10.10.2019 von 8:20 bis 9:10 nachgeschrieben
»Du hast schon mitbekommen, dass wir auf eine Kostümparty gehen?«
Im Gegensatz zu meiner jüngeren Schwester war ich nicht eingeladen und würde den Teufel tun, bevor ich mit ihr im Partnerlook dort auftauchte.
»Was sollst du eigentlich darstellen«, fragte ich sie, als ich mich auf den Fahrersitz niederließ und ihren Aufzug begutachtete. Es war ein Ganzkörperkondom, wenn sie mich fragte. Was die goldene, ovale Umrandung wohl sollte?
»Ich bin der Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter. Das sieht man doch!«
Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte sie mich an, aber ich tat ihr nicht den Gefallen und lobte sie für ihren Einfallsreichtum. Ich startete den Motor, ohne ein Wort zu sagen. Zumindest bis wir die Auffahrt hinter uns ließen.
»Du siehst bekloppt aus, Lissi.«
»Das ist nur deine Meinung.«
Ich könnte drauf wetten, dass jeder davon überzeugt war, wenn man Lissi sah. Wer sein Kostüm erst erklären musste, traf nicht unbedingt eine gute Wahl.
»Du verlierst übrigens Tape«, bemerkte ich betont gefühlslos, als sich von ihrer Brust ein langes Stück silbernes Band löste. Sie drückte es jammernd wieder fest, während sie die Industrie für ihre mangelnde Qualität verfluchte.
Ich schwankte.
Ein Teil von mir wollte nur zu gern sehen, wie sich ihr Kostüm vor versammelter Mannschaft auflöste, aber als ihr älterer Bruder stand ich in der Pflicht, ein Auge auf sie zu werfen ...
»Willst du eigentlich jeden dazu animieren, diesen Spruch aufzusagen? Spieglein, Spieglein an der Wand. Wer ist die Schönste im ganzen Land?«
»So in etwa. Ich arbeite mich bis nach Heather durch und sag ihr dann ins Gesicht, dass selbst alle Cremes der Welt keinen Scheiß Charakter aufhübschen. Ich als Spiegel will am liebsten vor ihren Augen zerspringen!«
Lissi lachte mit einem Stimmchen, das mir Schauder über den Rücken jagte. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich ihre Klassenkameradin zur Brust nahm, aber irgendwann blieb es nicht mehr beim verbalen Abtausch.
Seufzend fuhr ich rechts ran.
»Kommt nicht in Frage, Lissi. Ich werde dich auf keinen Fall unter diesen Umständen auf die Party fahren.«
»Warum nicht? Ich will ihr ja nicht rote Farbe über ihr Echtfelljäckchen kippen oder ihr Gewalt antun. Im Gegensatz zu dir lasse ich mich auch auf keine Mutproben ein.«
Jede noch so kleine Diskussion lief irgendwann darauf hinaus. Jetzt war ich es, der am liebsten in tausend Einzelteile zerspringen wollte. Die Zähne zusammengebissen, reihte ich mich wieder in den Verkehr ein.
»Das ist überhaupt nicht vergleichbar.«
In ihrem Alter wollten wir um alles in der Welt Mist bauen. Von der höchsten Brücke springen, obwohl man im reißenden Strom darunter ertrinken könnte, schien uns irgendwann der größte Scheiß zu sein, den man machen konnte. Wir dachten nicht daran, dass es böse enden könnte. Das Schicksal hatte uns eines Besseren belehrt.
Lissis Aktion war nichts dagegen. Die war einfach nur dämlich und endete damit, dass Heather oder sie beide im Pool landeten. Ich würde auf jeden Fall Schlimmeres verhindern. Es reichte, wenn einer in der Familie einen unverzeihlichen Fehler beging.