„Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Es war selten, dass Sinamet Cherew so zornig erlebte.
„Cherew.“ Sie umfasste seinen Arm. „Es wird nichts bewirken.“ Er schüttelte sie ab, blickte dann aber doch auf das Mädchen hinab, das er mit der linken Hand fest ergriffen hatte. Schedela zitterte in ihrem Sommerkleid und hatte dennoch die Lippen zusammengepresst und den Kopf stur nach vorne gerichtet, wie immer wenn sie nicht zugeben wollte, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Sinamet hielt inne, zog den Mantel aus, den sie sich übergeworfen hatte und reichte ihn der Prinzessin. Diese zögerte für einen Moment, doch obsiegte die Kälte über den Stolz und sie hüllte sich hinein. Währenddessen hatte Cherew sie losgelassen und sich ohne ein weiteres Wort an die Spitze ihrer kleinen Gruppe gesetzt. Dort hörten sie ihn leise vor sich hinmurmeln und zornige Monologe führen, was Sinamet zu einem leisen Kommentar veranlasste. Sie war froh über das leise Kichern Schedelas.
Mit einem Seufzer zog Sinamet das Mädchen an sich, um sie zu wärmen und ihr zugleich die Furcht zu nehmen. Schedela war ein kleiner Trotzkopf, doch war sie sich sicher, dass sie sich niemals wissentlich in diese Gefahr begeben hätte. Vielmehr war sie sich schlichtweg nicht bewusst gewesen, wie gefährlich es für ein Kind sein konnte, sich von der Jagdgesellschaft zu trennen, um mit ihrem besten Freund den Wald zu erkunden. Dort hatten sich die Kinder verloren. Der Junge war bereits zum Mittag gefunden worden, aber nach Schedela hatte man noch viele Stunden gesucht. Jetzt verfärbte sich bereits die Sonne rot über dem Horizont.
Cherew ließ sich zurückfallen. Ohne das Mädchen zu beachten, meinte er: „Wir werden es nicht bis Einbruch der Dunkelheit zur Stadt schaffen.“ Besorgt nickte Sinamet. Sie deutete auf das zitternde und durchnässte Mädchen. „Wir müssen ihre Sachen trocknen, Cherew. Sie braucht ein Feuer. Die letzte Lungenentzündung hat sie nur knapp überlebt. Das darf nicht noch einmal geschehen.“
„Wir müssen vor allem aus dem Wald raus“, knurrte der Leibwächter der Prinzessin, „Die Wölfe sind so angriffslustig geworden, dass sie auch uns nicht verschonen werden.“
Sie nahm wahr, wie Schedela zusammen zuckte, als sie von den Wölfen hörte und strich dem Kind beruhigend über den Kopf.
„Erschreck sie nicht so“, fuhr sie ihn erbost an.
„Sie ist ein Königskind“, entgegnete er barsch, „Eines Tages wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit regieren. Ein paar Wölfe sollten ihr keine Angst einjagen.“ Manchmal konnte Cherew absolut unsensibel und respektlos sein. Kaum etwas regte sie sonst so auf.
„Sie ist ein Kind, Cherew“, zischte sie und drückte Schedelas Hand noch fester. „Außerdem fliehen wir nicht auch vor den Wölfen?“
Er hatte sich wieder an die Spitze ihrer Gruppe gesetzt.
„Ich kenne eine kleine Hütte. Dort sollten wir sicher sein.“ Damit schwieg er den Rest des Weges.
Die Hütte entpuppte sich als eine kleine Blockhütte inmitten des Waldes. Der Pfad, der zu ihr führte, war überwuchert und auf dem freien Platz vor dem Wohnraum hatten Büsche und niedrige Gewächse, das zurückerobert, was einst gefällt worden war. Doch die Hütte selbst sah von außen ganz passabel aus – wenn sie auch gewöhnlich keine Königskinder beherbergte. Sie war solide gezimmert, besaß eine Tür auf der Längsseite und ein Schrägdach. Kleine Tümpel hatten sich an den Seiten gebildet, wo das Regenwasser vom Dach hinabgetropft war.
„Du gehst vor“, meinte sie an Cherew gewandt, während sie sich umsah. Doch es war niemand zu sehen und nichts rührte sich.
Der Soldat stieß die Tür auf, verschwand im Inneren und rief kurz darauf, dass alles sicher war.
„Nach euch, Prinzessin“, wisperte sie und schob das Mädchen vor, bevor sie ihm nachging und die Tür hinter sich zuzog.
Zu ihrer Erleichterung war die Hütte zwar erkennbar lange verlassen, aber noch gut ausgestattet. An der rechten Wand erhob sich ein einzelnes, schmales Bett, das mit Fellen ausgelegt war, an der linken ein langes Sims, auf dem Gläser und Haushaltsgegenstände ausgebreitet waren. An dieses schloss sich ein Kamin gegenüber der Tür an, neben dem auch ein Holzstapel vorbereitet war. Die Mitte des Raumes füllte ein wackliger Holztisch aus.
„Das ist doch annehmbar“, urteilte Sinamet, nachdem sie sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte, „Cherew, du machst zunächst einmal Feuer, ich kümmere mich um etwas zu essen und Schedela Liebes, du musst aus deinen Sachen raus.“
Schedela stellte die Holzfigur wieder auf das Sims. Es schien ihr schon deutlich besser zu gehen, dennoch konnte man bei Kindern nicht vorsichtig genug sein – vor allem bei königlichen.
„Cherew, du drehst dich nicht um“, meinte sie, als sie Schedela das Kleid auszog und sie in eine Decke hüllte.
„Ich bin ein ehrbarer Mann“, knurrte er am Kamin und fluchte leise, während er versuchte, das Feuer zu entzünden.
„Ich bin müde.“ Schedela gähnte. Allein dieses Zugeständnis zeigte, wie erschöpft sie wirklich war. „Leg dich hin, während ich das Essen mache.“ Sie deckte die Prinzessin zu und strich ihr beruhigend über das Haar. Zu ihrer Freude hatten sie mit der Zeit eine wirklich enge und vertrauensvolle Beziehung entwickelt. „Glaubst du, dass mein Vater sich Sorgen macht?“, fragte sie und sah ihre Erzieherin mit großen Augen an.
„Ja“, gab Sinamet zu, „Doch er wird sich umso mehr freuen, wenn er weiß, dass es dir gut geht.“
„Ich wollte ihn nicht erschrecken“, murmelte das Kind. Mit einem liebevollen Lächeln sah Sinamet auf ihren Schützling hinab. Jeder Tag mit ihr war ein Abenteuer, denn kam sie allzu häufig auf die verrücktesten Ideen. Schon oft war Sinamet vor den König gerufen worden, um die Untaten seiner Tochter zu erklären. Sie liebte sie dennoch. Von dem kleinen Mädchen, für das sie die Verantwortung übernommen hatte, war ihr schon damals ihr Herz gestohlen worden und seitdem weigerte sie sich, es wieder her zu geben.
„Schläft sie?“ Cherew trat neben sie.
Sinamet nickte. Erleichtert trat sie an den Kamin, wo nun ein Feuer prasselte. Sie streckte die Hände den Flammen entgegen und genoss die Wärme, die ihren Körper nun durchzog.
„Danke, Cherew“, meinte sie leise.
„Wofür?“ Auch er hatte sich an das Feuer gestellt, nur dass er den Rücken der Wärme entgegenrichtete.
„Man kann sich auf dich verlassen“, erklärte sie, „Und du erledigst deine Pflicht sorgfältig.“ Sie kannten sich bereits seit Jahren, doch erst dadurch, dass sie beide in den Dienst der Prinzessin gestellt worden waren, waren sie sich wirklich begegnet. Und Sinamet hatte den Leibwächter zu schätzen gelernt.
Sie zuckte mit den Schultern. „Dafür wollte ich dir einfach danken.“
„Es ist schon seltsam, oder“, fragte er, „Hier erscheint alles so fern. Nur wir beide in einer Hütte im Wald.“
„Und eine Prinzessin, die im Palast sicherlich vermisst werden wird“, ergänzte sie und drehte sich zu ihm, sodass sie beide seitlich zum Feuer standen.
„Ja.“ Seine Finger glitten über das Kaminsims, fegten einzelne Staubflocken hinunter. „Hast du dich manchmal gefragt, was sein würde, wenn all das nicht wäre? Der Palast, die Pflichten, die Aufgaben“
„Nein“, antwortete sie offen, „Ich bin glücklich mit meinem Leben, glücklich mit den Kindern. Meine Pflichten habe ich zu meinem Leben gemacht. Du etwa nicht?“ Neugierig blickte sie zu ihm auf. Sie hatte noch nicht erlebt, dass er tiefere Fragen über das Leben stellte.
„Ich bin auch glücklich. Nur frage ich mich manchmal einfach, was gewesen wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte.“
„Was bringt denn das, Cherew?“, fragte sie leise, „Es sind Fragen, die sich die Alten am Ende ihres Lebens stellen, doch bist du ein junger Mann in der Blüte seines Lebens.“ Sie blickte zu Schedela hinüber. Das Mädchen schnarchte leise und ihre Brust hob sich regelmäßig im Takt ihrer Atemzüge.
„Aber hast du dich nie gefragt, was du in zehn Jahren erreicht haben möchtest?“, beharrte er.
Sinamet zögerte. „Ja“, gab sie schließlich zu, „und dann stellte ich fest, dass ich lieber den Moment festhalte, anstatt auf eine ferne, wohlmöglich nie eintreffende Zukunft zu harren.“
„Cherew!“ Verunsichert wich sie ein Stück zurück. „Was ist los?“
„Ich denke nur nach“, entgegnete er. Sie glaubte ihm nicht. Er sah sie nur an. Um sich abzulenken, fuhr sie mit den Fingern eine Scharte im Sims des Kamins nach. Es war ein zunächst feiner Riss, der sich zunehmend verbreiterte und aufspaltete. Man könnte es fast als schön bezeichnen.
„Sinamet.“ Sie zuckte zusammen, als sie seine Finger an ihrer Wange spürte. Sie waren kalt, aber es war nicht der Kälte wegen, weshalb sie zitterte. Sie hob ihre Hand, wollte seine fortschieben, als die seine sich von ihrer Wange löste und ihr Handgelenk umklammerte. Es war keine rohe Gewalt, aber ein fester, stetiger Druck, den er ausübte.
„Sinamet.“ Wieder flüsterte er nur ihren Namen.
„Cherew.“ Sie wusste selbst nicht, weshalb sie innehielt, als er sich hinabbeugte und seine Lippen die ihren berührten. Unendlich sanft näherten sie sich, wurden dann stärker und fordernder. „Cherew!“ Mit der freien Hand stieß sie ihn von sich, wich zurück, bis sie mit dem Rücken an den Kamin stieß und die Hitze spürte. Lieber spürte sie die Hitze in ihrem Rücken als sein Verlangen. Es genügte, dass sie diese in seinen Augen sah, auch wenn es sich jetzt mit Schmerz mischte. Einen Schritt stolperte er zurück, blickte sie an. Den Blick senkte er, fast wie ein unsicherer Welpe.
„Cherew, lass es!“ Ihr Herz pochte wie wild. Eilig wischte sie sich über die Lippen, als könne sie damit auch die Erinnerung an das eben Geschehene fortwischen. Schedela. Sie blickte zu ihr hinüber. Aber das Mädchen schlief, unbekümmert, unwissend von jenen Problemen, die sie später mit Sicherheit ebenfalls zu Genüge erleben würde.
„Was denn?“, fragte er, den Blick immer noch zu Boden gerichtet.
„Was ist, wenn sie etwas gesehen hätte?“, zischte sie.
Er sah auf. Zorn.
„Sie schläft“, fauchte er, „Verdammt, Sinamet! Besteht dein Leben denn nur aus Pflichten? Bist du nicht mehr, als die Erzieherin dieses Kindes?“
„Cherew.“ Sie wagte es, einen Schritt näher heran zu treten. „Dieses Kind ist alles, was ich an Familie habe.“
„Lass mich ein Teil davon sein, von deiner Familie, meine ich.“ Er erschien ihr so jung, wie er vor ihr stand. Äußerlich mochte er deutlich größer sein, aber im Inneren war er so viel jünger geblieben.
„Cherew.“ Sie schüttelte den Kopf. „Finde erst einmal dich selbst und baue deinem Leben ein Fundament, bevor du versuchst anderen ein Fundament zu sein. Sonst wirst du nur scheitern.“
„Sinamet…“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie hing in der Luft zwischen ihnen. Für einen Mann und Soldaten besaß er erstaunlich zarte Finger. Sie waren lang, doch dünn und fein.
„Eigentlich meinst du, dass ich erwachsen werden soll“, erkannte er und zog seine Hand zurück.
Stumm nickte sie.
„Ich glaube nur, dass unsere Definitionen davon nicht zueinander passen.“
Sinamet atmete einmal tief ein.
Er kam ihr zuvor.
„Wenn du möchtest, kann es hier bleiben. Wir sind fern des Palastes, niemand muss es erfahren.“
Sie seufzte. „Niemand darf es erfahren, Cherew. Ich wache über die Moral Schedelas, da kann ich mir so etwas nicht erlauben, wenn ich nicht als unzuverlässig gelten will.“
„Und wenn ich dich heiraten würde?“
Sinamet hielt in ihrer Bewegung inne. Mit keiner Aussage hätte er sie mehr überraschen können.
„Heiraten? Du.“ Auch wenn sie sah, dass es ihn verletzte, konnte sie das kurze Auflachen nicht mehr verhindern.
„Was ist falsch daran?“, fragte er und sah ihr in die Augen.
„Cherew“, flüsterte sie, „Ich kann nicht.“ Es war nicht, dass sie ihn nicht mochte, doch würde sie ihm in dieser Hinsicht nie vertrauen. Freundschaft war etwas anderes als eine Beziehung. Sie hatte erlebt, wie unzuverlässig er sein konnte, wie stolz und schwierig seine Reaktionen manchmal waren. Er mochte ein guter Soldat sein, aber er würde nie jener zuverlässige und ausgeglichene Partner sein, den sie brauchte.
„In Ordnung“, entgegnete er. „Es bleibt hier.“
„Versprochen?“
Ihrer beider Blick fiel zu dem Mädchen, das friedlich schlummerte. Sie waren beide durch Verpflichtungen an sie gekettet.
„Versprochen“, flüsterte Cherew und senkte den Blick.
Es schmerzte sie, ihn so gebrochen zu sehen. Zugleich wusste sie, dass es das Richtige war. Er hätte sie immer wieder enttäuscht. Ihr Herz gehörte ihrem kleinen Schützling und solange es ihr galt, konnte sie es nicht an einen Mann binden. Unmöglich.