Evie
Die, bereits etwas in die Jahre gekommene, Frau führt mich durch so viele Gänge, dass ich mich langsam zu fragen beginne, ob hier Magie im Spiel ist. Wahrscheinlich würde ich den Ausgang nie wieder finden, wenn Addison mich nicht durchs Haus lotsen würde.
Letztendlich bleiben wir allerdings vor einer Doppeltür aus dunklem Holz stehen. “Evie?“, sie mustert mich: “Bist du bereit noch mehr aus der Vergangenheit zu erfahren?“ Ich öffne den Mund, um ihm zu antworten, doch irgendwie kommen keine Worte heraus. Fast so, als wäre ich plötzlich stumm geworden. Deshalb nicke ich einfach nur wortlos und sehe die ältere Frau teils erwartungsvoll und, teils ängstlich an. Bin ich wirklich bereit noch mehr über mich selbst zu erfahren?
Das ist alles so viel auf einmal. Plötzlich habe ich entfernte Cousinen, Großeltern, sowie noch weitere Verwandte, mit denen ich noch nie in Berührung gekommen bin. Und meine neue Oma will mir jetzt auf einmal noch mehr erzählen, was mir noch verschleiert ist.
Auf meine zögerliche Zustimmung hin öffnet Addison die Tür. Mir eröffnet sich der Blick auf einen Raum voll mit Regalen. Mit einer Handbewegung bedeutet meine Großmutter einzutreten. Zögerlich folge ich ihrer Aufforderung und trete ein. Nun fällt es mir leicht zu erkennen, dass sich in den Regalen unzählige Bücher befinden. Zwar kann ich nur die Buchrücken erkennen, doch trotzdem ist zu erkennen, dass einige von ihnen ziemlich alt zu sein scheinen.
“I-Ist das eine Bibliothek?“, frage ich ein wenig verunsichert. “So ist es. Schon seit Generationen sammelt diese Familie Bücher und irgendwann hat der Platz nicht mehr gereicht, weshalb sich unsere Vorfahren entschieden haben, diesen Raum zu erbauen“, sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln: “Viele dieser Dokumente sind sogar Erstausgaben.“ “Wow“, ist das Einzige, was ich dazu antworten kann. Ich bin einfach viel zu fasziniert von den hölzernen Regalen, die bis zur Decke reichen. Interessiert versuche ich einige der Titel zu lesen, doch aus der Entfernung gestaltet sich das leider relativ schwer.
Addison scheint mein Interesse zu bemerkt haben: “Du kannst dich ruhig kurz umsehen.“ “Echt?“, frage ich und versuche herauszufinden, ob es nur ein Scherz war. Diese Frau wird mir echt immer sympathischer. “Natürlich, das, was ich dir zu sagen habe, läuft ja nicht weg, wenn ich ein wenig damit warte“, sie lächelt mir aufmunternd zu: “Schließlich wurde schon sechzehn Jahre mit der Wahrheit gewartet. Da können ein Paar weitere Minuten auch nicht schaden.“
Erst glaube ich nicht, dass sie das gerade gesagt hat, doch dann wende ich mich den Regalen zu. Sie bilden im Raum ein regelrechtes Labyrinth und verwehren mir so den Blick durch die komplette Bibliothek. Die Bücher sind so unterschiedlich, dass man sich gar nicht satt sehen kann.
Für einige Minuten wandere ich durch den Raum und schaue mich um, bevor ich zu der rothaarigen Frau zurückkehre. Diese hat unentwegt ein freudiges Lächeln auf den Lippen. Diese kleine Geste gibt mir erneut ein familiäres Gefühl und ich beginne mich zu fragen, warum meine Mutter mich nicht vorher der Familie vorgestellt hat. Das hätte mir vielleicht bei so vielem in meinem Leben geholfen. Vielleicht hätte ich einfach mal eine erfahrene Oma gebraucht, die mir erklärt, wie sie das Leben in der Menschen- und Hexenwelt gemeistert hat.
“Es ist so klasse hier“, kommentiere ich, als ich mich zu ihr geselle. “Schön, dass es dir gefällt. Wenn du das möchtest, kannst du jederzeit gerne wieder herkommen“, schlägt sie mir vor: “Schließlich gehörst du nun auch zur Familie und dadurch ist das hier auch sowas wie dein Erbe.“ Immer wieder zu hören, dass ich nun zu einer komplett neuen Familie gehöre, ist zwar irritierend und immer noch ziemlich komisch, aber irgendwie fühlt es sich gut an. Zwar hatte ich früher keine sonderlich gute Meinung von den Hollingsworths und den Blakemores, doch jetzt, wo ich die Blakemores genauer kennengelernt habe, kann sich meine Meinung vielleicht ändern. Von den Hollingsworths werde ich aber wahrscheinlich immer schlecht denken. “Aber jetzt komm am besten mit“, sie macht sich auf den Weg durch den Raum. Ich folge ihr.
Vor einer Wand bleiben wir gemeinsam stehen. Dort hängt ein bunter Stofffetzen. Ich schaue genauer hin und erkenne, dass es ein Teppich ist. “Warum hängt ein Teppich an der Wand?“, frage ich skeptisch, während meine rechte Augenbraue in die Höhe wandert. “Schau genau hin“, bittet sie mich und tippt auf eine bestimmte Stelle. Ich starre auf den Fleck, den sie mir zeigt, verstehe aber immer noch nicht, was damit sein soll: “Ich verstehe immer noch nicht, was das sein soll. Ich sehe weiterhin nur einen viereckigen Teppich.
“Das ist der aufgestickte Stammbaum unserer Familie“, sie deutet auf einen anderen Punkt, der sich im unteren Drittel des Stoffteils befindet: “Hier bin zum Beispiel ich.“ Es gibt einen Stammbaum der Familie? Verwundert von dieser Erkenntnis bücke ich mich leicht, um genau hinschauen zu können. Tatsächlich steht dort ‘Addison Blakemore‘. “Wo bin ich?“, frage ich mit einem gemischten Gefühl im Bauch. Es ist schon komisch zu wissen, dass jeder hier gewusst zu haben scheint, dass ich existiere, während ich keine Ahnung hatte, dass ich eigentlich ‘Evie Grey-Blakemore‘ heißen müsste. Plötzlich komme ich mir ziemlich belogen vor. “Du bist genau …“, sie fährt mit dem Finger an einem bestimmten Zweig hinunter und bleibt dann an einer Stelle stehen: “… hier.“
Tatsächlich steht dort mein Name, doch das ‘Grey‘ in meinem Nachnamen fehlt. Stattdessen ist nur ein ‘Evie Blakemore‘ zu finden. Fast so, als würde mein Vater gar nicht existieren.
Ich folge den Zweigen weiter und finde sofort den Namen ‘Annabelle Grey-Blakemore‘. Warum steht bei ihr auch der Nachname meines Vaters. Das sorgt in meinem Hirn für einen Gedankenstopp. Warum scheint es hier so, als wären wir gar nicht komplett verwandt, sondern nur halb. Deshalb suche ich nach meiner Mom, die dort als ‘Scarlett Blakemore‘ betitelt wird, doch mein Dad ist nicht zu finden. Stattdessen ist dort, wo sein Name stehen könnte, nur leere Fläche. Allerdings befindet sich rechts davon ein schwarzer Fleck, der aussieht, als hätte jemand den Namen, der vorher dort stand, verbrannt. Von dort aus geht eine Verbindung zu meinem eigenen Namen. “Wer war dort?“, frage ich einfach unverblümt nach.
Sofort nehme ich wahr wie Addison nervös schluckt, bevor sie mir tief in die Augen sieht und mir dann die Hände auf die Schultern legt: “Darüber wollte ich mit dir reden, Evie!“