Dieses nächste Ereignis würde Sakura auch viele Jahre später nicht wirklich verstehen. Sie verstand nur, wozu es letztendlich führen würde, doch wie es dazu gekommen war, blieb ihr ein Rätsel.
Es war ein schwüler Tag, der Sommer kündigte sich an allen Fronten an. Die Luft war heiß und trocken, die Halle voller Staub, das Grün draußen verlockend und kräftig.
Wie jeden Tag war auch Kyle da, und er ritt auch Echo. Es war nur wenige Tage nach ihrem letzten Ausritt, aber die Natur war mit plötzlicher Kraft erblüht, einem geborstenen Damm nicht unähnlich.
Sakura wollte nichts sehnlicher, als hinaus auf die Wiesen, die frischen Triebe kosten, die heiße Sonne im Fell spüren. Und auch Echo wirkte nicht eben erbaut darüber, in der düsteren, staubigen Halle sein zu müssen. Das falbe Pony bockte und kämpfte, bis Kyle sich mehr auf sein Reittier konzentrierte als auf Sakura und Amelie.
Und gerade da kam ein neues Pferd in den Stall, ein pechschwarzer Araberhengst, die Augen stahlgrau und ebenso kalt und hart. An seiner Seite – ein wenig vor dem Pferd – ging die Reiterin, die wie ein Spiegelbild ihres Pferdes wirkte, als habe man einem Pferd die Vorderbeine zu Armen gemacht, die Mähne gestutzt und den Schweif geschnitten, die Hufe in jene beweglichen Finger verwandelt, die sanft und hart sein konnten, als habe man dem Hengst Rocket Kleidung angezogen und eine Menschenstimme verliehen.
Das war Viktoria. Und so, wie Sakura sich versteifte, als ihr Rockets Geruch in den Nüstern wehte, so verkrampfte sich auch Amelie beim Anblick von Viktoria.
Sofort war aus dem lockeren Reiten unter Freunden etwas anderes geworden, ein stummer Wettkampf, ein Taxieren und Beobachten, ein Bewerten der Anderen und seiner selbst.
Viktorias Ehrgeiz schwappte in die Halle wie ein übler Gestank. Ihr Pferd, dass sich mit jedem Tier messen wollte, zwang auch die anderen, die es nicht einmal wollten, zu dem Versuch, ihn zu übertrumpfen.
Der Unterschied zwischen Viktoria und Amelie war nur eines: Der Selbstzweifel. Viktoria besaß nichts davon. Nie im Leben hatte sie etwas schlimmeres als einen milden Rückschlag erlitten. Amelie dagegen war schon unter den besten Umständen nicht sicher im Sattel – wenn sie begann, sich mit einer anderen zu vergleichen, da schrumpfte ihr Selbstbewusstsein, wie eine Pfütze auf einem heißen Stein schrumpfen würde.
Viktoria ignorierte Amelie auf den ersten Runden. Sie ließ Rocket durch die Halle traben, und saß korrekt und aufrecht im Sattel. Sakura beobachtete das Menschenmädchen heimlich. Sie ritt wie im Lehrbuch. Keine überflüssige Bewegung, kein Fehler, kein Kontrollverlust. Und kein Kontakt zum Pferd, der nicht nötig war, um zu reiten. Rocket lief unter Viktorias Befehl, lauschte auf sie und gab sich für jeden Schritt Mühe. Aber Sakura sah nichts von dem Wechselspiel zwischen Pferd und Reiter, das sie bei Kyle und Echo beobachten konnte.
Kyle war unterdessen in die Mitte der Halle geritten und trieb den bockigen Echo zum Slalom. Amelie ritt weiter über den Hufschlag, aber ihr Blick folgte Viktoria, nicht mehr Sakuras Ohren.
Als Rocket sie zum dritten Mal überholte, parierte Viktoria ihn durch und ließ den stolzen Hengst neben Sakura laufen. Sie schielte zu ihm herüber, aber Rocket sah starr geradeaus, offenbar mehr um die Haltung seines Halses bemüht als damit, sich mit einer Apfelschimmel-Stute abzugeben.
„Amelie, Liebes, kannst du mir vielleicht einen Gefallen tun?“, fragte Viktoria. „Ich muss für das Rennen trainieren. Wenn du nur ein wenig mehr in der Mitte der Halle reiten könntest – oder mach vielleicht einen Ausritt. Es tut mir leid, aber hier bist du mir nur im Weg.“
Viktorias Stimme klang freundlich, aber Sakura hörte einen Unterton, der sie an eine Schlange erinnerte. Sie bekam Lust, Viktoria zu beißen, als sie mit einem Mal spürte, wie Amelie zusammen zuckte. Etwas an Viktorias Worten hatte ihre Reiterin tief getroffen.
Als Amelie antwortete, zitterte ihre Stimme kaum. „Ach, Viktoria! Erst einmal freut es mich, dich zu sehen. Ich würde ja liebend gerne gehen, aber siehst du, Sakura und ich müssen ebenfalls trainieren.“
Amelie machte eine besorgte, geschäftige Stimme, aber auch sie besaß den Unterton einer Viper. Sakura schüttelte es, dass ihre Reiterin so zu etwas fähig war. „Wir machen bei dem Rennen auch mit“, sagte Amelie mit einem harten Unterton. Jetzt war ihre Stimme offen feindlich, die Schlange daraus verschwunden.
„Oh. Wirklich?“, machte Viktoria nur, es hatte ihr die von den Menschen so hoch geschätzte Sprache verschlagen.
Sakura schnaubte. Sie nahmen am Rennen teil? Das war eine Neuigkeit! Wieso hatte sie nichts davon gewusst? Und überhaupt, sie wollte kein Rennen laufen!
„Ja, wirklich“, sagte Amelie, dann schnalzte sie mit den Zügeln und Sakura fiel folgsam in den Trab.
Sie ließen Viktoria zurück und Sakura trabte, vollkommen verwirrt.
„Verdammter Mist!“, fluchte Amelie, als sie um die halbe Halle waren und Viktoria sie nicht mehr hören konnte. „Verdammter, verfluchter Mist!“