Prompt vom 22.04., nachgeschrieben am 14.08. von 09:25 bis 10:25
*inspiriert durch Paul van Dyks "For an Angel"
Jeden Samstagmorgen lehnte ich mich soweit aus meinem Fenster, wie ich konnte und fischte mir die Kopfhörer vom Balkongeländer der Nachbarwohnung. Sie lagen immer da, als warteten sie darauf, dass ich sie mir aufsetzte.
»Ich wünschte, Papa würde mich zu dir rüber gehen lassen«, seufzte ich, bitterenttäuscht von meinem alten Herren, der sich weigerte, mir das zu gestatten. Der Paul ist ein Nichtsnutz und du wirst nicht auch so einer, sagte er ständig, wenn ich wieder um Erlaubnis bat.
»Es ist verantwortungsvoller, falls du mal aus dem Fenster stürzt und meine Kopfhörer samt Laptop mit in den Tod reißt«, kam die nüchterne Antwort von unserem Nachbarn. Paul lehnte in einem Liegestuhl, den Laptop auf dem Schoß und schob seine Sonnenbrille ein Stück auf die Nase, damit sich unsere amüsierten Blicke trafen. Er hatte es schon ein paar Mal im Guten mit Papa versucht. Jedes Mal die gleiche Schimpftirade über sich ergehen lassen, bei denen Worte wie Faulpelz und Ruhestörer die netteren Bezeichnungen waren.
Dabei zahlte Paul pünktlich seine Miete, wie der Vermieter es mal gegenüber Papa hatte verlauten lassen. Arbeiten tat unser Nachbar auch. Irgendwas mit Schichtsystem, weshalb er an manchen Tagen daheim war, wenn alle anderen arbeiteten. Dafür blieb er die Nächte dann weg, was Papa ebenfalls als Beweis sah, dass Paul nur am Partymachen war.
Ich verstand’s nicht.
Schulterzuckend setzte ich mir die Kopfhörer auf und lauschte Pauls Playlist. Da war eine Menge Zeug dabei, das ich nicht kannte. Vor allem Lieder, von vor meiner Geburt, die mir immer verdeutlichten, dass Paul wesentlich älter als ich war. Dreißig oder so, zwölf Jahre – wenn nicht sogar mehr – älter als ich. War das Papas Problem? Aber Papa war ja auch zehn Jahre älter als Mama ... grübelnd starrte ich den komischen himmelblauen Fleck an der Hausfront gegenüber von meinem Fenster an.
»Paul van Dyk sagt dir sicher nichts, oder?«
»Wer?«, hörte ich mich fragen, und lauschte seinem Glucksen.
»Schon okay, du bist wohl zu jung dafür.«
Meine gemurmelte Entschuldigung verklang mit den ersten Basstönen. Seit fast einem Jahr verbrachte ich nun jeden Samstag mit Pauls Musik. Es war die Art von Musik, von der Papa an die Decke sprang, sobald er nur einen Ton davon hörte. Wenn Paul sie zu laut machte, schrie er unseren Nachbarn an, ob wir hier auf einem Rave waren. Bis heute hatte ich keine Ahnung, warum das Paul zum Lachen brachte. Vielleicht erklärte er es mir ja irgendwann.
Wir redeten nicht viel. Wie auch, wenn ich seiner Musik lauschte? Ich wurde das Gefühl trotzdem nicht los, dass ich Paul dadurch kennenlernte. Stück für Stück, dass ich mit gutem Gewissen behauptete, dass er kein Taugenichts war. Er teilte seine Mußestunden auf dem Balkon mit mir, einem unerfahrenen Jungen mit einem stressigen Vater. Dafür war ich unserem Nachbarn dankbar. In dieser Zeit fühlte ich mich vollkommen losgelöst von allem, was mich bedrückte. Pauls Musik machte das mit mir. Sie schaffte es irgendwie, dass sich mein Geist von meinem Körper trennte. Ich konnte diesen himmelblauen Fleck da drüben am anderen Haus über Stunden hinweg anstarren, ohne es müde zu werden. Ließ mich einfach in Gedanken treiben, bis mein Blick auf Pauls abgewandtes Gesicht hängen blieb.
Es endete wie eh und je viel zu früh. Paul ließ mich das Lied bis zum Schluss hören und schaltete dann aus.
»Sorry, aber dein Vater macht wieder zicken.«
Ich hörte es. Er beschwerte sich lautstark in der Küche bei Mama, warum ihr Sohn faulenzte. Das war seit jeher unser Warnsignal, dass es bald ungemütlich wurde.
»Vielleicht sollte ich mal kleine bunte Pillen in seinen Kaffee schütten.« Von denen Papa ja auch behauptete, dass Paul die unter der Hand an alle Leute vertickte. Der nahm schmunzelnd seine Kopfhörer wieder an sich, nachdem er seinen Laptop auf den Beistelltisch am Geländer platziert hatte.
»Fast befürchte ich, dass die alles nur schlimmer machen könnten. Du solltest besser irgendwas Sinnvolles machen.«
»Wie Papa beim Fußballgucken unterstützen?« Darauf hatte ich jetzt schon keine Lust. Der Sport war doof. Leute, die einen Ball von links nach rechts traten – spannend. Nicht.
»Genau«, stimmte mir Paul zu. Er stützte sich aufs Geländer und strubbelte mir einmal quer durch meine Haare. »Bis nächsten Samstag, Kleiner.«
Das war ein Grund zur Freude.
»Ja, bis dann!«
Ich ließ mich zurück ins Zimmer sinken und schloss das Fenster. Für einen Moment sah ich noch, dass Paul noch am Geländer stand. Er lächelte, was mir direkt ins Herz ging. Ich könnte schwören, dass es für einen Moment sogar aussetzte.