„Cherew!“ Sinamet hielt den Leibwächter am Arm fest. Kalt. Ihre Finger glitten an der Rüstung ab, die er trug. „Was ist passiert?“
Ein Trupp Soldaten lief in diesem Moment an ihnen vorbei und kreuzte dabei eine Schar aufgeregter Mägde, die ihnen mit wehenden Röcken auswichen. Es herrschte Chaos in diesem Teil des Palastes, doch hatte ihr bisher niemand sagen können, was geschehen war.
„Ich weiß es nicht.“ Seine Hand lag auf dem Griff seines Schwertes. „Ich weiß es nicht, Sinamet.“
„Hauptmann!“ Ein keuchender Soldat, der Cherew unterstand, kämpfte sich durch die Schar Mägde und blieb vor ihnen stehen.
„Ihr solltet kommen.“
„Der König?“ Cherew blickte seinen Mann forschend an. Schedmasal sollte sich eigentlich bei der Totenwache am Grab seines Vaters befinden. Es war die zweite Nacht, die er Wache stand und die Grabhalle der Könige Callingers war außerhalb der Stadt errichtet.
„Nein, der König ist noch fort.“
„Die Königin?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Kommt, Herr! Schnell!“
Ohne eine weitere Frage zu stellen, folgte Cherew seinem Soldaten. Besorgt lief Sinamet ihnen hinterher. Sie war längst nicht so schnell wie die beiden Männer mit ihren langen Beinen, doch verlor sie diese nie ganz aus den Augen. Sie verließen den Wohnturm der Königin, folgten dem Gang der weinenden Alten, der direkt zu dem des Königs führte und stiegen die gewaltige Wendeltreppe hinauf. Weitere Soldaten Cherews schlossen sich ihnen an.
Es war das erste Mal seit langem, dass Sinamet sich fürchtete. Ihr Herz raste, als sie höher und höher stiegen, an Schedmasals Bibliothek, dem Wohnraum und dem Arbeitszimmer vorbei. Dann sahen sie den ersten Toten.
Der Soldat aus Cherews Trupp lag mit verengten Gliedern mitten auf der Treppe. Cherew hockte neben dem Leichnam.
„War schon jemand oben?“, fragte er den Soldaten, der ihn hergeleitet hatte.
„Nein.“
„Es war noch keiner oben?“, tobte Cherew, „Wenn es dort oben Verletzte gibt oder der Mörder noch dort ist. Denkt denn keiner von euch Hundesöhnen nach?“ Knurrend richtete er sich auf, zog das Schwert und bedeutete den Soldaten ihm zu folgen.
„Du bleibst hier“, befahl er Sinamet barsch.
Sie ließ die Soldaten vorgehen, dann rannte sie ebenfalls die Stufen hinauf. Wild hämmerten die Gedanken hinter ihrer Stirn. Was mochte geschehen sein? Mit jeder Stufe, die sie lief, stieg die Furcht vor dem, was sie gleich erblicken mochte. Noch eine Kurve, noch eine Stufe. Sollte sie erleichtert sein, dass vor ihr nicht gekämpft wurde? Jemand fluchte. Es störte sie in diesem Moment nicht. Stattdessen Furcht.
Dann war sie oben. Links ging es zum Schlafzimmer von Schedmasal und Malkat, die sich tatsächlich ein Zimmer teilten, rechts waren die Räumlichkeiten ihres einzigen Kindes, Joresch. Und hier…Sinamet wandte den Blick ab. Zwei weitere Soldaten lagen in Pfützen geronnenen Blutes auf dem Boden. Das Gesicht des einen war nur noch eine blutige Fratze und unter Sinamets Stiefeln knirschte ein Zahn, als sie darauf trat. Der zweite Soldat war fast friedlich an die Wand gelehnt, nur das Loch in seiner Brust zeugte von seinem gewaltsamen Tod.
„Das war’n Speer“, urteilte einer der Soldaten, die draußen warteten und sich nervös umsahen. „Idiot. M’nem Speer kannste hier doch kaum kämpen.“
Sinamet ignorierte ihn. Die Galle sammelte sich in ihrer Kehle und sie musste sich sehr zusammenreißen, als ihr der intensive Geruch des Blutes in die Nase stieg. Sie kniete sich an der Seite des einen Soldaten nieder. Blut befleckte ihre Röcke und ihre Hände. Es war ein junger Mann, dessen Augen panisch die Treppe hinab starrten. Aber seine Hände, seine Hände umfassten etwas, das sie nun vorsichtig hinausnahm. Erkennend schloss sie die Augen. Hüte dich vor jedem Becher Wein. Ihre Finger schlossen sich um das winzige, schwarze Blatt, das sie in den Händen des Toten gefunden hatte. Es gab ihren Berührungen nach, schmiegte sich an ihre Haut, doch zerbrach es nicht, obwohl es Jahre alt war. Der Tod, den der junge Soldat hierdurch erlitten hätte, wäre viel schmerzhafter als das langsame Verbluten durch einen schlecht ausgeführten Speerstoß.
Sie trat an den Soldaten vorbei und in das Schlafzimmer des Königssohnes. Aus den Augenwinkeln sah sie Cherew, der auf einen seiner Männer einredete und auf die Leiche von Joreschs persönlichem Diener deutete. In einer anderen Ecke lagen wiederum zwei tote Soldaten, doch von dem Königssohn selbst war nichts zu sehen. Wie in Trance trat sie auf das Bett des Jungen zu, dass von dem Chaos seltsam unberührt zu sein schien. Einige Blutsspritzer verunreinigten das Fell des weißen Bären, den Schedmasal vorletztes Jahr erlegt hatte, doch das Bett selbst war nicht verändert worden. Bis auf…Sie beugte sich hinab. Wage nahm sie Cherew war, der ihren Namen rief. Sie beachtete ihn nicht. Ihre Finger tasteten über den Bogen, rollten einen kleinen Holzball beiseite und fanden endlich das, was sie befürchtet hatte. Fürchte jede Nacht Schlaf. Ihre Finger schlossen sich um die Feder, die unter dem Bett gelegen hatte. Eine rote Feder. Ehemals weiß, nun in Blut getaucht. Sie richtete sich auf.
„Sinamet.“ Cherew legte ihr die Hand auf die Schulter, „Du solltest wegbleiben.“
Stumm streckte sie ihre Hand aus. Ein schwarzes Blatt und eine rote Feder. Er wusste, was es bedeutete, sie wusste es, alle wussten es.
„Es…“ Er brach ab, sah sich im Raum um. Ebenso wie sie hatte er verstanden, worum es ging.
„Da.“ Ein Teppich lag unscheinbar vor einem Schrank. Unter ihm knirschte es, als Sinamet darauf trat.
„Tu du es“, bat sie und hielt die Tränen nicht länger zurück.
Ohne zu zögern, schlug Cherew den Teppich um. Sinamet beugte sich hinab und ergriff eine einzige Perle. Winzig klein. Daneben glänzten Silber und weitere Perlen, verstreut und ohne Zusammenhalt. Einst war es ein Schmuckstück gewesen. Beweine den Untergang deiner Familie.
„Sinamet.“ Keine einzige Träne zeigte sich an seiner Wange. „Ich kenne dieses Schmuckstück.“
Sie schloss die Augen, als wolle sie so die Wahrheit vergessen, die sich hier zu ihren Füßen abzeichnete. Konnte das denn sein? Konnte wirklich alles, was sie zu wissen geglaubt hatte, falsch sein? Konnte sie sich so geirrt haben.
Nein.
Schedela.
Sie rannte. Cherew hatte sie nicht zurückgehalten, als sie sich umgewandt hatte und aus dem Raum gelaufen war. Stattdessen hatte er seinen Soldaten befohlen, weiter nach Joresch zu suchen.
Menschen, Räume, Gegenstände. Sie alle verschwammen vor Sinamets Augen, als sie die Wendeltreppe hinunterraste. Ihre Gedanken waren nur noch fokussiert auf jene eine Person, der mehr als jede andere ihr Herz galt. Schedela. Sie musste nicht viel überlegen, um zu wissen, wo sich die Königin aufhalten würde. Es war ihr kleines Mädchen. Niemand kannte sie besser.
Sie rannte.
Es roch nach Heu, Pferdeäpfeln und nassem Fell. Pferde schnaubten und wieherten leise, als Sinamet durch die Boxenreihen lief. Eine Pferdenase schwebte plötzlich über ihrem Kopf, eine hübscher Schecke drehte ihr neugierig den Kopf zu, ein Schimmel schoberte leise. Es war Nacht und die Unruhe des Königturms hatte die Stallungen noch nicht erfasst. Für die Stallburschen war es noch zu früh, sodass die Ställe menschenleer waren. Fast.
Sie eilte schneller, hörte die Bewegungen am anderen Ende der Stallung, eine leise Stimme. Dann war sie um die Ecke herum.
Schedela bemerkte sie sofort. Sie blickte von dem Pferd, das sie soeben sattelte, hoch. Die Schnalle des Sattelgurtes traf auf einen Stein, als sie ihn losließ und erzeugte so ein leises, fast schönes Klingen.
„Sinamet, warum bist du hier?“, fragte Schedela und blieb stockstarr stehen.
„Warum bist du hier?“, gab Sinamet zurück und blieb der Prinzessin gegenüber stehen.
„Du solltest nicht hier sein“, murmelte die Königin und wandte sich wieder ihrer Stute zu. Weinte sie?
„Du fliehst“, stellte Sinamet sanft fest. Schon als Kind hatte Schedela sich lieber versteckt, als einen Fehler zuzugeben und stattdessen gehofft, dass er in Vergessenheit geraten würde. Doch hatte dies nichts mit aufgegessenen Leckereien zu tun, sondern mit dem Verschwinden ihres Neffen und dem Tod von einem halben Dutzend Soldaten.
Schweigen. Nur die Rappstute schnaubte leise, als Schedela den Sattelgurt festzog und nach dem Zaumzeug griff. All dies tat sie mit einer raschen, routinierten Effizienz, das ihre Erfahrung zeigte.
„Weshalb fliehst du?“, fragte Sinamet leise.
Ihr Schützling wirbelte herum. Das lange, schwarze Haar legte sich wie ein Schleier über ihre Schultern. Es war zerzaust und nicht zu Recht gemacht. Die Kleidung war nachlässig geschnürt und sie hatte nur einen schmalen Packen bei sich. Erkennbar war Schedela nicht auf eine Flucht vorbereitet gewesen. Tränen schimmerten in ihren Augen.
„Ich habe ihn nicht getötet, Sinamet. Ich habe nichts damit zu tun.“
„Aber wenn du nichts damit zu tun hast, welchen Grund hast du zu fliehen?“
Schedela sah sie an.
„Weil mein Bruder mir nicht glauben wird“, flüsterte sie.
„Dein Bruder…“ Sie brach ab. „Dein Bruder wird keinen Unschuldigen verurteilen.“ Dieser Sache war sie sich gewiss.
„Mein Bruder ist der König und das meine ich so. Er sieht sich als mein Vater und will alles tun, um in seine Fußstapfen zu treten. Oder besser in die Fußstapfen, wie er ihn gesehen hat.“ Ihre Stimme wurde zunehmend flüssiger, ihr Auftreten sicherer. Jener Moment der Schwäche und Unsicherheit war vergangen und somit auch die Möglichkeit, ihr ihre Entscheidung auszureden.
„Weißt du, welchen Thronnamen er für sich wählen möchte?“ Sinamet runzelte die Stirn. Erkennbar versuchte Schedela von etwas abzulenken, nur von was? In einer Woche – nach dem Ablauf der Trauerzeit – hatte die Krönung stattfinden sollen, mit der Schedela und Schedmasal das erste Doppelkönigtum in der Geschichte Callingers begründen wollten. Und jetzt…?
„Jekarbaq. Ich werde der Ehre anhängen.“
„Er schließt damit an die Regentschaft eures Vaters Jekar an, ist das falsch?“
„Richtig ist es auch nicht“, knurrte Schedela und legte dem Pferd das Zaumzeug an.
Überrascht musterte sie ihre Ziehtochter. Es schien ihr, als ob Schedelas Sicht auf ihren Vater sich gewandelt hatte, als ob irgendetwas sie beeinflusst hatte. Zu Lebzeiten hatte es zwar immer wieder kleine Konflikte gegeben, doch hatte sie ihren Vater stets geliebt. Nun dagegen schien sie jeden seiner Gedanken im Nachhinein zu verachten, jedes Zeugnis seiner selbst zu meiden.
„Schedela“, wagte Sinamet sich vor, „Was habt Ihr erfahren?“
Sie zog die letzte Schnalle fest, trat an die Seite des Tieres und schwang sich in den Sattel.
„Nichts, was etwas an dieser Situation ändern könnte.“
„Schedela!“ Sie trat vor das Pferd und griff in die Zügel. Rau lag das Leder in ihrer Hand. „Weshalb flieht Ihr, wenn Ihr nichts mit Joreschs Verschwinden zu tun habt?“, wiederholte sie.
„Weil jeder denken wird, dass ich es war.“
„Ich tue es nicht“, erwiderte Sinamet wahrheitsgemäß und sah zu ihrem Schützling auf. Mehr als alles andere wünschte sie sich in diesem Moment, dass sie die Frau so wie einst das Mädchen in den Arm nehmen und ihr die Gedanken entlocken könnte, die sie sosehr quälten. Sie hatte nie wirklich geglaubt, dass Schedela ihrem Neffen etwas hätte antun können und dennoch gab es einen Grund aus dem sie floh und dieser war nicht nur in der Angst vor möglichen Schuldzuweisungen zu suchen.
„Natürlich.“ Die Königin beugte sich vorsichtig hinab und löste die Hand ihrer Ziehmutter von den Zügeln. „Lebt wohl, Sinamet und passt auf Euch auf.“ Die Hufe des Rappen klackerten durch die Stallgasse, die Gestalt der Reiterin wurde immer kleiner.
Es ging so abrupt, so schnell. Vor achtundzwanzig Jahren hatte ein Säugling in ihren Armen gelegen und nun wandte sich eben jene Frau von ihr ab, ohne dass sie ihr hätte folgen können.
„Schedela!“, rief sie. „Woher wusstet Ihr von dem Überfall auf Joresch noch bevor Cherews Soldaten ihn entdeckten?“
Sie hielt inne und sah zurück.
„Ich danke Euch, Sinamet, für alles, was Ihr für mich getan habt.“
Dann war sie fort und ließ die Fragen zurück, die wie Blätter durch Sinamets leeren Verstand schwebten. Es war ein heftiger Wind, der sie immer wieder hochwirbelte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Das Einzige, worüber sie sich gewiss war, das war ihre Trauer. Denn am heutigen Tag, das wusste sie, hatte sie nicht nur Schedela endgültig verloren sondern sie würde auch Schedmasal verlieren.
Stumm sank sie an die Boxenwand und weinte, weil sie nicht mehr wusste, wer sie war.