** Kurzer Autorinnenhinweis wegen verwirrender Views-Statistik: Diese und die vorangegangene Veröffentlichung waren, entgegen der Gewohnheit, Doppel-Uploads (Kapitelteilung wegen Überlänge). Bitte prüft, ob ihr vorangegangenes Kapitel gesehen habt, sonst fehlt euch später Kontext. LG :-) **
Venghiár Emberbey starrte fassungslos in die Nacht. Der unheimliche Mann auf dem Rappen an seiner Seite lächelte mit unverhohlener Belustigung. Die Burg Emberbey lag nur Steinwürfe vor ihnen, der Schattenriss mit dem hohen Turm war im Mondschein vor der Weite des Meeres unverkennbar. Am Torhäuschen flackerte eine Fackel vor sich hin, und das Meer brandete gegen die Klippen. Venghiár hatte keine Ahnung, wie das zu sich ging. Er war dem Fremden gehorsam hinterher geritten, bis hinein in einen Wald am Rand des yarlmálon Altabete. Dort hatte Nebel zwischen den Bäumen gehangen, ein seltsamer, grauer Dunst, der den Ritter mehr an Rauch erinnerte als an Feuchte. Vielleicht eine Köhlerhütte in der Nähe? Venghiár war das verdächtig vorgekommen, aber hatte befürchtet, seinen Begleiter aus den Augen zu verlieren und keine Lust, dass das blöde Pferd ihm erneut seinen Dienst verweigern könnte. Also war er weiter getrabt, ohne etwas zu hinterfragen, und als der Dunstschleier sich lichtete, waren sie plötzlich hier ausgekommen, auf den Wiesen vor der Burg. In einiger Entfernung hatte sich eine Schafherde für die Nacht zu einem einzigen, wolligen Leib zusammengerottet. Als sie daran vorbei ritten, sprangen ihnen die wachsamen Hütehunde entgegen, aber zu Venghiárs Überraschung bellten oder knurrten sie nicht. Ganz im Gegenteil. Die Tiere kamen heran, schienen es sich urplötzlich anders zu überlegen, kniffen ihre Schwänze ein und eilten zurück zu den Hirten, die an einem herab brennenden Feuerchen tief und fest schliefen. Der schwarz gekleidete Mann kümmerte sich nicht darum.
„Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, wisperte der Ritter.
„Ich habe Euch gesagt, dass es nicht lange dauert“, antwortete der andere. Seine einnehmende, dunkle Samtstimme klang amüsiert.
„Das muss ein Traum sein! Oder Zauberei!“
„Möglicherweise.“
Venghiár Emberbey zuckte zusammen.
Der Mann lachte. „Nun tut nicht so, als käme Euch meine Kunst nun völlig ungelegen angesichts dessen, was Ihr in Eurem Herzen plant.“
„Was könnt Ihr wissen, was in meinem Herzen vorgeht?“
„Ach, ich habe so viele Herzen gelesen in all der Zeit. Die Botschaft in dem Euren steht in flammenden Lettern vor meinen Augen. Euren verhassten Weitvetter haben ganz offenkundig die Mächte vor Euch beschützt. Nun, ein fähiger yarl sollte sich nie auf eine einzige Strategie verlassen. So vollzieht nun einfach das andere Vorhaben, den Ersatzplan.“
„Aber …“
„Ich habe Euch hergebracht. Der Rest ist Eure Sache.“
Der junge Mann runzelte misstrauisch die Stirn. Der Schwarzmantel wusste eindeutig zu viel und mehr, als er wissen konnte. Vorsicht war angeraten. „Ich wäre Euch dankbar, müsste ich mich nicht zunächst fragen, was für einen Preis Ihr dafür nachfordert.“
„Das Misstrauen ist denen von Emberbey wohl in die Wiege gelegt. Aber solange wir hier nach dem Preis verhandeln, verstreichen wertvolle Momente. Also, trabt los. Ich komme wohl nach. Verhandeln und uns einig werden können wir später. Ich habe derweil zu tun.“
„Wie meint Ihr das?“
„Ich habe eine Verabredung.“
Venghiár Emberbey warf seinem unheimlichen Begleiter einen skeptischen Blick zu. Dann galoppierte er an. Das Pferd folgte wieder seinem Willen, zumindest das war ein Fortschritt.
Die Torwachen, beide eingemummelt in dicke Wollmäntel, hatten nachlässig beieinandergestanden und miteinander geplaudert. Den jungen Herrn, der sich im Galopp näherte, als wären ihm Chaosgeister auf den Fersen, erkannten sie natürlich und nahmen hastig Haltung an.
„Macht das Tor zu“, befahl Venghiár Emberbey ihnen und schwang sich aus dem Sattel, kaum dass er auf dem Hof war. „Sofort! Und egal, wer Einlass begehrt – dieses Tor hat unter allen Umständen geschlossen zu bleiben.“
„Werdet Ihr verfolgt, Herr?“, fragte der Jüngere, der, den er sich aus Rodekliv hergeholt hatte.
„Stellt keine dummen Fragen. Ich habe meine Gründe.“
Er ließ das Pferd stehen und lief hinüber zum Wohnhaus. In der Küche werkelte noch jemand herum. Auch im Saal waren zahlreiche Personen anwesend. Wer zu dieser Tageszeit noch Licht benötigte, hatte sich hier im Schein von Kaminfeuer und Öllampen versammelt. Während nahe am warmen Feuer einige Knechte Karten spielten oder kleine Reparaturen an ihrem Kram vornahmen, hatte Raýnetas opayra die Aufsicht über ein eine Schar Mägde, die fleißig an einem schimmernden Stoff nähten. Wahrscheinlich ein Kleid für die kleine Kröte, denn das vasposár war nicht mehr allzu lange dahin. Aber das interessierte den jungen Ritter nicht.
„Herr Venghiár?“, fragte die opayra verwirrt, als er so unversehens in der Halle stand, „was ist geschehen? Seid Ihr vorzeitig zurückgekehrt? Wir haben euch frühestens in einem Achtelmond erwartet!“
„Es war schneller erledigt als gedacht“, gab er barsch zur Antwort. „Ist das Kind zu Bett?“
„Schon lange“, gab die Dame zur Antwort. „ach, es war nicht einfach heute mit der Kleinen.“
„Wieso?“
„Sie war leichtsinnig und störrisch. Sie erzählte fortwährend von einem báchorkor, der in der Burg sei und Märchen erzählen wollte. Sie habe ihn zu Herrn Alsgör geführt. Aber da war niemand. Und wir haben keinen gefunden.“
Venghiár war schon fast ohne weiteres Zuhören an ihr vorbeigegangen, zögerte dann aber doch.
„Ein Fremder? Bei meinem Großonkel?“
„Seid unbesorgt, Herr. Wir haben sofort nach dem Rechten geschaut. Es ist alles in Ordnung.“
Venghiár Emberbey stellten sich die Nackenhaare auf. Hatte er seinen Wachleuten nicht unter Androhung empfindlicher Strafe eingebläut, dass während seiner Abwesenheit niemand die Burg betreten sollte?
Nun, vielleicht spann die kleine Kröte sich etwas zusammen und erzählte ihrerseits Geschichten, um die opayra zum Narren zu halten. Vielleicht war ihr allzu langweilig, so allein den ganzen Tag, ohne andere Kinder zur Gesellschaft.
„Da seid ihr ganz sicher?“
„Ja, Herr Venghiár“, sagte eines der Mädchen arglos. „Sicher ist der junge Mann längst wieder fortgegangen. Herr Alsgör schläft doch fast den ganzen Tag.“
„Wie bitte?“
„Na, da ist es für einen báchorkor doch sinnlos, einem Schlafenden eine Geschichte-“
„Woher weißt du, dass es ein junger Mann war? Hat ihn jemand gesehen?“
„Ja, die yarlaranda hat ihn selbst eingelassen, und …“
Venghiár schnellte heftig vor und schlug mit der Faust auf den schimmernden Stoff. Eine der Mägde erschrak so sehr, dass sie sich die Nähnadel tief ins Fleisch stieß.
Die Frauen erstarrten verstört, als der junge Ritter sich so bedrohlich vor ihnen aufbaute. Auch alles Burgvolk, das um den Kamin versammelt war, schaute nun bestürzt zu ihm hin. Venghiár Emberbeys Jähzorn hatten sie alle schon einmal für weit geringere Verfehlungen zu spüren bekommen, in letzter Zeit immer öfter. Der Ritter schien immer gereizter zu werden, je weiter die Zeit voranschritt.
„Ihr habt also einen Eindringling in die Burg gelassen? Zugelassen, dass er vor meinen Großonkel tritt?“
„Herr!“ Einer der Männer am Feuer erhob sich zögerlich. „Ich hatte früher am Tag meine Wache. Wir haben den Fahrenden abweisen wollen, wie Ihr befohlen habt, aber die yarlandara hat darauf bestanden.“
Wenn es tatsächlich Raýneta selbst gewesen war, die einen dreckigen Streuner hineingebeten hatte und es dafür Zeugen gab, konnte er den Männern keinen Vorwurf machen. Die Entscheidungen der kleinen Kröte waren Gesetz, solange er abwesend war. Schließlich war er nur der Herrschaftsverwahrer und sie ärgerlicherweise die Tochter des yarl.
„Herr“, sagte die opayra beschwichtigend, „ein harmloser Fahrender, der sicher nicht mehr im Sinn hatte als ein Stückchen Brot zu erbetteln.“
„Und?“, fragte Venghiár so ruhig, dass die Mädchen sich weiterhin nicht zu regen wagten. Vom Finger der einen tropfte Blut auf den kostbaren Stoff. „Hat wenigstens jemand gesehen, wie der Kerl die Burg auch wieder verlassen hat?“ Er drehte sich zu dem Gesinde am Feuer um. „Irgendjemand?“
Das war nicht der Fall. Wie der Ritter dem Gemurmel der Leute entnahm, hatten zwar einige beobachtet, wie ein unscheinbarer, schmächtiger Mann in Begleitung von Raýneta in die Burg hineingegangen war. Danach war der vermeintliche Geschichtenerzähler aber wohl von der Bildfläche verschwunden.
Venghiár Emberbey dachte nach. In kopflose Geschäftigkeit zu verfallen, das führte zu nichts. Auch musste ein Fremdling in der Burg nicht gleich Gefahr bedeuten. Raýneta würde er für ihre Frechheit bestrafen, das war klar. Aber vielleicht handelte es sich bei dem báchorkor wirklich nur um einen Zufall, um einen heimatlosen Streuner, der in der Burg Schutz vor der kalten Herbstnacht gesucht hatte.
Trotzdem: Es lag nicht im Interesse von Venghiár Emberbey, dass dahergelaufene Strolche den alten Burgherrn womöglich mit Nachrichten und Gerüchten beunruhigten, die sie im Osten aufgeschnappt hatten. Schon gar nicht in diesen heiklen Tagen. Zumal es üblich war, dass báchorkoray an neuen Orten zunächst mit der höchstrangigen Person redeten und Neuigkeiten aussprachen, bevor sie Herrschaft und Pöbel mit Geschichten unterhielten.
Doch ob neue Kunde oder Kurzweil: Angenommen, er hatte tatsächlich versucht, den alten Mann mit einer Geschichte zu unterhalten und der war darüber eingeschlafen. Dann wäre es naheliegend, dass der Kerl sich noch in der Burg befand, selbst wenn niemand ihn mehr gesehen hatte. Vielleicht hatte er sich aus Küche unbemerkt etwas zu essen gestohlen und versteckte sich nun, um ein Dach über dem Kopf zu haben, während draußen die Kälte vom Meer heran wallte.
„Wo ist mein Großonkel? In seinem Gemach, nehme ich an?“
Nun war die opayra verwirrt. „Wo sollte er sonst sein, Herr?“
„Ich will, dass ihr diesen geheimnisvollen báchorkor findet. Was sitzt ihr hier herum? Sucht die ganze Burg ab, vom Dach bis in den Keller! Bringt ihn mir. Ich will hören, was für eine Geschichte er mir erzählt!“
„Herr, es ist finster, und …“
„Dafür dürft ihr Licht nehmen!“ Venghiár scheuchte die Mägde am Tisch auf. „Los, los! Ich will das hier schnell beendet sehen!“ Er riss zornig das halb genähte Kleidchen vom Tisch, knüllte es in seiner Hand zusammen und machte sich auf den Weg zum Gemach des Burgherren. Eilig, aber ohne zu rennen, erklomm der junge Ritter die Stufen in dem nur sparsam durch mit billigem Öl gefüllten Lichtern erhelltem Stiegenhaus, nahm zwei Stufen auf einmal.
Das Gemach des alten yarl war nicht verschlossen. Aber als Venghiár die Tür aufstieß, war es darin nur spärlich beleuchtet. Die Diener, die zuletzt nach dem Burgherrn geschaut hatten, hatten ein sparsames, nun fast ausgebranntes Feuer im Kamin entfacht. Es stank nach kalter Knollensuppe und altem Mann.
„Großonkel?“
Der junge Mann horchte. Aber es war nichts zu hören außer dem Knistern der Glut. Kein Ächzen, kein Stöhnen, kein Schnarchen des Greises. Venghiár nahm eines der Nachtlichter von der Wand im Flur und näherte sich dem Bett.
Das hagere Gesicht des Alten, das seine Untergebenen hinter vorgehaltener Hand so oft mit dem eines Raubvogels verglichen, hatte nie zuvor so sanft, so milde und friedlich ausgesehen. Nun, da er endlich, endlich hinter den Träumen war.
Was für ein Zufall! Wenn die Kammerknechte am Abend noch nach ihm gesehen hatten und offenbar sogar noch geschafft hatten, ihm seine Suppe zu geben, dann konnte Alsgör Emberbey noch nicht lange tot sein.
„Na, alter Mann“, sagte der junge Mann und stellte die Laterne auf dem Bettpfosten ab, „hat dieser báchorkor dich etwa zu Tode gelangweilt mit seinen Märchen?“ Venghiár warf das Kleidchen achtlos zu Boden und tastete nach der Hand des Toten. Tatsächlich. Sie war noch ein klein wenig warm. Offenbar war Alsgör Emberbey hinter die Träume gegangen, kurz bevor er selbst die Burg erreicht hatte.
Zerstreut murmelte der junge Mann den Totengruß und schaute sich dann im Gemach um. Viel zu sehen gab es hier nicht, auch keinen Hinweis darauf, dass der Märchenerzähler sich kürzlich hier aufgehalten hätte. Das Schwert des alten Mannes lag ordentlich auf seinem Gestell. Mehr gab es dort nicht. Nicht mehr. Venghiár bemerkte das und war mit einem Schlag um ein Vielfaches alarmierter als zuvor.
Sicherheitshalber untersuchte der Ritter hektisch, aber ohne zu viel Unordnung zu machen, Truhen und Kistchen. Ohne Erfolg. Die Amtskette, die Alsgör Emberbey als mynstir des teirandon Spagor ausgezeichnet hatte, sein höchstes Gut neben seinem alten Schwert – die war fort.
Ein schnöder Diebstahl bei unverhoffter Gelegenheit? Konnte es jemand vom Gesinde gewesen sein? Venghiár klappte die letzte Truhe zu und ließ sich darauf nieder. Nur die Ruhe bewahren, nur nachdenken. Nein. Unwahrscheinlich. Cró oder Ungro, ja, die beiden wären so dämlich, nach so einem Geschmeide zu greifen, obwohl es in der Stube des Großonkels weit wertvollere Dinge gegeben hätte, Münzen und Edelsteine, die er als Erbe für die Töchter hütete. Ein Gelegenheitsdieb mit einem kleinen bisschen Verstand würde davon nehmen und die Finger von Insignien der Herrschaft lassen. Kein Hehler im ganzen Weltenspiel würde es wagen, eine Amtskette zu kaufen. Das Risiko lohnte nicht einmal für den Materialwert, denn allzu kostbar war das Gold nicht.
Báchorkoray waren zwar zweifelhafte Habenichtse, in aller Regel jedoch recht gewitzt. Kein fahrender Gauner würde etwas an sich nehmen, was ihm nichts nütze war und die eigentlichen Wertsachen liegen lassen. Es musste also etwas anderes dahinter stecken.
Der junge Mann dachte fieberhaft nach. Die Amtskette … in kurzer Frist hätte der Großonkel sie weitergegeben. Den weiten, beschwerlichen Weg nach Wijdlant hätte er dafür auf sich genommen, nur um diese letzte, wichtige und ehrenvolle Zeremonie zu vollziehen, vor den Augen der teiranday und ihrer hochedlen Gäste. Alsgör Emberbey hätte das Amtsgeschmeide seinem leiblichen Sohn angelegt und hätte anschließend in Frieden aus dem Weltenspiel scheiden können.
Wie schade, dass es so weit nicht kommen würde. Nicht, solange er, Venghiár Emberbey, es vereiteln konnte. Wer immer sich hier einmischte – weit würde er damit nicht kommen. Venghiár Emberbey vermochte zwar nur mit einiger Sicherheit zu sagen, wer den báchorkor garantiert nicht als Dieb vorgeschickt hatte. Es gab genügend andere Parteien, denen er ein Interesse an der Störung der Amtsübergabe zutraute, doch letztlich war es egal. Doch das, was geschehen war, Zufall oder finsterer Plan eines Dritten – ihn selbst brachte der Vorfall um einen gewaltigen Schritt nach vorn.
Der junge Ritter erhob sich. Fast war er dem geheimnisvollen Schwarzgewandeten dankbar für die glückliche Fügung. Aber nun durfte er nicht weiter zögern. Venghiár beugte sich über den friedlichen Leichnam seines greisen Großonkels und zog sein Messer.
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Achtung: Wegen Überlänge geteiltes Kapitel, es folgt die zweite Hälfte!