29.09.2019 von 19:00 bis 19:50
»Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn sich meine Eltern scheiden lassen.«
Ich nippte am Eistee, den mir mein bester Freund und Nachbar Sven in die Hand gedrückt hatte, kaum, dass die Tür hinter mir ins Haus gefallen war. Da draußen war es mal wieder laut in der Siedlung, in die meine Eltern nach meiner Geburt gezogen waren und das wegen ihnen. Sie schrien sich an, während mein Vater ausgesperrt im Vorgarten auf und ab Schritt, und meine Mutter eine Furie und Schlimmeres nannte. Sie wiederum beschimpfte ihn aufs Übelste, während sie seine Klamotten aus dem Fenster warf. Der ganz normale Wahnsinn in meiner Familie, der mich zu unseren Nachbarn trieb.
»Was hat er diesmal angestellt?«, wollte Sven wissen und setzte sich zu mir an den Küchentisch.
»Vermutlich fremdgegangen.«
Mein Magen drehte sich nur ein bisschen um. Es ging mir schon lange nicht mehr dreckig, wenn ein unschönes Geheimnis gelüftet wurde. Anfangs hatte ich mich stundenlang übergeben müssen, so schrecklich fand ich das ganze Theater, aber inzwischen fühlte ich nur noch ein kurzes Ziehen im Bauch.
Sven sagte eine Weile nichts, bevor er sich nach einem Seufzen durchs dunkelblonde lange Haar strich, für das ihn mein Vater für eine Tucke hielt. Das und Svens Rollen im Schultheater, die zumeist weiblich ausfielen. Dabei sah mein bester Freund echt heiß aus im Kleid, aber das würde ich nie zugeben.
»Weißt du, du tust mir leid.«
»Ich tue mir selber leid.« Aber die Familie konnte man sich nicht aussuchen. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, warum meine Eltern diese Farce von Ehe aufrechterhielten. Vielleicht brauchten sie dieses Drama einfach.
»Morgen ist eh alles Vergeben und Vergessen.«
Sobald mein Vater die Nacht im Hotel verbracht hatte und wieder heimkehrte, lagen sie sich in den Armen. Er brauchte nur auf den Boden vor ihren Füßen krauchen, damit sie ihm verzieh. Ihm seine leeren Versprechungen glaubte, bis ... zum nächsten Showdown.
»Sorry, dass ich das sage, aber sie haben einen an der Klatsche.«
Wer wusste das nicht besser als ich? Den Wink mit dem Zaunpfahl für eine Therapie ignorierten sie beide. Ob ich den in den Raum warf oder Svens Eltern, die helfen wollten. Ich wünschte, ich wäre deren Kind.
»Können wir über was anderes reden?«, versuchte ich, das Thema zu wechseln, weil diese Gedanken immer komisch waren.
Sven ging drauf ein, indem er mir einen Helm reichte. Mein Lächeln nahm sicher gigantische Ausmaße an, als ich ihn mir aufsetzte und meinem besten Freund in die Garage folgte. Es gab nichts, was ich jetzt lieber täte als eine Runde mit Svens Motorrad zu drehen. Einfach nur losfahren. Die Seele baumeln lassen ... herrlich.
Da rückten die Familienprobleme schnell in den Hintergrund, bis ich sie irgendwann ganz vergaß. Konnte nicht jeder Tag so sein? Manchmal wünschte ich mir, dass die Zeit stehen blieb, wenn Sven mit mir losfuhr und ich mich an seinen Rücken schmiegen durfte, ohne, dass es seltsam für einen von uns wurde.
»Meinst du, sie werden dich vermissen?« Sven warf einen Blick über die Straße auf den mit Klamotten bedeckten Vorgarten, wo mein Vater tobte wie ein Berserker.
»Nein, nicht die nächsten vierundzwanzig Stunden«, entgegnete ich, ohne zurückzusehen. Für meine Eltern existierte ich im Moment nicht, und das war ganz gut so.