17.11.2019 von 19:00 bis 20:00 https://www.pinterest.de/pin/406520303867389448/
Auch in diesem Winter begleitete ich meinen Master auf den Friedhof, der ebenso unter einer dicken Schneedecke lag wie der ganze Ort. Ich folgte dem jungen Mann durch das Eisentor auf das Gelände und hielt genügend Abstand, um den Anstand zu wahren. Bedienstete gingen nie an der Seite ihrer Herren.
Eine alteingesessene Familie wie die Wickams achteten genaustens darauf und ich wusste, wo mein Platz in dieser Welt war.
»Archibald, wir sind allein.«
Mein Master warf mir über der Schulter einen bedeutsamen Blick zu, dem ich mit einem angedeuteten Lächeln begegnete.
»Es ist eine Sache, seinen Homunculus im Bett willkommen zu heißen, aber eine andere, mit ihm vor dem Grab seines Vaters zu erscheinen.«
Nicht, dass der alte Wickam zu Lebzeiten keine gewisse Ahnung hatte. Das Oberhaupt der Familie wusste mit Sicherheit mehr, als es mir lieb war, doch so sehr ich es mir auch wünschte, wagte diesen einen Schritt nach zehn Jahren nicht. Selbst, wenn wir die einzigen Besucher waren.
Zwei einsame Gestalten in einer Schneelandschaft, denen die Kälte nichts anhaben konnte. Als Magier wusste mein Master, wie er sich zu wärmen hatte und ich, nun, war ein Homunculus. Meine einzige Sorge galt dem Verlust meines Magiekreislaufes.
Mein Master gab mit einem Seufzen auf, bevor er sich allein ans Grab begab, während ich auf ihn wartete. Zehn Jahre waren ins Land gezogen, seit der alte Wickam seiner Altersschwäche erlag. Trauern um diesen Mann konnte ich aufgrund meiner Herkunft nicht.
Magier betitelten uns Homunculi allgemein als gefühlskalte Wesen, aber wie ich fand, dass der einzige Eisklotz in der Familie der alte Wickam selbst gewesen war. Die Anforderungen, die er an seinen Sohn gestellt hatte, überforderten meinen Master bereits in jungen Jahren. Eigentlich ein talentierter Magier brachte er nicht einmal mehr einfachste Illusionszauber zustande, wenn ich ihm nicht mit meiner eigenen Magie unterstützte. Mein Master war gebrochen und zerstört, was er sich niemals anmerken ließe. Ich hatte nichts dagegen tun können ...
Wenige Minuten später kehrte er zu mir zurück.
»Darf ich fragen, warum Ihr ihn nach allem immer noch besucht?«
Er gab mir darauf erst eine Antwort, als wir das Friedhofsgelände hinter uns ließen und einen Blick zurück zum offenen Tor warf.
»Damit ich sicher bin, dass er weiterhin in diesem Grab liegt.«
Nicht auszudenken, wenn jemand auf die Idee käme, ihn von den Toten aufzuwecken. Der alte Wickam war ein mächtiger Magier gewesen.
»Ich werde Euch mit meinem Leben beschützen, Master, wenn Euer Vater erneut auf der Bildfläche erscheint.«
»Das weiß ich. Mir wäre es jedoch lieber, wenn ich dich noch sehr lange an meiner Seite habe.«
Ein sonderbares Gefühl machte sich bei diesen Worten in meiner Magengegend breit. Ich hatte das Bedürfnis, die mir gesetzte Grenze zu übertreten, doch ich blieb auf meiner Seite. Wie schon so oft.
Es war mein Master, der ihn zu meiner Überraschung tat. Ein kurzes Aufeinandertreffen unserer Lippen, bevor er sich zurückzog und den Heimweg antrat. Ich kostete das Gefühl noch ein Weilchen aus, ehe ich ihm folgte.
»Ich dachte nicht, dass es möglich wäre, dich noch mehr zu lieben.«
Aber mir schien, dass es so war.