Evie
Das Klicken des Haustürschlosses ertönt und ich trete in den Hausflur hinein. Mein ganzer Körper kribbelt schon, seit ich das Schulgebäude verlassen habe, vor Aufregung und ich konnte gar nicht schnell genug zu Hause sein. Beinahe bin ich auf dem Weg nach Hause über die Londoner Straßen gesprintet, was im Nachhinein meiner Meinung nach echt genug Sport für die ganze Woche war, aber schon jetzt ist mir klar, dass meine Mom mich trotzdem dazu verdonnern wird mit ihr joggen zu gehen. Schließlich weiß sie selbst wie wichtig ein starkes Immunsystem und ein fitter Körper für Mitglieder unserer Spezies sind, denn mindestens einmal ist jede Hexe dank mangelnder Kraft nach der Nutzung ihrer Kräfte aus den Sohlen gekippt.
"Ich bin zu Hause", brülle ich durch den Flur und stelle meine Schultasche auf das Schuhregal, um meine Jacke und meine Stiefel auszuziehen. Lieber werfe ich meine Tasche in keine Ecke irgendwo im Haus, da ich später immer zu faul bin sie wieder aufzuheben und das führt dann sowieso nur zu Streit mit meiner Mutter.
Als Keiner antwortet, laufe ich in die Küche, wo jedoch auch Keiner zu sehen ist: "Leute? Ist irgendwer da?" Erneut bekomme ich keine Antwort. Auch im Wohnzimmer ist niemand. Geräuschvoll stapfe ich die Treppe hinauf und bekomme abrupt ertönt die sanfte Stimme meiner Mutter aus dem Bad: "Ich bin im Bad und sortiere Wäsche. Willst du helfen?" Sofort höre ich auf zu rufen und verschwinde aus dem Sichtfeld meiner Mutter, damit sie mich nicht wirklich dazu verdonnert unsere Kleidung nach Farben zu sortieren. Ohne noch weiter zu antworten, schleiche ich auf Zehenspitzen in mein Zimmer und schließe schnell die Tür hinter mir. Das Augenrollen meiner Mutter kann ich mir schon bildlich vorstellen, verteidige mich aber gedanklich damit, dass es Zeit ist sich auf den Vollmond vorzubereiten. Schließlich packen sich meine Sachen ja auch nicht von allein.
"Evie?", eine leise, vorsichtige Stimme dringt von rechts an meine Ohren. Ich fahre zu meinem Bett herum, wo die Töne herstammen müssen. Dort, mitten auf meinem Bett, sitzt meine kleine Schwester Annabelle, die zwangsläufig eher einige Stunden vor mir nach Hause zurückgekehrt sein muss. Mein erschrockener Blick muss ihr wohl gezeigt haben, dass sie mich auf dem falschen Fuß erwischt hab: "Sorry, dass ich mich einfach in dein Zimmer geschlichen habe. Ich wollte dich echt nicht erschrecken."
Grinsend winke ich ab und stoße mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte: "Nicht schlimm, ich geh schließlich auch oft ungefragt in dein Zimmer." Ein schüchternes Lächeln schleicht sich auf ihre rosafarbenen Lippen und sie beginnt mit den Fingern in ihren orange-roten Locken herumzuspielen. "Irgendwas willst du dich, oder", fordere ich auf dem Weg zu meinem Schreibtisch. Interessiert lasse ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und stütze meinen Kopf erwartungsvoll in die Hände.
"Ich wollte dich frage ..., ob du ...", immer wieder unterbricht sie sich selbst, was mich fast verrückt macht. "Raus mit der Sprache, Ana", dränge ich ein wenig. Es platzt beinahe so aus ihr heraus, als wäre es etwas, was sie schon lange zurückgehalten hat: "Du hast schon so lange nicht mehr mit mir meine Kräfte trainiert und ich wollte dich fragen, ob du mir zur Wiedergutmachung heute nach mit nimmst. Du weißt, dass es dann für mich mit dem Training leichter werden würde." Ihr bettelnder Blick lässt mich den Kopf schief legen und das Gesicht verziehen, weil es so echt schwer ist ihr etwas abzuschlagen, aber ich habe schon so oft mit meiner Mutter über das Thema geredet und wir haben abgemacht es ihr noch nicht zu erlauben. Schließlich hat meine Mutter mir gesagt, dass ich Anas Alter meine Kräfte auch noch nicht trainiert habe, sondern erst mit vierzehn Jahren angefangen habe. Der Körper eines Kindes könnte durch zu hartes Training nämlich beträchtlichen Schaden nehmen und das Risiko wollen meine Eltern glücklicherweise nicht eingehen. Das Schlimmste, was einer Hexe nämlich erwarten kann, wenn sie sich überanstrengt, ist der Tod. "Darüber haben wir doch schon geredet, Ana. Wenn du älter bist, nehme ich dich gerne mit, aber jetzt ... geht es einfach noch nicht", erkläre ich ohne ihr die Gefahren, die sie erwarten könnten, mitzuteilen, da ich ihr keine Angst vor ihren eigenen Kräften machen will. "Warum?", ihre leise Stimme klingt beharrlich. Ratlos beiße ich mir auf die Lippe und weiche ihrer Frage ungeschickt aus: "Rede darüber bitte mit, Mom. Sie kann es dir viel besser erklären als dich." "Du kannst mir das aber viel besser erklären." "Nein, kann ich nicht. An einem anderen Tag kann ich gerne mit dir üben, aber mit nehmen kann ich dich nicht und jetzt lass mich bitte meine Sachen packen", es tut mir innerlich zwar weh sie so abwimmeln zu müssen, doch ich kann ihrem Drängen eben nicht nachgeben, egal welches Argument sie bringen mag. "Morgen?", fragt sie beharrlich weiter. Ohne zu überlegen, stimme ich einfach zu: "Ja, und jetzt raus oder ich trag dich raus." Da sie es hasst wie ein kleines Kind rumgetragen zu werden, erhebt sie sich zufrieden von meinem weichen Bett und verlässt mein Zimmer eher semizufrieden, doch da lässt sich nichts machen.
Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hat, entflieht meiner Kehle ein verzweifeltes Stöhnen. Die Diskussion gerade hat mir echt die Vorfreude auf den Vollmond genommen. Warum müssen kleine Geschwister immer so viel diskutieren?