Auch an die Reithalle erinnerte Sakura sich noch gut. Es war ein dünnwandiges Gebäude, und der Wind pfiff durch unzählige Löcher in dem Wellblech, dass die Halle von Außen abzuschirmen versuchte. Gleichzeitig schaffte dieser große Raum es, staubig, dunkel und trocken zu sein. Sakura fröstelte leicht, aber sie folgte Amelie und Kyle bereitwillig ins Innere. Sie ging jetzt alleine, die Zügel locker über den Sattel geworfen, denn Kyle musste Amelie mit dem geräderten Metallding helfen. Warum ihre Reiterin nicht einfach aus diesem Ding aufstand, dass da mit beiden Rädern im Sand stecken blieb, war Sakura ein Rätsel.
Während Sakura geduldig neben ihrer Reiterin wartete, ging Kyle fort. Amelie aber streckte einen Arm aus und streichelte Sakura. Es war fast wie früher, aber Sakura konnte die Unsicherheit ihrer Reiterin spüren. So war sie sonst nur gewesen, wenn eine schwierige Prüfung bevor stand. In gewisser Weise war dies auch eine Prüfung für Amelie, denn sie musste wieder reiten lernen. Sakura war fest entschlossen, alles für ihre Reiterin zu tun. Aber auch sie war unsicher, denn die Erinnerung an den Unfall lauerte stetig hinter ihr wie ein besonders bösartiger Schatten, bereit, sie zu erschrecken und all die Mühe, die Kyle sich gab, zunichte zu machen.
Als Kyle wiederkehrte, trug er eine kleine Leiter neben sich.
„Kannst du dich hinstellen?“, fragte er Amelie, die nur stumm den Kopf schüttelte.
„Gut“, sagte Kyle und klappte die Leiter neben Sakura auf. Dann hob er Amelie aus dem Metallding, genau wie beim letzten Mal, als wäre Amelie plötzlich jünger geworden. Kyle setzte Sakuras Reiterin auf der Leiter ab und schob dann das Metallding an den Rand der Halle. Stute und Reiterin sahen ihm dabei zu, beide angespannt und ungewöhnlich ruhig.
Kyle kam wieder und half Amelie in Sakuras Sattel. Die Stute musste wieder alle Hufe in den Boden stemmen, denn Amelie stieg auf wie ein Sack Kartoffeln. Schließlich saß das Mädchen zitternd, unsicher und unglücklich um Sattel und Sakura spürte jede Regung in ihrer Reiterin überdeutlich, umso stärker, da sie endlich ihren alten Sattel trug: Der machte ihr nur noch deutlicher, wie sehr sich doch alles verändert hatte.
Noch ehe die Angst wirklich aufsteigen konnte, hatte Kyle die Leiter beiseite geschafft und sich hinter Amelie auf Sakuras Rücken geschwungen. Er saß nun hinter dem Sattel, aber Sakura konnte fühlen, wie Kyle Amelie neue Stabilität gab, wie seine Ruhe die Nervösität des Mädchens einfach schluckte.
Kyle hielt Amelie fest und nahm gleichzeitig die Zügel auf. Dann trieb er Sakura in einen langsamen Schritt.
Sie machte ein paar vorsichtige Schritte. Das doppelte Gewicht war ungewohnt, und Amelie saß so unsicher, dass Sakura um ihrer beider Gleichgewicht fürchtete. Doch Kyle war da, und mit jedem Schritt dirigierte er Amelie und Sakura mehr zu einer Position, die beiden half. Er brachte Rhythmus in die unsicheren Schritte von Sakura, und er richtete Amelie auf, verstärkte ihren Rücken und zeigte ihr wieder, wie man im Sattel zu sitzen hätte.
Zuerst waren diese Veränderungen minimal, unmerklich. Sakura fürchtete sich, weil Amelie unsicher saß, und Amelie fürchtete sich, weil Sakuras Schritte so unsicher waren. Es war ein Teufelskreis, denn ihre Furcht würde sich gegenseitig verstärken, der instabile Sitz würde Sakura aus dem Tritt bringen, und das wiederum würde Amelie in sich zusammensinken lassen.
Kyle steuerte dieser Entwicklung dagegen, stoisch und gekonnt. Langsam, dann immer schneller, gewöhnten sich Stute und Mädchen an das Neue.
Denn neu war, dass Amelies Beine hilflos neben den Steigbügeln flatterten, als wären es zwei eigenständige Wesen. Sakura versuchte, die seltsamen Signale zu deuten, die sie von Amelie erhielt, doch die Füße ergaben keinen Sinn, und schließlich beschloss sie, auf Kyle zu hören – nicht mit reinem Gewissen, denn Amelie war ihre Reiterin, nicht Kyle.
Sie ritten Runde um Runde. Kyle ließ Sakura nicht schneller werden, obwohl sie gerne einen Trab versucht hätte. Das Gewicht der beiden war überhaupt nicht so schlimm, und Amelie schien ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen.
Doch dann schlug Amelies Haltung jäh um. Sakura bemerkte überrascht, wie die Sicherheit aus Amelie heraus lief wie Wasser aus einem leckenden Trog.
„Ich werde nie wieder alleine reiten können, nicht wahr?“, fragte Amelie.
Sakura hielt entsetzt an, noch bevor Kyle die Zügel anzog. Sie würde Amelie nie wieder für sich alleine haben? Wie konnte ihre Reiterin etwas so gemeines sagen?
Amelie klang selbst traurig.
„Doch“, sagte Kyle. „Ich glaube, ich habe bereits einen Weg gefunden, wie du wieder alleine reiten kannst.“
Amelie glaubte Kyle nicht, das spürte Sakura durch den Sattel hindurch, und obwohl Amelies Beine überhaupt nichts mehr verrieten, so sagte es doch ihr Geruch.
„Vertrau mir“, sagte Kyle, der vielleicht selbst die Sinne eines Pferdes besaß, so gut, wie er Amelies Befinden verstand. „Vertrauen, zu mir und zu deinem Pferd, ist jetzt das Wichtigste. Es wird euch enger zusammenschweißen als jedes andere Band. Und zusammen könnt ihr es schaffen.“
Da war Amelies Hand plötzlich in Sakuras Mähne und kraulte sie.
„Ich … ich denke, ich vertraue dir, Sakura. Oder ich werde es eines Tages tun.“