechte Lust auf einen Ausritt. Aber vielleicht würde die Gegenwart des immer freundlichen und artigen Ritters sie in eine bessere Stimmung versetzen.