Prompt vom 21.06., nachgeschrieben am 27.09. von 15:30 bis 16:30
»Bereit?«
Ein letztes Mal zog ich an meiner Zigarette und drückte sie aus. Ich war nicht bereit, hier und jetzt Abschied zu nehmen, doch mir war klar, dass Aufschieben keine Option darstellte. Auf mein Nicken hin holte mein Bruder eine Kaffeedose aus seinem Rucksack.
Würde Ma uns beide dafür verurteilen, dass wir ihre Asche in ihrer Lieblingsdose aufbewahrten? Wir hatten es für eine gute Idee gehalten, von der ich inzwischen nicht mehr so überzeugt war. Es kam mir wie eine Zweckentfremdung vor.
»Wir hätten die Urne nehmen sollen, findest du nicht?«
»Wir verstreuen ihre Asche eh gleich im Meer, wozu braucht sie für den Weg hierher eine teure Urne, hm?«, entgegnete Josh mit erhobenen Augenbrauen, bevor er sich auf den Weg zum Strand machte. Ich trottete ihm ohne Schuhe und Socken hinterher. Barfuß durch den Sand zu laufen ergab für mich mehr Sinn als mit meinen Turnern.
Mutter hatte das Meer geliebt. Jeden Sommer nistete sie sich mit uns in ein Strandhaus ein und verbrachte den halben Tag damit, am Strand in der Sonne zu liegen. Ich erinnerte mich gut an ihr seliges Lächeln, wenn sie dem Meeresrauschen lauschte. Zuhause sah sie nie so aus. Weil sie hier am Meer glücklicher als daheim gewesen war, beschlossen wir, dass wir ihr die Ewigkeit neben Papa im Familiengrab ersparten. Sie verdiente etwas Besseres.
»Wie machen wir’s? Kippen wir die Dose einfach aus oder Hand für Hand?« Bis eben hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Mir war nicht wohl dabei, dass ihre Asche an meinen Fingern klebte. Mir wurde schon schlecht, wenn ich’s mir vorstellte.
»Wir gehen zum Pier, öffnen die Dose und halten sie kopfüber übers Wasser. Natürlich nur, wenn der Wind günstig steht«, erklärte Josh ganz abgeklärt, wie ich es von ihm gewohnt war. Er hatte immer alles im Griff. Mas Tod verkraftete er besser als ich. Zumindest wirkte es auf mich so.
Er ließ mich nicht an seiner Trauer teilhaben, was vielleicht ein Ding von großen Brüdern darstellte. Die mussten den Starken mimen.
Ich war froh, als wir den Pier erreichten und sich kaum eine Menschenseele darauf aufhielt. Je näher wir dem Ende kamen, desto mulmiger wurde mir zumute. Eine Zigarette käme mir gelegen, um meine Nerven zu beruhigen. Meine zittrigen Finger versteckte ich in meinen Hosentaschen, als ich mich neben Josh stellte.
»Letzte Worte?«
»Alles Gute, Mama«, kam es von meinen spröden Lippen. Mein Bruder überließ sie ohne ein weiteres Wort dem Meer. Sie war jetzt dort, wo sie hingehörte.