Gerade zur rechten Zeit hatte Venghiár Emberbey hingeschaut, aufmerksam geworden durch das Geschrei der Leute. Wie gut meinten es die Mächte mit ihm, dass er just an einem Fenster gestanden hatte! Dem Fenster der Stube seiner kindlichen Weitbase, von dem aus der Blick in einem nahezu idealen Winkel auf das Geschehen im Hof fiel. Welche Vorsehung, dass er noch dazu genau das rechte Werkzeug in Händen hielt! Konnten Noktáma und Pataghíu ihm denn deutlicher zu verstehen geben, dass sie mit ihm waren und den großen Plan unterstützten?
Schade nur, dass der Pfeil, der für Raýneta gedacht gewesen war, nun an den mysteriösen Vagabunden verschwendet war. Nun, Raýneta, dieses ungezogene Gör, hatte sich ohnehin nicht dort aufgehalten, wo sie hätte sein sollen, nämlich brav und still in ihrem Bett. So einfach hätte er das widerliche Balg mit einem gezielten Schuss, vielleicht noch im Schlaf erlegt und dann mit dem Dolch die Wunde verwischt, so wie beim eld-yarl. All das still und diskret, während das tumbe Burgvolk nach dem báchorkor suchte, der wohl zur Unzeit am verkehrten Ort aufgetaucht war. Oder steckte doch mehr dahinter? Wie war der Kerl auf die Idee gekommen, ausgerechnet das Kind als Geisel zu nehmen? Wie hatte er sie überhaupt in dem ihm fremden, verwinkelten Gebäude gefunden?
So konfus, so verwirrend sich die Sache darstellte, Venghiár war zuversichtlich, dass ihm all das zupass kommen würde. Man würde stolz auf ihn sein. Ruhm und Ehre würde er erfahren, wenn es erst vollbracht war!
Osse Emberbey, der künftige Herr des yarlmálon an der Steilküste, der Burg hoch auf den Klippen über der Bucht, der wäre kein Hindernis, wenn der Moment kam. Das war einer, den niemals jemand erst nehmen würde, der wusste, wie ein Schwert zu führen war. Oder ein Spieß. Oder ein simpler Bogen wie der in seiner Hand, einer, mit dem man im Wald nach Rehen schoss. In Rodekliv hatten sie viel Wert darauf gelegt, dass er den Umgang damit erlernte.
Wie meisterhaft er zielen konnte, hatte Venghiár Emberbey bereits in seinem ersten Winter bewiesen, den er auf der Burg seines Großonkels verbracht hatte. Sechs oder sieben Monde, nachdem man ihn nach Westen geschickt hatte. Wie stolz war seine Mutter gewesen! Ergreife die Gelegenheit, hatte sie ihm gesagt, fordernd, fast befehlend. Ein bestimmender, keinen Widerspruch duldender Ton, den er eher von den Anleitern im Lernhaus gewohnt war. Unsere Zeit ist nahe, hatte sie gesagt, und dann hatten die yarlay ihn sehen wollen, ihn, einen Knaben von dreizehn Sommern. Was für eine Ehre! Was für eine Chance! Was für eine Berufung!
Osse Emberbey, der ein wenig jünger war als er selbst und in Virhavét mit Söhnen der vendyray zu einer Schule ging, hatte Venghiár schon bei ihrer ersten Begegnung gleichermaßen entsetzt wie belustigt. So unbeholfen, verweichlicht und sanft war der Weitvetter, ganz anders als die gleichaltrigen Knaben in Rodekliv, die mit ihm in dem Lernhaus waren. Albern anzusehen war der yarlandor, mit den kunstvoll mit Silberdraht eingefassten Glasscheiben vor den Augen, missgestaltet mit der hängenden Schulter, die weder die doayra [≈ Heilerin] mit ihren geschickten Händen noch ein erprobter Knochenrücker aus Spagor wieder hatten richten können.
Osse Emberbey, das hatte Venghiár auf den ersten Blick begriffen, war lächerlich, einer, über den sich die anderen Ritter und seine eigenen Waffenknechte mehr oder weniger offen mokieren würden. Verglichen mit den anderen angehenden Ritter oder auch nur den furchtlosen Kämpfern aus den Lernhäusern von Rodekliv und Ferocrivé war Osse allenfalls ein Scherz, den die Mächte sich erlaubt hatten.
Doch dass die Mächte seinen Weitvetter zu so einer Jammergestalt gemacht hatten, bedeutete nicht, dass er nicht gefährlich werden konnte. Venghiár wusste, dass es andere Schlachtfelder gab als jene, auf denen die Krieger mit Eisen und Blut kämpften.
Osse Emberbey mochte ein Krüppel sein, aber einer, vor dem mynstiray und maedloray [≈ Beamten], vielleicht sogar der neue konsej [≈ Stadtrat] von Aurópéa, in Acht nehmen würden. Venghiár hatte bei einer Gelegenheit belauscht, wie Herr Alsgör mit wohlverborgenem Stolz, aber nicht ohne die Wahrheit zu schmälern, yarl Grootplen von den ausgezeichneten Zeugnissen berichtete, die die kenntnisreichen Herren und Damen in Virhavét seinem Weitvetter ausstellten.
Grootplen war damals mit seinem Knappen, dem Sohn von yarl Althopian zu Gast gewesen, während auch Osse zufällig einige Tage daheim verbrachte. Damals war das gelegentlich vorgekommen, denn Virhavét lag nur wenige Tagesritte entfernt von Emberbey. Merrit Althopian und Osse waren während dieser Tage unzertrennlich gewesen.
Venghiár hatte nicht so recht verstanden, was der schneeblonde Knabe mit den verstörend blauen Augen an seinem lächerlichen Weitvetter fand. Merrit war behände, zäh und drahtig, einer, an dem die Anleiter in Rodekliv Gefallen gefunden hätten. Von eben diesem Jungen hieß es, er würde früher oder später sicherlich der erste unter den yarlay der teirandanja sein. Das interessierte auch Venghiár. In Rodekliv lernte man schnell, nützliche von erbärmlichen Menschen zu unterscheiden. Eine Freundschaft, nun ja … zumindest eine Kumpanei würde hilfreich sein, später. Aber Venghiár hatte schnell erkennen müssen, dass es wenig brachte, um Merrit Althopians Aufmerksamkeit zu werben, solange Osse anwesend war.
Einmal hatte er die beiden auf dem Turm entdeckt, wo die schlecht gewartete, uralte Maschine stand. Damit hatte einst, während der Chaoskriege, der ruhmreiche Thorgar Emberbey sein yarlmálon verteidigt, bevor es von der Seeseite vom Heer der teiranday von Spagor überrannt werden konnte. Was für ein Kerl, was für ein Kriegsheld dieser Herr Thorgar gewesen sein mochte! Venghiár sagte das laut, um sich ins Gespräch einzubringen, denn die zwei Jungen schienen lediglich hier heraufgeklettert zu sein, um die weite Aussicht über die Bucht und das graugrüne, winterliche Meer zu bestaunen und miteinander zu schwatzen.
„Es sind eine Menge Leute dabei hinter die Träume gegangen“, sagte Osse.
„Was war geschehen?“, wollte Merrit wissen.
„Mein Ahnherr hat Dornbeerenöl ins Wasser schütten lassen, fässerweise zähes Doornbeerenöl. Als die Schiffe aus Spagor in die Bucht eingefahren sind, hat er ein Brandgeschoss auf das Hauptschiff geworfen, hier mit der Maschine. Mit einem Schuss vor den Bug hat er es versenkt. Das Wasser soll tagelang gebrannt und gekocht haben.“
Venghiár hatte versucht, sich die brennende Bucht vorzustellen. Was musste das für ein Spektakel gewesen sein! Vom Meisterschuss des Herrn Thorgar in den Chaoskriegen waren eine Menge Geschichten und Lieder im Umlauf. Sogar in Rodekliv und Ferocrivé erkannte man diese Leistung mit Hochachtung an.
„Ob meine Vorfahren auch so etwas Verheerendes getan haben?“, hatte Merrit gefragt. In seinem rätselhaft hellen Blick hatte etwas gelegen, das Venghiár nicht beschreiben konnte.
„Ich denke, Herr Thorgar hatte einfach keine andere Wahl. Es hat das bestimmt nicht getan, weil er all die Leute umbringen wollte.“
„Aber das waren seine Feinde!“, hatte Venghiár gesagt. „Er hat sie mit einer List in den Hinterhalt gelockt und besiegt.“
„Ich denke nicht, dass er auch nur mit einem der Soldaten aus Spagor persönlich bekannt war.“
„Ich für meinen Teil“, hatte Merrit gesagt und mit ehrfürchtiger Neugier die Maschine untersucht, „will niemals etwas tun, was so viel Leid und Unheil bringt.“
„Und wenn deine teirandanja es dir befiehlt?“ Venghiár war gespannt gewesen, was er darauf antworten würde.
„Wird sie nicht. Manjév von Wijdlant und Spagor wird nie etwas Furchtbares von uns verlangen.“ Auf seine teirandanja ließ Merrit nicht auch nur im Hauch Verwerfliches kommen. Das hatte Venghiár schnell verstanden und fragte sich, wie ein solches Weib einmal ernsthaft über ein so großes teirandon herrschen sollte.
„Und wenn doch wieder ein Krieg kommt?“
„Das mögen die Mächte verhüten, wenn die mynstiray es nicht vollbringen“, hatte Osse gesagt. „Kommt, lasst uns hinein gehen. Es ist kalt hier oben.“
Venghiár hatte sich über die beiden gewundert. In Rodekliv wurde unentwegt von Kampf und Krieg und Ehre und Ruhm geredet. Jeder Junge brannte darauf, einst in den Sieg zu ziehen, den man ihnen versprochen hatte. Seit seinem fünften Sommer hatte Venghiár sich alle Mühe gegeben, es unter seinen Gefährten im Lernhaus zu Respekt und Stärke zu bringen. Mit respektablem Erfolg, denn unter den anderen jungen Kämpfern blickten zwischenzeitlich mehr zu ihm auf als auf ihn herab. Ganz besonders, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass der yarl persönlich Interesse an ihm zeigte.
Ein paar Tage darauf hatte Venghiár beobachtet, wie Merrit Althopian sich draußen vor der Burg im Bogenschießen versuchte. Das gehörte zu seiner Ausbildung zum Ritter, und so mühte er sich damit ab, eine Zielscheibe aus geflochtenem Stroh zu treffen, die sie in einiger Entfernung aufgestellt hatten.
Venghiár hatte sich das eine Weile verblüfft angeschaut. Es hieß, Merrit Althopian zeige ein nahezu unfassbares Talent mit dem Schwert und allem anderen, was ihm in die Hände fiel. Doch für Fernwaffen, das stellte Venghiár verblüfft fest, schien es ihm tatsächlich an Geschick zu mangeln. Zwar traf er die Scheibe, aber nie auch nur annähernd das Schwarze. Osse Emberbey stand neben ihm und gab ihm geduldig Ratschläge über das richtige Zielen und Schießen, die er irgendeinem gelehrten Buch entnommen haben mochte, denn selbst hatte er sicherlich nie einen Bogen in Händen gehalten. Ob der Weitvetter aus dieser Entfernung sehen konnte, ob der andere, der richtige Junge, das Ziel überhaupt traf, bezweifelte Venghiár.
Das war Venghiárs Gelegenheit, bei Merrit Eindruck zu schinden. Vielleicht wäre der fremde Rittersohn dankbar für eine Lektion von einem Könner.
„Lass mich mal versuchen“, hatte er gesagt und Merrit hatte ihm den Bogen bereitwillig überlassen. Einen Pfeil, zwei und den dritten setzte er lässig ins Ziel und genoss den staunenden Blick des Rittersohnes. Fast bildete er sich ein, dass etwas Bewunderung dabei war. Beim vierten blickte er auf, riss die Waffe hoch und holte eine der Sturmmöwen vom Himmel, die kreischend um den Turm flogen. Ein Meisterschuss, mitten durchs Herz. Die übrigen Vögel stoben kreischend davon, aufs offene Meer zu.
„So macht man das“, hatte Venghiár gesagt. „Soll ich dir zeigen, wie man es richtig anstellt? Zielscheiben sind doch für Wiegenkinder.“
Doch die Reaktion der beiden anderen Knaben war anders als erwartet.
„Bei den Mächten, was machst du da?“, hatte Osse bestürzt ausgerufen und das leblose weiße Federtier aufgehoben.
„Wie bitte?“
„Das war gemein! Man darf Tiere nicht mutwillig töten. Nur um Schaden abzuwenden oder zur Speise!“
Venghiár war verwirrt. „Aber es war doch nur ein dummer Vogel!“
„Wenn dich ein Wildwolf oder Waldbär anfällt, dann darfst du dich verteidigen. Oder wenn man das Fleisch braucht und ein Wild oder Vieh erlegt. Aber nicht einfach so“, hatte Osse so geduldig erklärt, als nähme er an, Venghiár sei zu dumm, um zu verstehen. „Die Mächte haben die Tiere nicht ins Weltenspiel gegeben, damit Menschen sie sinnlos kaputtmachen.“
„Vielleicht hat er ja Hunger?“, hatte Merrit boshaft überlegt. „Vielleicht will er Möwenfleisch zum Abendessen?“
„Seid ihr närrisch? Kein Mensch isst Möwenfleisch!“
„Wir haben gesehen, dass der Vogel dich nicht angegriffen hat. Wenn Du sie nicht den Mächten ungefällig abgeschossen hast, dann musst du sie jetzt essen.“
„Dann lass uns den Vogel in die Küche bringen“, hatte Osse mit erschreckendem Ernst zugestimmt. „Vielleicht gibt es ein Gewürz dazu, das den Geschmack etwas verfeinert.“
Da waren sie sich also einig, die beiden. Venghiár hatte eine heiße Wut gespürt. Nicht lodernd und tosend wie das todbringende Feuer des Herren Thorgar. Eher versengend wie rot glühende Kohle. Wortlos hatte er Osse das leblose Federvieh aus der Hand und den Pfeil herausgerissen und war eilig davongelaufen, die steile, in den Felsen gehauene Treppe zur Bucht hinab. Nicht, dass die beiden noch auf die Idee kamen, das Federvieh wirklich der Köchin zu übergeben. Auf dem Weg dorthin hatte er den Vogel die Klippe hinab geworfen. Als er den Strand erreicht hatte, taten sich bereits einige Krähen daran gütlich.
Wie wohl hätte der Alte, der, der noch die Herrschaft über das yarlmálon hatte, auf seine Tat reagiert? Wäre er stolz gewesen auf die Fertigkeiten, auf den Funken, auf die Spur von Blut des Herrn Thorgar, der in Venghiárs Andern pulsieren mochte? Oder hätte er ihn um das Leben des unnützen Vogels getadelt und streng zugesehen, wenn man ihm das Fleisch auf einem kostbaren Teller servierte?
„Haltet sie auf!“, rief Venghiár Emberbey durch das Fenster seinen Schutzbefohlenen zu.
Dann packte er den Bogen und rannte die Treppe hinab, zurück auf den Hof.
Weit kommen würde der báchorkor nicht.
Im selben Moment krachte das Tor zu.
***
Die eld-yarlara von Grootplen hatte zwei Kammern für die jungen Männer bereiten lassen, beide mit frischen Strohmatratzen, sauberen Tüchern und Decken und einem Waschgeschirr nebst erlesener Seife. Osse Emberbey genoss den Komfort. Seit er Ivaál verlassen hatte, hatte er mit den nicht immer so einwandfreien Betten in den Herbergen vorliebnehmen müssen, mehrere Male auch einfach mit dem blanken Erdboden, immer dann nämlich, wenn etwas den Reisezug so aufgehalten hatte, das die Etappe nicht zu schaffen gewesen war. Mehrfach war dies das unberechenbare Pferd des Kaufmanns gewesen, das Merrit bei dem Überfall im Wald offensichtlich so gut gefallen hatte.
Er war versucht, dem Freund von diesem Pferd zu erzählen, von den Dingen, die er in all der Zeit gesehen, den Orten, die er besucht hatte. Doch dafür wäre später noch genug Gelegenheit. Und so hatte er Merrit nur die wichtigsten Neuigkeiten von seiner Tante und betagten Großmutter in dem fernen yarlmálon erzählt und sich im Gegenzug berichten lassen, wie es um den alten yarl, seinen Vater stand, und wie sich Venghiár, der Weitvetter als Statthalter derer von Emberbey machte.
„Ich mag Venghiár nicht“, hatte Merrit unverblümt gesagt. „Etwas in mir sträubt sich gegen ihn.“
„Das ist nichts Neues.“
„Aber ich weiß gar nicht zu sagen, woran es liegt. Immer, wenn er in Wijdlant ist oder ich in Emberbey vorbeischaue, ist er artig zu den Damen, höflich zu und respektvoll zu den Schutzbefohlenen. In Emberbey ist offensichtlich alles gut organisiert und den Leuten in den Dörfern geht es gut. Und er ist ein wirklich respektabler Kämpfer.“
„Wenn meinem Vater zu Ohren käme, dass Venghiár sich ungebührlich benimmt oder als Schutzherr versagt, würde er es ihm streng tadeln.“
„Mögen die Mächte noch lange geben, dass dein Vater ein Auge darauf hat.“
Osse seufzte. „Merrit, mein Vater ist ein sehr, sehr alter Mann. Mögen die Mächte ihn in Frieden hinter die Träume gehen lassen.“
„Trotzdem wird es gut sein, wenn du dich baldmöglichst nach Emberbey begibst und dir selbst ein Bild von der Sache machst. Wahrscheinlich erkennst du mehr dabei als wir anderen, die nur Zuschauer sind, denen man etwas vorspielt.“
Osse wandte sich dem Freund zu. Merrit stand an der Waschschüssel, verrieb zwischen den Händen etwas Seife zu Schaum und säuberte sich. Osse hatte sich bereits ein Nachthemd übergestreift und war unter die warme Decke gekrochen, denn es gab hier im Raum kein wärmendes Feuer. Licht spendete eine Laterne, in der eine von Dornbeeröl gespeiste Flamme vor sich hin flackerte. Schmuck und ansehnlich war Merrit in den vergangenen Sommern geworden. Osse überlegte zerstreut, ob wohl andere fánjulaé an dem gut aussehenden jungen Ritter Gefallen fanden, wenn doch die teiranda seine Gedichte fortwarf. Eine rätselhafte Herzlosigkeit, die er der Dame gar nicht zugetraut hätte. Er würde dringend mit Truda und Tíjnje darüber reden müssen, um zu erfahren, was es damit auf sich hatte.
„Wie meinst du das?“
„Ich kann es nicht recht in Worte fassen. Er macht seine Sache recht gut. Zumindest laufen die Dinge in der Burg und der Dorfwirtschaft sauber, ohne dass jemandem Klagen zu Ohren gekommen wären. Unfähig und dumm ist er nicht, dein Weitvetter, bei den Mächten, das ganz gewiss nicht.“ Merrit griff nach einem nassen Lappen und wusch sich die Seife vom Gesicht und Körper. „Andererseits … ich habe kein gutes Gefühl. Immer wenn ich ihm begegne, bilde ich mir ein, er sagt und zeigt nicht alles, was andere wissen sollten.“
„Vielleicht bist du zu misstrauisch? Nur weil er aus Rodekliv gekommen ist?“
„Manjév und die anderen denken ähnlich. Sogar Truda wird nicht recht mit ihm warm.“ Er zögerte. „Weißt du nicht etwas von Raýneta? Die Kleine ist doch ständig um ihn.“
„Sie ist ein Kind, Merrit. Ihre Briefe sind sehr schlicht, und sie wird wenig von dem erfahren, wie Venghiár seinen Dienst versieht. Aber ich werde mich darum kümmern.“
„Ich hoffe sehr, dass wir alle uns einfach irren und von Vorurteilen geblendet sind.“
„In Rodekliv gibt es nicht nur Lumpenkerle. Und wir sind alle älter und reifer geworden. Sicher schießt Venghiár längst nicht mehr aus Langeweile Vögel ab.“
„Mögen die Mächte dir deinen Sanftmut anrechnen.“ Merrit lächelte ernst und streifte sich sein Nachthemd über. „Jedenfalls wird es gut sein, wenn du zu deinem Vater zurückkehrst und dir die Dinge aus der Nähe betrachtest.“
„Sobald das vasposár vorbei ist, werde ich mich darum kümmern.“
Merrit antwortete nichts darauf. Er löschte die Laterne und schlüpfte unter seine Decke.
„Bist du aufgeregt wegen des vasposár?“
„Bist du aufgeregt, dein Amt anzutreten?“
„Natürlich. Aber ich habe zuerst gefragt.“
„Ich habe noch nicht die Gelegenheit gehabt, mir die anderen … Mitbewerber genauer anzuschauen. Und was ich von den báchorkoray über deren Ruhm und Verdienste gehört habe … du weißt ja, was von diesem Geschwätz zu halten ist. Báchorkoray erzählen viel, solange sie entlohnt werden. Wenn es danach ginge, dann wäre der yarl aus Ycelia groß wie zwei Männer aufeinander und kämpft mit einem Baumstamm anstelle einer Lanze.“
„Die teirandanja ist nicht verpflichtet, den Sieger zu wählen.“
„Und wenn sie es doch tut? Wenn ihr die Mächte … wenn ein anderer ihr Herz gewinnt?“
„Wenn dem so wäre … was tätest du?“
„Ich weiß nicht. Darüber will ich mir keine Gedanken machen, bevor es unausweichlich ist.“
„Willst du, dass ich mit ihr … rede?“
„Du?“
Osse schaute in die Schwärze. Er glaube, Merrits helles Haar schwach in der Finsternis zu erkennen. „Ich habe meine Zunge über all die Zeit ebenso geübt wie du dein Waffenwerk. Vielleicht kann ich sie beraten?“
„Beraten?“
„Überzeugen?“
Der junge Ritter lachte bitter. „Wenn mein Herz, meine Hingabe sie nicht überzeugen konnte, wieso sollte deine Zunge es besser machen?“
„Du hast recht. Was verstehe ich schon von dem, was in deiner Seele vorgehen mag, wenn du an sie denkst?“
Merrit schwieg einen Augenblick. Osse hatte gehofft, Merrit werde ihm etwas mehr erzählen und ihn in seine Gefühle einweihen. „Was ist mit dir?“, fragte er stattdessen. „Ist dir in all der Zeit keine hýardora begegnet, von der du mir erzählen magst?“
„Nein. Keine einzige.“
„Was? Du warst viele Sommer lang in Ivaál, umgeben von den anmutigsten und edelsten fánjulaé des Weltenspieles. Und da war keine dabei, die auch nur dein Interesse geweckt hat?“
Jetzt war es an Osse, zu lachen. „Ich war umgeben von weisen ehrwürdigen Damen und Herren, ihren Büchern, Lehren und Wissen. Da war kein Interesse mehr übrig für fánjulaé.“
„Nicht einmal unter meinen Basen und deren Freundinnen?“
„In Ivaál gibt es eine Menge gefälliger junger Burschen, Merrit. Wer würde da schon ausgerechnet nach mir schauen?“
Der junge Ritter lachte auf. „Nicht zu fassen. Für fánjulaé hat er keine Augen, aber schmucke Junker fallen ihm auf. Vielleicht ist es unser beider Schicksal, allein zu bleiben. Könnte doch sein, oder?“
„Ich glaube nicht, dass die Mächte dir das Glück vorenthalten werden.“
Nun seufzte Merrit Althopian.
„Wenn wir übermorgen in Wijdlant ankommen“, sagte er, „muss ich dir unbedingt etwas zeigen.“
„Etwas für das vasposár?“
„Ja.“
„Dann kann es nur dein neues Eisenzeug sein.“
„Nein.“
„Ein neues Schwert?“
„Nein. Gar nichts Neues. Etwas recht altes. Etwas sehr wertvolles.“
„Dann“, scherzte Osse, „hast du einen Schatz gefunden.“
Einen Moment musste er auf eine Antwort warten. „Ja“, sagte Merrit Althopian dann. „Einen Schatz. Ich glaube, das könnte das richtige Wort sein.“
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Autorinnenkommentar: Reminder - "Scherbenlied" geht während der Belletristica-Auszeit auf Wattpad weiter: https://www.wattpad.com/story/391205368-scherbenlied-oder-die-suche-nach-dem-b%C3%B6sen