13.10.2019 von 18:20 bis 19:00
Je länger ich das rote Cabrio in der Auffahrt auch musterte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass mein Bruder eine bessere Sehkraft als ich besaß.
»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht sagen, dass die Farbe Scharlachrot ist. Es ist einfach nur ... rot.«
Fabian hob beide Hände gen Himmel, bevor er sich zu Paps umdrehte, der mit Ma auf der Veranda stand.
»Aber du verstehst mich, oder?«
Unser Vater kämpfte um einen neutralen Gesichtsausdruck, den er immer zur Schau stellte, wenn er keinem seiner Söhne auf die Füße treten wollte. Zumindest mir konnte er nur auf einen treten, dank Prothese.
»Nun ja, denke schon. Saxton hat gar kein Auto.«
Selbst, wenn ich eines hätte, blieb eine rote Karosserie eine rote Karosserie. Und wenn sie den Lack noch so spektakuläre Namen gaben. Fabian grinste mich von der Seite an, weil er wusste, wie mein erstes Gefährt aussähe. Eines, das ich wohl nie besitzen würde.
»Das verrostete Teil aus Transformers, Sax. Mit den besonders ausgeblichenen Rallystreifen.«
Ich lümmelte mich unbeeindruckt auf dem Beifahrersitz und ließ meine Prothese an der Seite herausbaumeln.
»Bumblebee ist cool, ja?«
Außerdem konnte ich mir einen Truck wie Optimus Prime nicht mal in meinen kühnsten Träumen leisten. Paps schüttelte über uns den Kopf, bevor er mit Ma wieder ins Haus trat. Nicht, ohne uns einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben.
»Anschnallen nicht vergessen.«
Fabian hüpfte eher ins Auto, als dass er ordentlich einstieg, und ließ den Motor kurz aufbrummen. Wenn er sich freute wie in diesem Augenblick, kamen seine Grübchen besonders zum Ausdruck. Ich ermahnte ihn zur Vorsicht, weil er in solchen Momenten nicht wirklich darüber nachdachte, was er im Begriff war zu tun. Einer von uns hatte dafür mit einem Bein bezahlt.
Springen von der Klippe hinunter in einen Baggersee war auch eine idiotische Idee gewesen. Von Anfang an schon, aber wir dachten nicht an Konsequenzen.
»Also wollen wir deinen Kumpel zu einer Spritztour an den Baggersee einladen, Sax? Danach machen wir einen Abstecher zu meiner Süßen.«
In den Sitz zurücklehnend zuckte ich mit den Schultern. Seit ich wieder zu Hause bei meinen Eltern wohnte, hatte ich Paul nicht gesehen. Fabian wusste nicht mal, dass seit dem Unfall der Kontakt komplett in die Brüche gegangen war. Er konnte nichts dafür, dass er mir jetzt einen Tritt in die Eier gab.
»Findest du nicht, wir sollten den Baggersee sein lassen? Es sei denn, du willst, dass ich beide Beine verliere.«
Das war scherzhafter gemeint, als es bei meinem Bruder ankam. Der sah mich kurz mit offenen Mund an, bevor er vorsichtig lachte, um zu prüfen, ob ich mir wirklich einen Scherz erlaubte.
»Dann fahren wir woanders hin. Hauptsache, du und Paul seid mal wieder zusammen, hm?«
Seine Worte schmerzte auf so vielen Ebenen, dass ich mich im Sitz zusammenrollte. Einerseits wollte ich Fabi sagen, dass da kein zusammen gab, andererseits schaltete ich ihn damit praktisch als Kuppler ein und ich wusste nicht mal, ob Paul mich überhaupt sehen wollte.
»Er glaubt, er ist schuld an dem Unfall. Dabei bin ich gesprungen.«
Freiwillig. Angetrunken. Um Paul zu beweisen, dass es nichts gab, wovor man sich dort fürchten musste. Das hatte ich jetzt davon: eine Beinprothese und meinen besten Freund verloren.
»Spinnt der? Ich hab ihm doch gesagt, dass es ein Unfall war.«
Und wenn ihm meine oder seine oder alle ihm das Schwarz auf weiß gaben, glaubte es Paul nicht.
»Themenwechsel, bitte. Warum ist der Lack von deinem Cabrio Scharlachrot?«
Fabi schürzte die Lippen, ehe er mit einem breiten Grinsen antwortete.
»Weil meine Süße ihre Haare in der Farbe gefärbt hat.«
Oh Gott, und da nannten meine Eltern mich einen Spinner. Mich räuspernd setzte ich mich in dem Sitz auf.
»Okay. Dann auf zu ihr.«
Damit sie in diesem Cabrio rummachten, während ich mich nach meiner besseren Hälfte sehnte. Irgendwann brachte ich es vielleicht über mich, Paul mal anzurufen, um ihn wissen zu lassen, dass ich wieder da war. Und, dass ich ihm nie die Schuld für irgendwas gab, außer vielleicht, dass er mir dort ungefragt meinen ersten Kuss stahl. Das ließ sich nie wieder aus meinem Kopf löschen, aber es war eine schöne Erinnerung, von der ich mir wünschte, ich könnte sie noch einmal erleben.