„He Mütterchen! Wohin des Weges?“ War sie wirklich so alt geworden, dass selbst junge Knilche, sie als Mütterchen bezeichneten? Doch waren ihr diese jungen Spunde lieber als höfliche aber misstrauische, erfahrene Soldaten. Solange sie sich über sie lustig machen, würden sie kaum ernsthafte Fragen stellen.
„Hoffentlich zur Hauptstadt“, entgegnete sie freundlich und zugleich konsequent. Dabei warf sie einen Blick zu dem Portal, das hinter den beiden Jünglingen milchig im Sonnenlicht schimmerte. Nach Schedela hatte sie nur diese Nacht Zeit, im übertragenden Sinne zehn Tage, was bedeutete, dass sie für das Reisen nicht mehr Zeit als nötig aufwenden konnte. Bis zur Hauptstadt war es jedoch eine 3-Tages-Reise. Es war ihr Glück, dass die Portalreisen, jetzt wo der Konflikt zwischen Schedela und dem König an Intensität abgenommen haben, mittlerweile auch wieder für den Zivilverkehr geöffnet worden waren. Freilich waren viele der Routen weiterhin blockiert, doch um den Handel wieder anzukurbeln hatte Schedmasal an den großen Handelsstraßen kleinere Portale öffnen lassen. So wie dieses hier am Rande der Grenzmark. Den Bestimmungen nach hätte ebenfalls ein Magier anwesend sein müssen, um die Gesinnung der Reisenden zu überprüfen und zu verhindern, dass somit feindliche Spione direkt in die Hauptstadt eindringen konnten. Doch waren hier waren nur zwei junge Soldaten zu sehen, was ihr zum Vorteil gereichte.
Die beiden wechselten einen Blick. Derjenige, der sie zuvor angesprochen hatte, trat vor.
„Weshalb willst du zur Hauptstadt, Frau?“
„Ich hoffe, meine Schwester zu besuchen“, begann sie ehrfürchtig zu erklären, „Wir haben uns nicht gesehen, seitdem der König…seit der Konflikt begonnen hat. Doch der Weg zu Pferd ist zu anstrengend für eine alte Frau für mich und da dachte ich eine Portalreise wäre…“
„…das Richtige für dich, Weib?“, ergänzte der zweite Mann und musterte sie abschätzend.
„Ich kann auch bezahlen“, fügte sie hastig hinzu. Sie wusste genau, was die beiden Soldaten dachten. Wegen irgendeines kleinen Vergehens waren sie an die äußerste Grenze geschickt worden, in dem bestenfalls ein brüchiger Frieden zwischen den Parteien herrschte und mussten nun hier versauern, während Beförderungen an ihnen vorbeigingen und sie in den Listen der Armeeführung vergessen wurden.
„Tut mir leid, Alte. Ohne unseren Magier dürfen wir dich nicht durchlassen.“ Sie bemerkte, dass er seine Hand auf das Wappen gelegt hatte, das auf seiner Uniform genäht war. Dieser junge Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren hoffte noch darauf, dass Pflichtbewusstsein sich auszahlen würde – oder er wollte den Preis hochtreiben
Der jüngere warf ihm einen Blick zu.
„Warte da“, befahl er ihr gebieterisch, dann zog er seinen Kameraden beiseite. Jedoch sprachen die beiden laut genug, dass Sinamet sie gut verstehen konnte.
„Es kann Tage dauern, bis Tares sich wieder blicken lässt. Warum sollen wir hier versauern, während er es sich in den Tavernen und im Bett seiner Mätresse wohl ergehen lässt. Den Arzt konsultieren…Wir wissen doch alle, was das bedeutet. Währenddessen frieren wir uns die Ärsche ab und lassen uns von den Mücken zerstechen. Las uns diese Chance ergreifen.“
„Dennoch ist es gegen die Vorschriften“, gab der zweite zu bedenken, „Und wenn Tares es herausfindet…“
„Nun komm schon!“, höhnte der Jüngere, „Was für eine Gefahr soll das alte Weib schon sein? Die tut doch keiner Fliege was zuleide. Wir tun etwas für die Menschlichkeit und verdienen nebenbei etwas.“
Innerlich musste Sinamet lächeln. Wenn die beiden wüssten…Schwerter mochten äußerlich eindrucksvoller sein, doch sie hatte ihre eigenen Waffen.
„Hast ja Recht“, meinte der Ältere, „Aber nur wenn sie gut bezahlt.“
Sie verlangten einen hohen Preis, Sinamet spielte Widerwillen vor und bezahlte dann. Im Wald hatte sie kein Geld benötigt und die Jahre im Dienst des Königs waren ihr stets gut vergolten worden.
„Weißt’te wie Portalreisen gehen?“, fragte der Langharrige sie mit einem übermütigen Grinsen.
„Ja“, entgegnete sie knapp.
Er zuckte mit den Schultern. „Dann geh.“
Ohne sich weiter mit ihnen aufzuhalten, trat Sinamet durch das Portal. Ihr Herz pochte wild. Nicht wegen den Soldaten, nicht wegen den Schmerzen, die solche eine Reise hervorrufen konnte, sondern aufgrund der Erinnerungen, in deren übermächtigen Schatten sie gleich eintreten würden.
„Siehst’te hat sich doch gelohnt.“ Der Jüngere klimperte demonstrativ mit den Münzen, die die Frau ihm überreicht hatte.
„Ja, ja“, murrte der Kurzhaarige, „Jetzt will ich aber meinen Anteil haben.“
„Geht doch“, grinste er und pfiff eine fröhliche Melodie.
Nur kurze Zeit später erging an sie wie in allen Grenzgebieten der Befehl, das Portal sofort zu schließen.
Sinamet hatte Portalreisen noch nie gemocht. Die Farben, die rasend schnell an ihr vorbeizogen und sich in unaufhörlichen Wirbeln und Mustern in ihre Erinnerung einbrannten, verursachten ihr Kopfschmerzen, die Geschwindigkeit, mit der ihr Körper sich gewaltsam durch Zeit und Raum bewegte, Gliederschmerzen. Es gab einen Grund, weshalb diese Reisen nur für vollkommen gesunde Personen erlaubt waren. Sowohl emotional als auch physisch bedeuteten sie eine große Belastung und selbst kräftige Männer konnten im schlimmsten Fall an ihr zugrunde gehen. Sie spürte ihre Finger zittern, durch die Luft greifen, im verzweifelten Versuch irgendwo Halt zu finden. Die Erinnerungen, die sie all die Jahre sorgfältig verschlossen und vergraben hatte, wirbelten hoch, tauchten Sekunden auf, um dann wieder von der nächsten abgelöst zu werden.
Sie war erleichtert, als die Farbenwirbel langsamer wurden und sich zu einer Landschaft zusammensetzten, die sie seit sieben Jahren nicht mehr erblickt hatte. Ihre Beine knickten ein, als sie mit Wucht auf dem Boden auftrafen und sie fiel zu Boden.
„Vorsicht!“ Jemand ergriff sie am Arm und half ihr vorsichtig auf.
„Danke“, keuchte sie und blieb zusammengekrümmt stehen. Ihr Magen rebellierte. Eilig beugte sie sich zur Seite und spuckte die Reste ihrer Mahlzeit auf den Grünstreifen. Sinamet verzog das Gesicht vor Ekel und wischte die letzten Spuren um ihre Mundpartie mit dem Ärmel ab.
Erst jetzt gelang es ihr ihre Umgebung wahrzunehmen. Ein älterer Mann mit einem freundlichen Gesicht und dem Armreif eines Magiers stand vor ihr und betrachtete sie besorgt. Hinter ihm standen drei Soldaten des Königs.
„Ist alles in Ordnung, Frau?“, fragte er freundlich.
„Es geht schon wieder, danke.“ Sie richtete sich auf.
„Portalreisen können sehr herausfordernd sein“, erklärte er, „Fühlst du dich stark genug, dass ich deinen Geist untersuche?“
„Meinen Geist?“, tat sie besorgt. Es war ihr nicht bekannt gewesen, dass Magier auch an den Ankunftsorten zur Verfügung stehen mussten.
„Es tut nicht weh“, beruhigte er sie, verriet aber zugleich eine Unnachgiebigkeit, dass er sie nicht würde gehen lassen, ehe er diese Prozedur durchgeführt hatte.
„Oh, sehr gut“, meinte sie, „Muss ich irgendwas tun?“
„Entspann dich einfach“, antwortete er und ließ seine Hand eine Spanne über ihrer Stirn schweben.
Sinamet konzentrierte sich, erinnerte sich an all die Lektionen, die sie als Amme und Erzieherin am Königshof hatte beherrschen müssen. Gleich einem Wall hob sie ihre vermeintliche Intention vor sich, umhüllte ihre Gedanken mit der Sorge um ihre angebliche Schwester. Es waren keine guten Bilder, die sie ihm vorlegte, denn spürte sie, wie dünn diese an manchen Stellen waren. Doch wie die meisten Menschen sah er nur das, was er sehen wollte und gab sich mit dem, was sie ihm gleich einem Hund vorlegte, zufrieden.
Dennoch war sie erleichtert als sie seine tastenden Finger nicht länger in ihren Gedanken spürte.
„Grüße deine Schwester! Ich hoffe, dass es ihr wohl ergeht“, wünschte der Magier ihr freundlich und bedeutete den Soldaten, sie durchzulassen.
Sinamet nickte dem Narren zu, dann wandte sie sich von dem Portal, das man ein wenig außerhalb der Stadt errichtet hatte, ab.
Sie folgte der Straße und hielt erst an, als sie hinter einer Biegung das Portal nicht mehr sehen konnte. Für einen Moment blieb sie stehen, sog die Eindrücke auf, die ihr entgegenströmten.
Ein Ochsenkarren fuhr an ihr vorbei und der Händler darauf schimpfte lauthals über die Schlaglöcher, die ihm so viel Zeit gekostet hätten. Hinter ihr toste die Brandung und warf sich gegen die Klippen, auf denen die Hauptstadt gebaut worden war. Die Schreie der Möwen mischten sich mit den Stimmen der Leute, die über die Straße zur Hauptstadt wollten. Vereinzelte Händler und Bauern aus den umliegenden Dörfern trieben ihre Karren zwischen den Menschen hindurch und schimpften über diejenigen, die nicht sogleich Platz machten. Es war später Vormittag und sie würden die letzten auf dem Markt sein.
Mit einem leichten Lächeln schloss sich Sinamet der Menge an, ließ sich in ihr treiben und sog jeden Gesprächsfetzen auf, den sie erhaschen konnte. Acht Jahre hatte sie im Wald verbracht und war nur zwischendurch in die nächsten Dörfer gezogen, um das zu besorgen, was sie dem Wald nicht hatte abringen können.
„Wieder keine Stoffe aus Teriat“, seufzte eine Frau.
„Gut für Skidontas“, fügte ihr Mann hinzu, „Die halten das Monopol.“
„Dafür sollen wieder Kaufleute aus Wiqurus da sein.“
„Oh, ihre Messingarbeiten sind aber auch zu herrlich. Ich muss mir unbedingt einen neuen Kerzenhalter besorgen.“
So ging es fort. Doch gelang es Sinamet anhand der Gespräche herauszuahnen, welche Städte und Fürsten in diesem Konflikt auf wessen Seite standen und erfuhr nebenbei jede Menge Klatsch.
Callinger war keine sonderlich wehrhafte Stadt. Geschützt war sie bisher allein durch die Lage – und durch die Tatsache, dass Schedela keine Flotte sondern nur ein Landheer besaß. Sie lag in den Ausläufern der Tamista, einem Gebirge, das in den ersten Jahren des Konflikts die Grenze zwischen den beiden Parteien gezogen hatte. Durch die direkte Lage am Meer war sie ein bevorzugter Handelsplatz, dessen Hafen jetzt wieder vermehrt Schiffe anlaufen zu schienen. Die Stadt selbst war auf den Klippen erbaut und besaß nur eine einzige Stadtmauer aus weißem Fels, der strahlend in der Vormittagssonne glänzte.
Sinamet war nicht hier geboren worden, doch hatte sie den weitaus größten Teil ihres Lebens in der Hauptstadt verbracht, die den gleichen Namen wie das Königreich trug. Auch wenn sie nicht vorgehabt hatte, die Stadt wieder zu betreten, konnte sie die Freude, die sich in ihr breit machte, nicht verhehlen.
Der starke Akzent der Menschen, die Gerüche, die aus dem Gerberviertel zu ihr hinüberwehten, die Schnitzereien der Hausfassaden und die laut streitenden Arbeiterkinder mit ihrem deftigen Wortschatz all das vermittelte ihr das Gefühl von Heimat.
Zunächst ließ sie sich durch die Straßen treiben, versuchte all das aufzunehmen, was sich verändert hatte, doch schließlich schlug sie den Weg zum Markt ein. Dort würde sie am ehesten die Neuigkeiten hören und erfahren, wie sie am Besten zum König vorkam. Immer noch war sie entschlossen, es über Malkat zu versuchen, die Frau, die Schedmasal an Schedelas statt zur Königin erhoben hatte. Ihres Wissens nach hegte sie keinen Groll gegen die Verbannte, sondern war ihr wenn auch nicht freundschaftlich so zumindest respektvoll gegenüber getreten. Und es war Malkat, die das Herz des Königs in den Händen hielt. Wenn sie Malkat von Schedelas Botschaft überzeugen konnte, dann standen die Chancen gut, dass der König sie ebenfalls anhören würde.
Der Markt überströmte sie mit Eindrücken. Farben, Gerüche, Geräusche kamen über Sinamet. Sie hatte erst begonnen, wahrzunehmen und sich umzusehen, als ein Ausrufer sich auf seinem Pferd einen Weg durch die Menge bahnte.
„Macht Platz für Prinzessin Schirewel!“ Bei den Worten des Ausrufers stoben die Frauen an ihrer Seite auseinander und machten den Weg frei. Auch Sinamet bewegte sich eilig zur Seite, aber so langsam, dass sie dennoch in erster Reihe stand. Die Menschenmasse hinter ihr war zu dicht, als dass sie hätte ausweichen können. Besorgt fragte sie sich, ob bei der Prinzessin noch Leute ritten, die sie kannten. Möglicherweise sogar Cherew, den Schedela ihr vorgeschlagen hatte, den sie jedoch auf keinen Fall sehen wollte. Schon damals war er eine Leibwache für die königlichen Nachkommen gewesen. Doch zurückweichen konnte sie nicht, also zog sie sich nur die Kapuze tiefer ins Gesicht und hoffte auf das Beste.
Zunächst kamen die Soldaten ihrer Leibwache in Sicht, die auf eleganten Schimmeln ritten. Zu ihrer Erleichterung und Enttäuschung zugleich kannte sie keinen von ihnen. Dann kam Prinzessin Schirewel in Sicht. Das Mädchen ritt auf einem Pony, ebenfalls ein Schimmel. Sie war erst nach Sinamets Verbannung geboren worden, so dass sie ihr fremd war. Dennoch sah sie ihrem Vater Schedmasal so ähnlich, dass die ehemalige Erzieherin schlucken musste. Die Prinzessin war groß für ihre vier Jahre, hatte rotbraune Locken, die ihr ähnlich wie ihrem Vater über die Schulter fielen. Ihrer Mutter Malkat ähnelte sie dagegen kaum.
Sinamet fragte sich, was die Kleine über den Konflikt dachte. Vermutlich dachte sie kaum darüber nach. Sie war während dieser Zeit geboren und kannte nichts Anderes.
Endlich war sie nah genug heran, dass Sinamet ihr ins Gesicht sehen konnte. Hier fand sie das erste Mal Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter. Die zarten, geschwungenen Lippen waren ebenso von ihr wie das runde Gesicht. Nur die Sommersprossen und die grauen Augen stammten vom König.
Ihr Gesicht war von Trauer verschleiert, das Gewand ebenso weiß wie die Blüten, die traditionell auf den Gräbern der Königsfamilie wuchsen. Trauer. Kein gutes Zeichen.
„Das arme Kind“, seufzte die Frau hinter ihr, „Nun hat sie nur noch ihren Vater.“
„Ja“, seufzte ihre Nachbarin, „ So jung schon ohne Mutter und die arme Königin.“
„Es kam so plötzlich!“ Die Frau schnäuzte sich in sein Taschentuch.
Sinamet drehte sich um.
„Verzeihung. Königin Malkat ist tot?“ Ihr Herz pochte wild.
Missbilligend musterten die beiden Frauen sie. „Ja“, antwortete die eine knapp. „Wo hast du denn gelebt, wenn du das nicht mitbekommen hast?“
„Ich bin heute erst in die Stadt gekommen“, erwiderte sie.
„Ja, das hört man.“ Nach diesen unglaublich höflichen Worten wandte die Händlerin sich ab. Malkat war tot. Sinamet schluckte. Sie hatte Schedmasals Ehefrau nicht besonders gut gekannt, doch hatte sie diese respektiert. Ihr Tod verkomplizierte vieles. Ein trauernder König würde noch weniger geneigt sein, ihr zuzuhören. Verdammt. Leise fluchte sie, was ihre sympathischen Nachbarn veranlasste, sie anzuschnauzen. Sinamet ignorierte die Frauen.
In der Zwischenzeit war das kleine Mädchen vorbeigeritten, ihr waren wiederum Mitglieder der Leibwache gefolgt. Doch kein Cherew, der bis zu ihrer Verbannung immer über die Königskinder gehütet hatte.
Stattdessen ritt einer seiner alten Freunde an der Seite der Prinzessin. Tariot war grau geworden, doch seine Augen huschten noch immer wachsam über die Menge. Kurz ließ sein Blick sich auf Sinamet nieder, doch er erkannte sie nicht. Sollte sie ihn um Hilfe bitten? Sinamet zögerte. Mit Malkat hatte sie eine mögliche Fürsprecherin verloren. Tariot war verlässlich, diskret und hatte während ihrer Jugendzeit ein paar Monate um sie geworben – aber er war absolut pflichtbewusst.
Tariot spürte die Blicke, die ihn von seinem Kameraden folgten, als er seine Stute zügelte und zurücksah. Hinter ihnen löste sich die Menge bereits wieder auf, um ihren Geschäften nachzugehen. Von der Frau jedoch, die ihm so bekannt vorgekommen war, sah er nur noch die Kapuze. Unsinn. Tariot schüttelte unwillig den Kopf und trieb sein Pferd wieder an. Wahrscheinlich waren jetzt, wo überall Reden über Malkats Leben gehalten wurden, einfach alte Erinnerungen aufgewirbelt worden, die er nun schnell wieder vergrub.
Sinamet fand eine Unterkunft beim östlichen Stadttor. Die Witwe, bei der sie unterkam, hatte vier kleine Kinder und war froh über die Miete, die die Fremde ihr für das kleine Zimmer unter dem Dach zahlte. Der Laden, den sie nach dem Tod ihres Mannes aufgemacht hatte, warf nicht genug Geld ab. Sie stellte keine Fragen, wieso die Frau ihr anstatt der Münzen mit Schedmasals Antlitz die alten Silbergulden König Jedars in die Hand drückte.
Sinamet war froh darüber. Ein Gastwirt hätte Fragen über ihre Ziele gestellt. Die nächsten Tage nutzte sie um sich in der Stadt umzuhören und die Umgebung des Palastes zu erkunden Sie sprach mit Soldaten, Huren und Betrunkenen, befragte die Schuster, Schreiber und Schlachter. Am zweiten Tag fand sie einen Händler, für den sie Lieferungen austrug, die sie am vierten Tag auch in den Palast führten. Doch leider erfuhr sie in den Gewölbekellern der Küche viel Klatsch, aber wenig Nutzbares. Sie trieb sich auch unter den Bittstellern herum, die im Hof der Kreisenden auf Gerechtigkeit durch den König hofften, immer in Sorge jemand möge sie erkennen. Aus der Ferne sah sie ihr bekannte Generäle, den Schreiber, der ihr stets die Befehle König Jedars übermittelt hatte und die Bedienstete, die ihr einst ihren schönsten Rock geflickt hatte. Niemandem von ihnen könnte sie in dieser delikaten Angelegenheit vertrauen. Zufällig erfuhr sie auch von denen, die ihre Position verloren hatten. Die damalige oberste Köchin war angeblich wegen Diebstahls davongejagt worden, der oberste Kämmerer war zu Schedela übergelaufen und die Musikerin Yidiba, die für ihre zauberhaften Gesänge bekannt war, war verstorben. Nicht alle Namen fielen. Die meisten derjenigen, die zu Schedela übergelaufen waren, wurden verschwiegen. Auch Cherews Name wurde nicht genannt.
Am Morgen des sechsten Tages verzweifelte Sinamet langsam. Sie hatte jahrelang im Palast gelebt und wusste, wie gut die Sicherheitsmaßnahmen waren. Der Geheimweg, den sie gekannt hatte, existierte nicht länger; Wachen, die ihr geholfen hätten, gab es nicht mehr. Die einzige Möglichkeit, die ihr bisher offenstand, war es, als Bittstellerin vor ihm zu erscheinen. Nur wie zugänglich würde er vor seinem ganzen Hofstaat für ihre Bitten sein? Eine Möglichkeit, privat vor ihm zu erscheinen, hatte sie nicht gefunden. Sie wagte es nicht, bei einem seiner Berater vorzusprechen, denn war das Risiko groß, dass dieser sie im Voraus ergreifen würde.
Nach einer erneuten, vergeblichen Befragerei und Sucherei fragte sie nach Cherew. Der ältere Soldat mit den perfekt polierten Stiefeln musterte sie überrascht.
„Frag nicht nach ihm, Weib. Besser ist das.“ Damit nahm er die gleiche straffe Haltung wie zuvor ein, so als ob er die wichtigste Aufgabe der Welt durchführe und auf keinen Fall dabei gestört werden dürfte. Dass es in dem Hinterhof, in dem er stand, noch weniger zu sehen als zu stehlen gab, ignorierte er geflissentlich.
Sie griff nach seinem Mantel und ließ eine Träne über ihre Wange rinnen.
„Bitte“, flehte sie, „Ich bin soweit gereist und hatte gehofft, ihn noch einmal wieder zu sehen. Wir kennen uns noch aus unser Jugend.“
Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck löste er ihre Hand von seinem Umhang.
„Schert dich fort, Alte! Deine Jammergeschichten interessieren keinen.“ Mit diesen Worten drehte er sich nach links und wendete ihr somit den Rücken zu.
Sinamet folgte ihm nach, immer noch in der Haltung einer verzweifelten Alten.
„Bitte“, bat sie erneut und ließ falsche Tränen über ihre Wangen rinnen, „Ich wollte ihn noch einmal sehen, solange Ketarias am Himmel steht, dann…“ Sie senkte den Kopf. „Muss ich sterben.“
„Geh endlich, Weib“, wiederholte er ebenfalls, „Ich habe Vorschriften, die ich einzuhalten habe.“
„Vorschriften, die Euch zwingen, einen leeren Hinterhof zu bewachen?“, fragte sie leise und so sanft, dass er kaum bemerkte, wie sie ihn vorsichtig manipulierte, den Frust, der in ihm ist, noch ein wenig aufschüttete.
Schweigen. Sein Blick wanderte über den Hinterhof, die Kisten, die in den Ecken verrotten, der schmale Grasstreifen, der von Kot sowohl von Mensch als auch Tier gesprenkelt ist. Als Sinamet das Gefühlt hatte, dass der Gedanke in ihm genug gereift war, ließ sie wieder ein Schluchzen hören.
„Nun gut“, knurrte er, „Cherew wurde entlassen, schon vor einem halben Jahr.“ Sie konnte seine Gereiztheit spüren und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Dennoch konnte sie die Euphorie nicht verneinen. Cherew lebte! Sein armer Stolz würde über diese Entlassung gekränkt sein, aber er lebte noch. Für einen winzigen Moment hatte sie all das, was zwischen ihnen vorgefallen war, vergessen, schob die letzten Jahre fort und sah wieder jenen Cherew vor sich, wie er zu König Jekars Lebzeiten gewesen war.
„Wisst Ihr, wo er sich aufhält?“, fragte sie.
Diese Antwort gab er nur noch, um sie loszuwerden.
„Geh auf die Straßen, Weib, und frag nach dem Nachtsänger.“
„Der Nachtsänger?“ Ein Blick auf sein Gesicht verriet ihr, dass jede weitere Frage vergebliche Mühe war.
Sinamet bedankte sich und verließ den Soldaten in seinem nutzlosen Dasein.
Der Nachtsänger. Jetzt musste sie ihn nur noch finden und ihn überzeugen, ihr zu helfen.
Nichts hätte schwieriger sein können.