26.04.20 von 18:00 bis 18:40
Im Tempel erschien wieder einmal keine Menschenseele. Er löschte jede einzelne Feuerschale, bis das Innere der Heiligstätte in Dunkelheit versank.
»Es wird niemand kommen, nicht wahr?«
»Nein«, erklärte er, als einer der letzten verbliebenen Diener an diesem Ort, schweren Herzens, »ich fürchte nicht.«
Früher, in den besseren Zeiten, florierte die Landschaft um den Tempel herum. Es entstanden Dörfer, die sich alsbald zu einer riesigen Stadt verbanden. Es wurde ein Ort des Lebens, des Friedens ... fernab des Krieges, der überall tobte, wo die Menschen einander beneideten.
Hier gab es weder Missgunst noch Neid oder gar Hass. Selbst jetzt, wo die Stille sich über die verlassenen Gebäude der Stadt wie ein Leichentuch gelegt hatte, herrschte Frieden.
Er nahm an, dass es der Gottheit zu verdanken war, wagte aber, diesen danach zu fragen. Hinter ihm erklang ein kurzer Seufzer auf dem Thron, bevor er eine Hand auf der Schulter spürte.
»Du hast mir dein halbes Leben gewidmet. Selbst jetzt, wo niemand mehr hier ist und auch nicht mehr erscheinen wird, lässt du eine alte Seele wie mich nicht im Stich. Aber, wie das so ist mit alten Traditionen, muss man sie hinter sich lassen und darf sich nicht an ihnen festhalten.«
Gerade, weil er so lange hier im Tempel gedient hatte, mit seinem Gott gelacht und gespaßt hatte, konnte er nicht einfach gehen. Sie kannten einander, sodass er wusste, sein Gott würde hier vereinsamen. Vergessen werden, bis das geschah, was mit allen anderen vor ihm passierte: Er würde verschwinden, als hätte er nie existiert.
Das durfte nicht sein.
Die Geste erwidernd blickte er in das jugendhafte Gesicht seines Herren, das von innen heraus zu strahlen begann. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.
»Ich bleibe. Es sei denn, Euch ist meine Anwesenheit ein Dorn im Auge.«
»Nein, im Gegenteil. Du, jeder, ist hier willkommen. Vielleicht solltest du nur etwas Licht machen. Es ist mir entschieden zu finster in meinem Tempel.«
Sein Gott ließ sich erneut auf seinem Thron nieder, wo er die Beine und Arme von sich streckte. Ein lauer Windhauch zog durch die Stätte, nachdem in den Feuerschalen wieder Flammen tanzten.
»Vielleicht verirrt sich ja doch jemand her«, sann er leise, war sich dessen jedoch nicht sicher. Sein Gott gluckste vergnügt wie ein Kind, das eine Süßigkeit geschenkt bekam – dabei war es lediglich ein winziger Apfel in seiner Hand.
»Möglich ist alles, solange du daran glaubst.«
Er gab sein Bestes, in der Hoffnung, dass erneut das Leben florierte.