15.12.19 von 19:30 bis 20:30
Es war immer die gleiche Erinnerung, die sich vor seinen Augen abspielte, sobald er über die Schwelle dieses einen Raumes schritt. Der Sinn dieser vier Wände bestand immer noch darin, den Kindern ein Stück Heimat vorzugaukeln. Etwas, das sie kannten und ihnen die Furcht vor der neuen Fremde, in die entführt wurden, nahm. Ihre Welt bestand nur aus diversen Grautönen, fern dem farbenfrohen Zuhause.
Er ließ den Blick durch den erschaffenden Raum schweifen, zur Schale voll Äpfel auf dem Küchentisch und zum Fenster mit den roten Vorhängen, durch deren Spalt spärliches Licht hereinfiel. Er roch den Duft verschiedenster Gewürze, an die er sich kaum noch erinnerte. Da war lediglich das warme Gefühl in seinem Inneren, das sich ausbreitete. Es verstärkte sich beim Anblick an der schlanken Gestalt am Herd.
Sie summte. Wenn er sich anstrengte, könnte er sich eventuell an das Lied erinnern, doch deswegen war er nicht hier. Bei jedem Schritt, mit dem er sich ihr näherte und ihm auffiel, wie spärlich seine Erinnerungen schon damals gewesen waren, presste er die Lippen zusammen. Die Frau, die ihn die ersten Jahre seines Lebens begleitet hatte, war zu einem verzerrten Schatten ihrer selbst verkommen.
»Mutter.«
Wie sehr es ihm widerstrebte, dieses Wort auszusprechen, das er komplett aus seinem Repertoire verbannt hatte. Diese Erscheinung war alles, doch nicht die Frau, die ihn einst geboren hatte. Ihr Gesicht ebenso verblasst wie der Rest von ihr, als würde man durch Milchglas schauen oder langsam erblinden.
»Mein Schatz, dein Bratapfel ist noch nicht soweit.«
Diese Erinnerung ...
Er setzte sich an den Tisch, beobachtete jede Bewegung des verschwommenen Geistes. Er wusste, dass seine Mutter eine Schönheit gewesen war. Sein Vater nahm sich keine hässlichen Weiber, um die Familie zu bereichern. Nein, das Oberhaupt zog es vor, sich mit den reinsten Frauen zu vergnügen. Demnach war seine Mutter nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch ausgesprochen jung.
»Hast du ihm eigentlich je verziehen?«
Gebilde aus Erinnerungen antworteten nicht auf derartige Fragen. Sie teilten all den Kindern nicht mit, wie sehr sie verhasst oder geliebt waren. Sie umarmten nicht. Sie standen einfach so da, warteten auf ihren Einsatz und spielten ihr Stück weiter.
Während er seinen Blick auf die Holzmaserung gerichtet hielt, lauschte er weiter ihrem Summen. Als hätte er nichts gesagt oder überhaupt anwesend.
»Du hast ihn mit Sicherheit gehasst. Er hat dich verdorben. Die genommen, ohne zu fragen, aber da es für dich ein Traum war ...«, wieder stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, diesmal verbittert, »am Ende macht es wohl keinen Unterschied, oder?«
Sie hatte ihn geboren. Sie war seine Mutter. Eine Gute? Er wusste es nicht, aber er erinnerte sich, wie sehr ihn die Aussicht auf einen Bratapfel an diesem Winterabend gefallen hatte. Als ihm einer auf den Tisch gestellt wurde, sah er wieder nur ein verschwommenes, nicht fassbares Gewirr aus Farben und Formen.
Wirklich frustrierend.
»Lass es dir schmecken, mein Schatz.«
Jedes Mal endete es an dieser Stelle. Jedes Mal starb etwas in ihm, dass unterdrückte Tränen ihren Weg über seine Wangen fanden. Das waren Schmerzen, schlimmer als jeder Schlag ins Gesicht.
Was ein einfacher Bratapfel, an dessen Geschmack er sich nicht einmal mehr erinnerte, alles auszulösen vermochte ... oder war es letztendlich die Sehnsucht nach einer liebevollen Geste, die ihn hierher trieb? Weil sie ihm dort draußen vor der Tür nicht gewährt wurde?
»Ich bin wohl ein Masochist«, seufzte er nach einigen Minuten, bevor er den Raum hinter sich ließ. Es blieb weiterhin vergebens, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Antworten auf all seine Fragen bekam er nie.