Yalomiro hatte etwas gesehen, oder vielmehr: belauscht. Unfreiwillig, gewaltsam, ein Ohrenzeuge einer ebenso magischen wie grausamen Verschwörung. Im Nachhinein und in der Rückschau wurde mir vieles von dem glasklar, was uns an jenem Abend so maßlos verwirrt und verschreckt hatte. Ich für meinen Teil glaube, dass … jemand … sehr wohl wollte, dass Yalomiro alarmiert war. Zu anmaßend, zu spektakulär und doch so schlau hatte es seine Botschaft verkündet, eine Herausforderung, der Yalomiro nicht widerstehen konnte. Und wir anderen auch nicht. Und die Unkundigen – die schon gar nicht.
Es war ein Spätsommerabend gewesen, als das Böse sich bemerkbar machte, auf brutale, raffinierte, intelligente Weise Yalomiros Interesse erregt hatte.
Vielleicht wäre die Sache anders ausgegangen, wenn wir nicht an jenem späten Sommerabend vor dem Etaímalon, Noktámas Halle, dem Heiligtum der Lebendigen Nacht gesessen und Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt hätten. Oder zumindest ein Spiel, das dem sehr ähnlich war, denn an manche Feinheiten konnte ich mich nach all der Zeit nicht erinnern. Aber egal. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, so etwas wie einen geselligen Abend im Kreise der Familie zu gestalten.
„Es macht wirklich viel Spaß“, beteuerte ich. „Und es ist gar nicht viel dabei zu denken oder zu planen. Es ist reines Glück. Wir brauchen nur einen Würfel.“
Yalomiro schaute sich um und hob einen kantigen, marmorierten Kieselstein auf. Als er seine Hand wieder öffnete, lag ein noch kantigerer Würfel darin, dessen natürliches Muster sich zu den jeweiligen Augen angeordnet hatte. Der Würfel hatte sieben Seiten. Aber wen kümmerten schon Details?
„Darf man mit magischen Würfeln ein Glückspiel spielen?“, zweifelte Advon Irísolor und betrachtete mit verträumtem, blaugoldenem Blick skeptisch das improvisierte Artefakt. Seit jenem Tag vor mehr als zehn Sommern, als Yalomiro nahe dem Cielástel ein kleines privates Portal für ihn und unsere Tochter gezaubert hatte, ging der zwischenzeitlich zu einem schmucken jungen Mann herangewachsene Regenbogenritter bei uns im Boscargén ein und aus. Wer ihm unvorbereitet begegnete, kam nicht umhin, ihn anzustaunen. Advon hatte viel von der feengleichen Anmut seiner Mutter geerbt, und wirkte … nun ja … nicht ganz wie ein Mensch.
„Das ist kein verzauberter Würfel“, neckte Dýamirée ihn und zupfte an seinem rückenlangen, goldblonden Haar. „Es ist ein gezauberter Würfel.“
„Hauptsache, er funktioniert“, sagte ich und beschwor die Tischplatte vor uns so, dass sie ein Spielfeld zeigte, das ungefähr so aussah wie das, an das ich mich erinnern konnte, wenn ich mir auch bei der genauen Anzahl der Felder nicht sicher war. „Und jetzt brauchen wir sechzehn Spielsteine, vier für jeden von uns.“ Ich hatte eine Handvoll Olivenkerne mitgebracht, die ich vor ihnen auf den Tisch legte. „Zum Unterscheiden brauchen wir vier verschiedene Farben.“
„Das mache ich, wenn Ihr erlaubt, Meisterin Salghiára. Mit Farben kenne ich mich aus.“ Advon griff sich die ersten vier Kerne. „Welche Farbe wünscht Ihr?“
„Ich weiß nicht. Grün? Ich mag grün.“
„Dann mach sie grün wie meine Augen“, forderte Dýamirée gut gelaunt.
„Und Ihr, Meister Yalomiro?“
„Schwarz. Ich denke, das passt zu mir“, sagte Yalomiro und spielte nachdenklich mit dem Würfel, den er soeben erschaffen hatte.
„Dýamirée?“
„Glitzer!“
„Das ist keine Farbe, Dýamirée.“
„Es sind alle Farben zugleich.“
„Das gilt nicht. Du kannst nicht mit allen Farben zugleich spielen. Du musst dich entscheiden“
„Du kannst es nicht“, lästerte sie zärtlich und wickelte eine Strähne ihres blauschwarz glänzenden Haares um ihren Finger.
Advon Irísolor, Sohn des Anführers der Regenbogenritter, Cýelú Irísolor, und der fajía [≈ feenartiges Wesen] Elosál zuckte die Achseln und beschwor die Olivenkerne gutmütig zu kleinen Farbfeuerwerken, die funkelten wie Diamanten. Dýamirée war entzückt. Sie liebte alles, was schillerte und schimmerte, vom Morgentau bis zum Glanz von Noktámas Juwelen am Nachthimmel.
„Und du selbst, Abendkind?“, fragte Yalomiro höflich.
„Ach, ich lasse sie einfach, wie sie von sich selbst aus sind. Und nun, Meisterin Salghiára? Wie geht Euer Spiel aus der anderen Welt?“
Ich versuchte, den dreien zu erklären, dass das Ziel darin bestand, die Steine so schnell wie möglich einmal um das Spielfeld herum zu bringen, immer unter der Gefahr, von den anderen Spielern aus der Bahn geworfen zu werden.
„Wenn ihr in die Zielfelder dort erreicht, seid ihr in Sicherheit. Wer als erstes eine sechs würfelt, fängt an.“
Yalomiro ließ den Würfel los und warf eine Neun. Mit dem siebenseitigen Würfel, wohlgemerkt.
Ich seufzte und lehnte mich auf der Bank zurück. Seit es mich in diese Welt verschlagen hatte, hatte ich - wider besseres Wissen - immer wieder versucht, Dinge aus meiner Geburtswelt zuerst mit Yalomiro, später mit unserer Tochter Dýamirée und schließlich auch Advon zu teilen, Spiele, Märchen, Ideen ... Das war komplizierter, als man hätte denken sollen. Unkundige Dinge waren für einen magischen Verstand allzu oft zu kompliziert.
Nach einigen Startschwierigkeiten gelang es, die Partie einigermaßen in Gang zu bringen. Aber es blieb zäh. Advon und Dýamirée schienen sich nicht ganz sicher zu sein, was genau denn nun das Unterhaltsame an dem Spiel sein sollte. Während Advon höflich war und sich bemühte, seine Langeweile nicht allzu deutlich zu zeigen, nahm ich deutlich wahr, dass Dýamirée lieber etwas anderes mit ihm unternommen hätte.
Seit Dýamirée in ein Alter gekommen war, in dem sie begann, sich auf eine besondere Weise für ihren Freund zu interessieren, war Yalomiro wachsam geworden. Eine ebenso distanzierte wie argwöhnische Aufmerksamkeit, die mich immer wieder amüsierte. Wenn Advon bei Dýamirée saß, konnte mein hýardor [≈ Gefährte] sich kaum auf etwas anderes besinnen als darauf, ein scharfes Auge auf den jungen Magier zu haben. Sofern Advon diese väterliche Eifersucht zur Kenntnis nahm, ließ er es sich nicht anmerken. Ich denke nicht, dass er sich dessen gewahr war. Advon war unschuldig wie ein kleines Kind.
Aber diesmal war es anders. Yalomiro wirkte an diesem friedlichen Spätsommerabend so zerstreut, als sei er zwar körperlich bei uns, im Geiste aber ganz woanders. Ganz tief in seinem silbrig-braunen Blick flackerte es fahl und schwach. Ein Hintergrundrauschen aus unterschwelliger Magie.
Geht es dir gut?, fragte ich ihn lautlos. Ich musste ihn zweimal ansprechen, bevor er aufschreckte. Einen Moment lang wirkte sein Gesicht fremd. Die Zeit hatte ihn ergrauen lassen, doch daran, dass sein einst pechschwarzes Haar und Bart fast gänzlich silberhell geworden waren, hatte ich mich längst gewöhnt. Meinem Haar ging es nicht anders. Aber da war auch wieder diese Müdigkeit, diese Erschöpfung, die mir das Herz schwer machte. Yalomiro war einst ins Chaos gegangen, um Menschenleben zu retten. Er hatte dafür einen hohen Preis bezahlt und sich nie gänzlich davon erholt. An manchen Tagen sah man ihm an, dass er schwächer geworden war. Heute war einer davon.
Da ist etwas in der Nähe, sagte er. Im Schatten. Ich lausche. Hörst du es denn nicht?
Nein. Was? Ist es gefährlich?
Nein. Es ist ganz leise, wie ein fernes Echo.
Ich verstehe nicht.
Wie, als wenn man beim Aufräumen etwas Belangloses wiederfindet. Vielleicht ein Fetzen eines Zaubers, der hier oder in der Halle einmal gesprochen wurde und nun aufwirbelt.
Aufwirbelt?
Wie Staub in einem Luftzug. Es ist nichts. Er lächelte mir zu. Das fahle Flackern verlosch und zog sich in den Silbersprenkeln in seinen dunkelbraunen Augen zusammen. Die waren immer noch so wie damals. Damals, als er mich angeschaut und in seine Seele hatte blicken lassen.
„Ich glaube, dieses Spiel würde Manjév gefallen“, plauderte Dýamirée. „Wir sollten es ihr beibringen. Dann kann sie es mit ihren Freundinnen spielen. Das alte Steinespiel finden sie sicher längst langweilig. Das ist für kleine Kinder.“
Vom Boscargén, unserem magischen Wald aus, war es nicht weit bis zu der großen Burg, in der Manjév lebte, zumindest nicht wenn man, wie Advon, ein fliegendes Reittier beherrschte. Sein Hengst Farbenspiel, ein Volaycorn, ein eingehörntes, schlangenäugiges Geschöpf mit seifenblasenschillerndem Fell, der Statur eines riesigen Kaltblutpferdes und ausladenden Vogelschwingen, war auch jetzt in der Nähe und graste friedlich am Ufer des Sees.
„Sie wird dafür gerade wenig Sinn haben. Ihr vasposár steht an“, sagte Yalomiro und kickte einen von Advons Steinen vom Brett. Das glückte ihm verdächtig oft. „In den Dörfern vor Hethrom redet man seit dem letzten Winter davon. Es müsste bald soweit sein.“
„Zum Herbstmond“, bestätigte Advon. „Sogar in Aurópéa ist das ein Thema.“
„Ich bin neugierig darauf“, gab ich zu.
„Ob sie mich bei ihrem Turnier mitmachen lassen?“, sinnierte Advon.
„Warum nicht? Solange du keine magischen Waffen verwendest und jemand dir ein gewöhnliches Pferd überlässt? Alles andere wäre etwas unfair den unkundigen Rittern gegenüber.“
„Warum willst du ein Turnier mitmachen?“, fragte Dýamirée überrascht. „Willst du Unkundige beeindrucken?“
„Naja. Vielleicht macht es Spaß?“
„Gegen Merrit Althopian hast du ohnehin keine Chance“, versetzte Dýamirée ungnädig. „Manjév sagt, er sei unbesiegbar.“
„Merrit Althopian …“ Yalomiro nahm den Würfel an sich, tat damit aber nichts, außer ihn zwischen den Fingern zu drehen.
„Tíjnje sagt, er sei in Manjév verliebt“, tratschte Dýamirée weiter. „Alle glauben, dass er ihr hýardor sein wird. Aber sie schweigt dazu. Sie redet mit niemandem darüber. Auch nicht zu ihm. Die Mädchen sagen, sie spricht niemals unter vier Augen zu ihm.“
„Der arme Kerl.“ Mein mütterliches Mitleid war geweckt. „Das muss doch eine unerträgliche Ungewissheit für den jungen Mann sein.“
„Vielleicht hat sie ein Einsehen, wenn er sich im Turnier ihrer würdig erweist. So ganz altmodisch, wie in den Romanen.“
Ich schaute verwirrt zu Advon hinüber. Der junge Mann kannte sich gut aus, was verständlich war. Als arcaval’ay musste er um die Sitten der unkundigen Ritter wissen.
„Heißt das etwa, Manjév ist sowas wie eine Trophäe für den Sieger?“
„Nein, Meisterin, natürlich nicht. Das wäre ja schrecklich und den Mächten zuwider. Sie könnte sich genauso gut jemanden erwählen, der nicht einmal an dem Wettkampf teilnimmt.“
„Warum veranstalten die teiranday dann diesen Wirbel? Wenn dieses Turnier den Ausgang für diese … Partnerwahl nicht beeinflusst?“
„Sie müssen das so tun“, klärte Advon mich auf. „Alle jungen yarlay und teirandoray müssen eine gleiche Chance haben, sich vor ihr zu präsentieren, damit sie unter allen ihres Standes auswählen kann. Das ist wohl … Politik.“
„Es ist noch mehr dabei, Salghiára“, sagte Yalomiro. „Es ist wichtig, dass die yarlay vor aller Augen ihre Kräfte miteinander messen, damit-“
Und dann geschah es. Mitten im Satz, aus dem Nichts schnappte Yalomiro nach Luft. Das Silber in seinen Augen flammte auf wie eine gleißende Wunderkerze, sein Körper zuckte wie unter einem Peitschenschlag. Dann erstarrte er. Unbeweglich, nur leise zitternd und flach atmend saß er da. Seine Augen brannten in kaltem Silberfeuer.
Ich sprang verängstigt auf und lief um den Tisch herum. Yalomiro hatte noch nie in meinem Beisein einen solchen Anfall gehabt. Es sah scheußlich aus. „Yalomiro!“
„Papa?“ Dýamirée taste eilig nach seiner Hand, die so fest um den Würfel gekrampft war, dass seine Knöchel weiß unter seiner Haut hervortraten. Doch als sie seine Finger berührte, zuckte sie mit einem Wehlaut zurück, als habe sie sich an ihm verbrannt.
Das hätte mich warnen sollen, aber zu spät! Ich hatte ihn schon bei der Schulter gepackt, um ihn zu rütteln und bereute es augenblicklich. Etwas fuhr in meinen Arm und durch mich hindurch wie ein Regen aus nadelfeinen Pfeilen. Ich schrie auf und sprang zurück.
Yalomiro schien davon nichts zu bemerken. Er war wie gelähmt. Ich neigte mich zu ihm vor und versuchte, ihm in die gespenstisch leuchtenden Augen zu blicken. Zugleich spürte ich, wie seine maghiscal [≈ Energiefeld um einen Magier] sich veränderte. Sie schien, um ihn herum zu kristallisieren und spröde zu werden. Es war verstörend, und es wirkte noch bizarrer inmitten der friedlichen Szenerie des nächtlichen Waldes mit den raunenden Wipfeln, flüsternden Wellen und melancholischen Abendliedern der Vögel.
„Meister!“ Advon war ebenfalls aufgesprungen. „Meister! Kommt zu Euch!“
Aber Yalomiro war nicht ansprechbar. Er war kreidebleich, seine Lippen verfärbten sich bläulich und bebten, doch es kam kein Laut hervor.
„Mama“, wisperte Dýamirée ängstlich, „was passiert da?“
„Ich weiß nicht! Ich habe ihn noch nie so gesehen!“
„Wir müssen etwas tun!“
Aber was? Was immer da gerade geschah, es reagierte mit Yalomiros Magie und blockte unsere ab. Das war gefährlich, unkalkulierbar, für alle Beteiligten. Er zitterte immer stärker. Es sah aus, als sei er daran, innerhalb von Augenblicken zu erfrieren.
„Wir müssen ihn da heraus holen! Etwas hält ihn gepackt!“
„Meister!“ Advon streckte seine Handfläche gegen Yalomiro aus. „Meister …“
„Advon, was hast du vor?“
„Ich … ich will etwas versuchen. Meister … vergebt mir!“
„Nein!“, brachte Dýamirée gerade noch hervor. Doch schon warf der junge Magier einen heftigen scharfen Zauber gegen Yalomiro, einen Schwall goldheißer Magie, dessen Schockwelle selbst ich spürte, als flösse Feuer durch meine Adern, obgleich ihn nicht das Ziel war. Ich schrie und warf mich zurück.
Yalomiro wurde von der Bank in die Höhe gerissen und einige Schritte weit durch die Luft geschleudert, so weit, bis die Außenwand des Etaímalon den Stoß stoppte. Er prallte mit dem Rücken gegen die weiß gekälkte Wand und landete unsanft in dem Kräuterbeet davor. Das hatte sicherlich ziemlich weh getan, aber statt eines Schmerzenslautes schnappte Yalomiro so heftig nach Luft, als hätte man ihm einen Eimer eisiges Wasser ins Gesicht geschüttet.
Offenbar hatte Advons Feuer verpuffen lassen, was auch immer eisiges Yalomiro gepackt hatte, und das auf verstörend brutale Art.
Einen Moment lang war es still im Boscargén, abgesehen vom Abendlied der Vögel.
„Du hast ihn nicht ernsthaft mit Feuermagie geschlagen?“, brachte Dýamirée schließlich hervor.
„Was hätte ich denn tun sollen?“, stammelte Advon, offensichtlich bis ins Mark entsetzt über seine eigene Tat. Im Boscargén, in Noktámas Wald Pataghíus Magie zu entfesseln, das war … nun … frevelhaft.
„Papa?“, fragte Dýamirée vorsichtig.
Er setzte sich auf und blinzelte in einer ganz absonderlichen Mischung aus Schmerz, Verwirrung und Ärger. Aber zumindest hatte sein Gesicht nun wieder seine normale Farbe. Seine gerade noch verkrampfte Hand öffnete sich. Der Würfel fiel auf den Boden und zeigte eine harmlose Drei an.
„Oh“, stotterte Advon und ließ seine Hand wieder sinken. „Das war nicht meine Absicht. Habe ich Euch verletzt, Meister?“
„Verletzt?“, stieß Yalomiro schwach hervor. „Bei den Mächten! Das reichte aus, um einen Chaosgeist zu zerschmettern!“
„Ich wollte nicht …“
„Hüte dich, Abendkind!“
„Yalomiro!“ Ich versuchte, ihn aufzuheben. „Was war das? Was ist geschehen?“
„Lasst mich. Nur einen Augenblick …“
Er griff nach mir. Seine Hände waren noch kalt, und es brauchte meine und Dýamirées Hilfe, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Einen Moment verharrte er, die Hände auf die Tischplatte gestützt und so wackelig auf den Beinen, dass ich fürchtete, er werde jeden Moment wieder umfallen. Eine Weile stand er so da, die Augen geschlossen und wie außer Atem. Dann richtete er sich würdevoll auf, zupfte einen zerknickten Thymianzweig von seinem Mantel und wankte ohne ein weiteres Wort ins Haus. Wir blickten ihm besorgt nach. Aber niemand wagte, ihm nachzulaufen.
„Das ist unheimlich“, wisperte Dýamirée schließlich und hob den Würfel zwischen den verwüsteten Kräutern auf.
„Bei Pataghíu“, raunte Advon, „Ich wollte ihm nicht weh tun. Das müsst Ihr mir glauben!“
„Du hast genau das Richtige getan. Ich habe das Gefühl, dass wir beide mit unserer Schattenmagie niemals zu ihm durchgedrungen wären. Du hast ihn aus dem Bann gerissen, indem du ihn niedergeschlagen hast.“
„Aber ich wollte ihn nur wachrütteln! Nie würde mir einfallen, den Meister anzugreifen!“
„Das ist dir gelungen!“
„Du musst es noch üben“, sagte Dýamirée sanft und tastete ihn tröstend an. „Deine Kraft zu kontrollieren, meine ich, genauso, wie deine Eltern es immer wieder sagen. Du bist … nun, einfach viel zu stark.“
Wir schauten zur Tür hinüber, und ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Schier endlose Minuten verstrichen.
Endlich kam Yalomiro aus dem Etaímalon zurück. Er ging wieder aufrecht und hatte eine hübsch mit verschnörkelten Einlegearbeiten verzierte Schatulle bei sich. Die stellte er energisch mitten auf meinem Spielfeld ab.
Advon setzte sich kleinlaut zurück auf seinen Platz. „Meister, ich wollte … es sollte keine Provokation sein. Ich wollte Euch nicht mit Heller Magie angreifen. Ich …“
„Über diese taktlose Frechheit reden wir später, Abendkind. Es gibt Wichtigeres.“
„Was ist geschehen, Yalomiro? Hat dich etwas angegriffen?“
„Ich glaube eher, mir wurde etwas an den Kopf geworfen. Bei den Mächten, ich hätte nicht gedacht, dass eine … Vision sich so anfühlt.“
Wir starrten ihn überrascht an. Visionen und Prophezeiungen waren etwas sehr Seltenes, selbst für Magier. Es war zwar vorgekommen, dass Noktáma oder Pataghíu sich Sterblichen auf diese Weise mitteilten. Nach alldem, was ich wusste, geschah das aber niemals willkürlich und ohne eine entsprechende geistige Vorbereitung, sofern man nicht im Zuge der Erkenntnis Verstand oder Leben verlieren wollte. Man musste die Mächte um Visionen bitten, und das hatte Yalomiro offenkundig nicht getan.
Er stützte sich einen Moment auf dem Kästchen ab. Offenbar suchte er nach Worten. „Ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Habt ihr jemals unabsichtlich etwas Geheimes belauscht?“
Advon und Dýamirée nickten zugleich, besannen sich und bemühten sich um Unschuldsmienen.
„Und was hast du … belauscht?“, erkundigte ich mich. „Hat es etwas mit dem Echo zu tun?“
„Welches Echo?“, fragte Dýamirée verwirrt.
Yalomiro wandte sich zum Haus um. Die Tür stand offen. Am Ende des Korridors lag der Eingang ins Heiligtum, in Noktámas Halle. Wir folgten seinem Blick.
„Vielleicht“, sagte er.
„Und was hast du gehört?“
„Ich weiß nicht. Es war viel zu viel zugleich und zu schnell, wie zehntausend Wörter mit nur einem Zungenschlag. Wir müssen es entschlüsseln, solange es in meinem Geist nachhallt. Wir müssen es … übersetzen. Lasst mich etwas versuchen.“
„Was hast du vor?“
„Bist du vertraut damit, wie Magier das Weltenspiel spielen, Abendkind? Dann erkläre es Salghiára und Dýamirée, denn von mir wissen sie es nicht.“
„Magier spielen es ohne eigenen Willen“, sagte Advon, als frage man ihn eine Lektion ab. „Und ohne eigene Strategie. Man verbindet im Namen der Mächte seine Magie mit dem Spiel und lässt geschehen, was kommt.“
„Und wer gewinnt dann?“, fragte Dýamirée.
„Niemand. Es geht nicht ums Gewinnen, sondern um Einsichten.“
„Etwa so wie Wahrsagerei mit einem Kartenspiel?“, fragte ich und erntete verwirrte Blicke.
„Wie viele seltsame Dinge es aus deiner Welt noch zu erfahren gibt“, sagte Yalomiro sanft und öffnete das Kästchen. Es enthielt die Figuren, die in dieser Welt für ein Brettspiel verwendet wurden, das sehr vage Ähnlichkeit mit Schach hatte, sah man von den verwirrenden Regeln und dem chaotischen Spielbrett ab. Yalomiro hatte versucht, mich damit vertraut zu machen, aber ich war damit überfordert gewesen. Menschen brauchten viele Jahre regelmäßiger Übung, um es zu erlernen.
„Du hast das Brett nicht mitgebracht“, sagte Dýamirée.
„Wir spielen mit Salghiáras Brett.“ Yalomiro begann, Figuren aus dem Kästchen herauszunehmen und sie willkürlich auf den Feldern zu verteilen. Gefertigt warten sie teils aus Kristall, teils aus bläulichem Achat. Als Erstes holte er die wichtigste heraus, eine etwas größere, aus Bergkristall geschnitzte Frau mit einer Krone. Andere Figuren repräsentierten weitere Gestalten mit ihren Ämtern und Aufgaben. Was sie darstellten, war zum Teil nur an sehr feinen Details zu erkennen. Es hätte einen Sämann gegeben, einen vendyr, einen maedlor [≈ Beamter], einen báchorkor [≈ Geschichtenerzähler] … und so weiter.
Advon neigte sich fasziniert vor. „Wo habt Ihr dieses Spiel hergenommen?“
„Es gehörte meinem ytra [≈ Meister]. Wieso?“
„Damit lässt sich doch das Weltenspiel nicht spielen! Schaut doch hin!“
Tatsächlich standen nun sechzehn Ritterfiguren auf dem Tisch. Yalomiro hob überrascht die Brauen.
„Zauberst du, Papa?“, fragte Dýamirée, während Yalomiro die Figuren zurechtrückte. „Machst du alle Figuren zu Rittern?“
„Ja, es scheint so. Nicht willentlich, aber es passt zusammen. Sprachen wir nicht gerade über Sinn und Zweck des vasposár, als es geschah?“
„Das wäre doch ein sonderbarer Zufall.“ Ich überlegte, ob es nicht eher Yalomiros eigenes Unterbewusstsein war, das hier das Weltenspiel nach seinem Gutdünken manipulierte. Es erschien mir absurd, dass eine Vision, oder was auch immer es gewesen war, unmittelbar auf ein beiläufiges Tischgespräch aufsetzen sollte.
Yalomiro legte die Fingerspitzen aneinander und richtete seinen silbern schimmernden Blick verwirrt auf den sonderbaren Spielaufbau vor sich. „Vielleicht waren unsere Gedanken dazu ein Stichwort, ein Auslöser, auf eine Weise, die mir nicht klar ist.“
„Und wer führt welche Figur?“, erkundigte ich mich.
„Keiner von uns spielt irgendwen. Wir bewegen sie nach unserer Intuition. Ohne nachzudenken, ohne Strategie. Keine Regeln. Nur Zufälle. Oder Schicksal, wie man es nimmt. Du hast den Würfel, mein kleiner Stern. Lasst uns Noktáma um einen Weisheit und Eingebung bitten und beginnen.“
„Ich bin mir sicher, dass Noktáma mir nichts mitzuteilen hat“, gab Advon zu bedenken. Dýamirée trat ihn sacht vors Schienbein und neigte sich über das Brett.
„Dann bitte du bei Pataghíu um Verständnis. Das geht uns alle etwas an, wenn es die Unkundigen betrifft. Wenn du schon seine Magie hier gewirkt hat, kommt es darauf nicht mehr an.“
Wir schwiegen einen Moment. Magie loszulassen, war nicht einfach, aber sogar ich hatte es mit Yalomiros geduldiger Anleitung gelernt. Es kostete ein wenig Überwindung, die Kontrolle über die eigene maghiscal abzugeben. Etwa, so, als balanciere man blind an einem Abgrund entlang, in der Hoffnung, am Grund warte ein weiches Kissen. Die Atmosphäre am Tisch wandelte sich. Hätte ich in diesem Moment ein Wort dafür gebraucht, ich hätte es für traumartig gehalten. Ja, traumartig. Die Wirklichkeit trat von uns zurück. Alles, was nun geschah, war auf eine wunderliche Weise nicht echt.
Dýamirée warf eine Fünf, griff wahllos einen der achatenen Ritter, der ihr am nächsten stand und rückte die Figur über die Mensch-ärgere-dich-nicht-Felder voran.
Dann war ich an der Reihe und würfelte eine Zwölf. Ich hinterfragte das nicht weiter und entschied mich für einen Ritter aus Kristall.
Yalomiro würfelte, eine Null, und berührte ebenfalls einen Kristallritter, ohne ihn zu verrücken. Stattdessen geschah etwas anderes. Die Figur wurde … dunkler, als verteile sich Rauch in ihrem Inneren.
„Machst du das, Advon?“, flüsterte Dýamirée. „Spielst du mit den Farben?“
„Nein! Ich habe nichts damit zu tun.“
„Interessant.“ Yalomiro neigte sich vor und betrachtete den verfärbten Ritter fasziniert.
Wir spielten, bis Noktámas Juwel am Himmel stand und sich im See spiegelte. Und mit jeder Runde, mit jeder Aktion, mit jedem Zug wurde das, was auf dem Spielfeld geschah, zunehmend unheimlicher. Es war faszinierend und schauerlich zugleich.
Unsere Magie vermengte und verselbstständigte sich. Der Würfel tat, was er wollte. Mal zeigte er absurd hohe Augen an, manchmal gar nichts, zwischenzeitlich änderte er seine Form und wurde mal zu einer Kugel, dann wieder zu dem vieleckigen Steinchen, das er ursprünglich gewesen war. Yalomiro schien das gar nicht zu bemerken. Er warf den Stein, wählte blind Figuren, und rückte sie voran. Jene, die er berührte, wurden entweder nach und nach dunkler oder verfärbten sich schlagartig in glänzendes Lackschwarz. Wenn Dýamirée, Advon oder ich am Zug waren, veränderte sich hingegen gar nichts. Dennoch führte es dazu, dass nach einer Weile eine Überzahl buchstäblich pechschwarzer Ritter auf dem Spielfeld unterwegs waren. Und die waren zweifellos darauf aus, Jagd auf zwei Figuren zu machen, die um die durchsichtige teiranda herum zogen und diese nicht erreichten, weil die dazu erforderlichen Augenzahlen nie passten. Diese beiden Figuren, beide aus Achat, hatten ihre ursprüngliche Farbe beibehalten. Es gelang ihnen immer wieder, den pechschwarzen Häschern um Haaresbreite zu entkommen. Doch am Ende waren beide umzingelt von den schwarzen Figuren und hatten keine Möglichkeit mehr, in irgendeine Richtung auszuweichen. Es sei denn …
„Einer von beiden müsste den anderen schlagen“, wisperte Advon. „Dann wäre der Weg frei.“
Kaum hatte er das ausgesprochen, gab der Würfel auf und zersprang in zahllose winzige Sandkörner. Yalomiro schreckte erneut aus seinem Dämmerzauber hoch, als tauche er atemlos aus eisigem Wasser auf.
Im selben Moment verschwand alle magische Farbe vom Spielbrett. Kristallene und achatene Ritter, Kaufleute, Bauern, Märchenerzähler und so fort standen kreuz und quer um die teiranda-Figur verteilt.
„Nun“, sagte Yalomiro, fegte die Überreste des Würfels zusammen und streute sie in den sachten Abendwind, „das lässt wenig Spiel für Interpretationen. Ich denke, die teirandanja sollte wissen, was mir … zugetragen wurde. Das vasposár ist … gefährlich.“
„Aber wir wissen nicht, wen die beiden lauteren Ritter darstellen sollen“, gab Dýamirée zu bedenken.
„Lauterkeit ist ungefährlich. Mich beunruhigen auch viel eher jene, die plötzlich ihre Wappen wechselten. Und ich frage mich warum sie es taten. Worauf dieses vasposár hinauflaufen soll.“
„Und für wen die Vision bestimmt war, wenn nicht für Euch“, erinnerte Advon und erhob sich eilig. „Ich hole rasch Farbenspiels Sattel.“
„Nein, Abendkind. Ihr beide, ihr bleibt hier bei Salghiára. Ich gehe allein.“
„Allein?“ Ich protestierte. Immer, wenn Yalomiro den Boscargén allein verließ, waren unerfreuliche Dinge geschehen.
„Es geht allein die teirandanja etwas an, von dieser Sache zu erfahren. Es ist nicht nötig, das wir uns mit mehr daran beteiligen als mir einer gut gemeinten Warnung.“
Niemand wagte, es auszusprechen. Aber wir alle dachten daran. Ich gab mir einen Ruck.
„Yalomiro – und wenn das eine Falle ist? Wenn das Widerwesen ist? Kehrt es zurück?“
„Nein. Ich denke nicht. Diesmal ist es … entsetzlicher.“
„Entsetzlicher als das Widerwesen?“, fragte Dýamirée. „Wie soll das denn sein?“
Er schaute uns an, seine Augen nun wieder hell von dem geisterhaften Silberschimmer.
„Diesmal, mein kleiner Stern, werden es Menschen sein.“