Evie
Gerade will ich mir einen weiteren Löffel voller Kartoffelpüree in den Mund schieben, da läutet es an der Tür. Verwundert hebe ich den Kopf und bewege mich so auf meinem Stuhl hin und her, dass ich die Tür perfekt beobachten kann. Wer kann das um diese Zeit noch sein? Schließlich essen die meisten Familien um diese Zeit ebenfalls zu Abend. "Wer kann das nur sein?", spricht mein Vater nun das aus, was ich denke. "Ich geh eben nachschauen", meine Mutter ist bereits dabei ihren Stuhl nach hinten zu schieben, da steht mein Vater selbst auf. "Schon gut, Schatz", er schenkt ihr ein warmherziges Lächeln und gibt ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn: "Bleib sitzen und iss einfach mit den Kindern weiter. Dauert sicher nicht lange."
Auch meine Mutter lächelt, doch die Freude, die sich auf ihren Lippen zeigt, ist nicht, wie sonst immer, in ihren Augen zu sehen: "Ach, Schatz. Das kann ich doch auch machen." "Nein, keine Widerrede", widerspricht mein Vater und schlendert zur Tür herüber.
Die plötzliche Versteifung meiner Mutter scheine allerdings nur ich zu bemerken. Meine Schwester schaufelt stattdessen einfach weiter Püree in sich hinein. Auch ich versuche weiter zu essen und mir nichts anmerken zu lassen. Trotzdem folge ich meinem Vater mit meinen Blicken interessiert.
Das Klicken des Schlosses dringt an meine Ohren, als Dad die Tür öffnet. "Äh ... guten Tag?", erst klingt er unsicher, doch dann wird seine Stimme fester: "Ach du bist es." Zu meinem Leidwesen kann ich keinen Blick auf die Unbekannte erhaschen, sondern nur ihre weiche, weibliche Stimme vernehmen. Aus seiner letzten Äußerung schließe ich, dass mein Vater die Besucherin zu kennen scheinen.
"Ist Scarlett da?", fragt die Frau in einem interessierten und durchaus freundlichen Ton weiter. Bei der Erwähnung ihres Namens, hebt meine Mutter den Kopf. Innerhalb weniger Sekunden hat sich ihr Gesichtsausdruck von angespannt zu freudig verändert. Zu meiner Verwunderung verlässt nun auch sie den Tisch und läuft durch den Flur zur Tür. "Ja, ich bin da", den Blick meiner Mutter kann ich nicht sehen, aber an der Umarmung, die die beiden Frauen austauschen, erkenne ich, dass sie wohl engere Vertraute zu sein scheinen.
"Annabelle?", flüstere ich ihr zu: "Ich geh mal schauen werde da ist, okay?" Die Angesprochene zuckt nur mit den Schultern und ist weiter. Zwar hätte ich gerne eine Antwort bekommen, aber eine nonverbale Reaktion ist immer noch besser als eine Diskussion mit ihr.
Ich schiebe meinen Stuhl knarrend zurück und mache mich auf den Weg zum Rest der Familie. Je näher ich komme, desto besser wird mein Blick auf die Frau, die just in diesem Moment mit meinen Eltern plaudert.
Das dunkelbraune Haar, das dieselbe Farbe wie ihre freundlichen Augen hat, fällt ihr in seichten Locken lang über die Schultern. Ihr Alter kann ich zwar nur schwer einschätzen, aber sie dürfte etwa so alt wie meine Mutter sein. Die Brünette ist dunkle Sachen gekleidet, macht allerdings keinen zwielichtigen Eindruck. Stattdessen wirkt sie sympathisch und auch mysteriös zugleich.
Anas roter Haarschopf schiebt sich in mein Sichtfeld. War ja klar, dass sie nicht alleine am Esstisch sitzen bleibt! Schließlich hätte ich das an ihrer Stelle auch nicht gemacht.
"Mom? Dad?", frage ich und sehe zwischen den beiden hin und her, die sich nun wieder ihren Kindern zu wenden: "Warum flüstert ihr?" Der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter vor wenigen Sekunden, hat es so wirken lassen, als hätte sie den Besuch bereits erwartet. "Tun wir doch gar nicht", gibt mein Vater zurück und wendet sich nun uns beiden wieder zu, während meine Mutter weiter mit der Fremden redet. "Doch tut ihr", widerspreche ich und verschränke die Arme vor der Brust.
"Evie", nun dreht meine Mutter sich wieder zu mir und lächelt mich freudig an: "Das ist eine alte Freundin der Familie." "Eine alte Freundin? Warum habe ich denn noch nie etwas von ihr gehört?", prüfe ich nach. Anstatt meine Frage zu beantworten, blickt mich die Frau nur an. Fast wirkt es so, als würde sie mich durchleuchten und gleichzeitig sich versuchen jeden Millimeter meines Körpers einzuprägen.
"Du bist also Evie", ein liebevolles, fast familiäres Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen, während ihr Gesicht weiche Züge annimmt: "Wie groß du geworden bist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben." Ich will fragen, was sie meint und woher sie mich kennt, doch Mom sieht die Frau, die mir nun gegenüber steht, entschuldigend an: "Es tut mir leid, dass ihr euch noch nicht eher begegnet seid." "Schon gut", die Unbekannte nimmt Moms Hände in ihre Eigenen: "Ich kann deine Gründe doch verstehen. Schließlich gab es keinen anderen Weg und das hier war doch sowieso meine Idee."
"Mom, wer ist das?", frage ich dieses Mal mit Nachdruck und sehe die Erwachsenen mit festem Blick an. "Stimmt", sie lacht leicht: "Ich habe mich ja noch gar nicht vorstellt. Tut mir leid." Erwartungsvoll blicke ich sie an. "Ich bin Molly Gilbert und war schon vor deiner Geburt mit Scarlett befreundet", erklärt sie mir: "Seitdem hat sich viel geändert."