Einen Tag, nachdem der neue Sattel angekommen war, musste Amelie ihn alleine auf Sakura Rücken bringen, während Kyle nur zusah. Und dann, einen weiteren Tag später, kam Amelie morgens alleine in Sakuras Stall.
„Ist Kyle noch nicht da?“, fragte sie, während sie ihr Metallding vor Sakuras Box rollte.
Sakura schüttelte verneinend die Mähne.
Nachdem Amelie ein paar Minuten gewartet hatte, gab sie sich sichtlich einen Ruck und begann mit der üblichen Routine vor dem Reiten.
„Ich hoffe, ihm ist nichts passiert“, murmelte sie, während sie Sakura striegelte. „Er hat gestern noch gesagt, dass heute die nächste Lektion beginnen würde – dass der uns nie eine Pause gönnt, was, Sakura?“
Da konnte Sakura nur zustimmen: Das Training war wirklich sehr anstrengend, und sie hoffte auch, dass es Kyle gut ging.
Amelie konnte Sakura satteln und zäumen, nachdem sie es gestern erst mit Kyle probiert hatte. Sie führte Sakura in die Halle und sah sich unsicher um. Sakura konnte nur raten, dass Amelie auf Kyles Anwesenheit hoffte, denn ohne ihn aufzusteigen traute sie sich vielleicht nicht zu.
Sakura wartete geduldig. Inzwischen hatte sie verstanden, dass Amelie sich genauso ängstlich fühlte wie auch ihre Stute.
Dann entschied sich Amelie offenbar dafür, gesattelte Pferde auch zu reiten: Sie lotste Sakura zum Rand der Halle, wo sie ihren Rollstuhl abstellte, dann hievte sie sich nur unter Einsatz der Arme auf die Umzäunung aus Holz und kletterte von da in Sakuras Sattel.
„Ich hab's geschafft!“, murmelte Amelie leise, während sie ihre Beine festschnallte.
Sakura dagegen sah sich jetzt doch nervös um. Wo blieb Kyle? War es wirklich gut, wenn sie beide ganz alleine ritten; Pferd und Reiterin beide noch viel zu ängstlich?
Amelie nahm die Zügel auf und schnalzte mit der Zunge. Sakura, die selbstvergessen auf einen Druck der Schenkel gewartet hatte, brauchte einen Moment, um loszugehen.
Ihre Gedanken kreisten um alles mögliche. Waren sie und Amelie denn schon stark genug, um ohne Kyle zu reiten? Mit einem Mal erschien Sakura selbst die Halle ohne Sprunghindernisse noch viel zu beängstigend.
Sie konnte sich doch nicht auf ihre Reiterin verlassen, weil es Amelie genauso erging wie ihr selbst. Und Amelie konnte sich doch auch nicht einfach auf Sakura verlassen, das ging nicht!
Sakura fühlte sich wie ein Fohlen, dass man von seiner Mutter getrennt hatte. Und zu allem Überfluss spielten jetzt auch noch die Geräusche verrückt.
Sakura vernahm das Geräusch von Pferdehufen. Doch als sie sich umdrehte, um nachzusehen, welcher fremde Reiter da noch die Halle betreten hatte, war niemand da.
„Sakura?“, fragte Amelie, die offenbar nichts hörte.
Sakura trottete weiter und versuchte, Amelies leisen Bewegungen am Zügel zu folgen.
Da, jetzt schlug ihr auch ein Geruch entgegen: Ein fremdes Pferd, ein Hengst! Aber sie konnte keinen Menschen riechen, keinen Reiter.
Sakura sah sich um. Warum konnte sie das fremde Tier nicht sehen? Wurde sie jetzt verrückt? Sie hörte den Hufschlag doch deutlich – war es vielleicht doch nur ein Echo ihrer eigenen Schritte?
„Sakura? Was ist denn?“, fragte Amelie, aber ihre Stimme zitterte jetzt. Sakura blieb stehen und legte die Ohren an. Etwas stimmte hier nicht! Sie ignorierte die leisen Fragen ihrer Reiterin. Sie ignorierte Amelie, denn Amelie war doch keine Reiterin mehr, hatte selbst genauso viel Angst wie Sakura. Also musste Sakura wohl jetzt entscheiden.
„Hey!“, sagte Amelie plötzlich laut. Ihre Stimme durchschnitt Sakuras Gedanken. Darauf folgte ein heftiger Ruck am Zügel, der in Sakuras Mundwinkel brannte.
Sie wandte sich sofort zur angegebenen Seite, so perplex, dass ihr Denken einen Moment ausgeschaltet war.
„Vorwärts!“, befahl Amelie laut und entschieden, und Sakura ging vorwärts, dann trabte sie.
Als sie am Eingang der Halle vorbei kam, trat ohne Vorwarnung ein Pferd in die Halle.
Sakura erschrak und scheute, aber noch bevor sie ausbrechen konnte, hatte Amelie die Zügel kurz genommen. Selbst ohne ihre Beine brachte sie Sakura zurück unter ihre Kontrolle.
Stehend konnte Sakura erkennen, dass das fremde Pferd kleiner war als sie, ein hellbraunes Pony mit einer wilden Mähne. Und hinter dem Pony tauchte schließlich Kyle auf. Sakura hätte ihn beinahe nicht erkannt, denn er hätte in diesem Moment jeder Mensch sein können – sein Geruch war verschwunden, überdeckt von dem Geruch nach Pferd, und selbst die dunkle Kopfmähne reichte nicht aus, um ihn von anderen Menschen zu unterscheiden.
Aber sie erkannte die Art, wie er neben dem Pony ging, Schritt im Schritt mit dem kleineren Pferd, im gleichen Tempo mit den Ponybeinen.
Und deshalb, weil direkt neben ihm jemand so ruhig ging, erschreckte sich das Pony auch nicht vor Sakura.
„Kyle!“, rief Amelie aus. „Bist du verrückt geworden?“
„Nein. Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe, aber das war meine Absicht“, sagte Kyle.
Sakura traute ihren Ohren nicht. Kyle, der freundliche Kyle, hatte diesen bösen Streich gespielt? Er musste mit seinem Pony um die Halle geritten sein, um Sakura Angst zu machen!
Kyle streichelte Sakura beruhigend und kontrollierte mit wenigen Blicken, ob ihr Sattel richtig saß. Dann ließ er es zu, dass das Pony sie frech beschnupperte.
„Das hier ist Echo, mein eigenes Pferd“, erklärte Kyle. „Ich wollte euch unbedingt auf diese Weise einander vorstellen, um euch beide zu testen.“
Echo roch genauso, wie Sakura es von einem Pony erwarten würde: Es war ein kleines, freches Tier, konnte durchaus biestig werden, aber sie merkte, dass es Kyle vertraute und bedingungslos gehorchen würde.
Sie mochte Echo. Er strahlte Selbstbewusstsein und Mut aus, Eigenschaften, die sich Sakura für sich selbst wünschte.
„Du hast uns absichtlich erschreckt?“, fragte Amelie.
„Ja“, gab Kyle zu. „Ich habe dafür gesorgt, dass ihr zum ersten Mal alleine in der Halle unterwegs seid, dann habe ich Sakura nervös gemacht. Ich musste sehen, wie ihr zwei euch alleine schlagt.“
Amelie strahlte mit einem Mal Angst aus. „Und wenn jetzt etwas passiert wäre?“
„Ich hatte alles unter Kontrolle“, antwortete Kyle. „Und überhaupt, das hattest du auch, Amelie. Du kannst wieder reiten!“
„Das war … nicht nett“, meinte Amelie, schon versöhnlicher.
„Es war notwendig“, sagte Kyle ruhig. „Und jetzt wisst ihr beide, dass ihr euch wieder aufeinander verlassen könnt.“
Sakura fragte Echo leise, ob Kyle immer so undurchschaubar war. Echo verneinte: Er könnte Kyle immer durchschauen. Das gehörte zu dem Vertrag zwischen Pferd und Reiter.
Das versetzte Sakura einen leichten Stich, denn es bedeutete, dass Kyle nicht ihr Reiter war.
Er gehört mir!, machte Echo ihr mit einem Blick deutlich. Nimm mir nicht meinen Reiter weg!