Schedela weinte. Tränen rannen der jungen Frau über das Gesicht, glänzten zwischen ihren Wimpern. Stumm stand sie an der Seite des Bettes. Die Tränen waren der einzige Ausdruck von Schmerz, den sie sich zuzugestehen schien.
Sinamet sah die Tränen und sie wünschte sich, dass sie etwas sagen, etwas tun könnte, um ihren Schützling, der sich schon lange nicht mehr als ihr Schützling sah, zu trösten. Doch sie war nur die ehemalige Erzieherin der Kinder und besaß kein Anrecht darauf an das Bett des Sterbenden zu treten.
Es war Schedmasal, der das Leid seiner Schwester sah und stumm an ihre Seite trat. Sanft strich er ihr über den Rücken. Sinamet konnte die Worte nicht hören, die er ihr zuflüsterte, doch wusste sie, dass die Zwillinge sich nun allen Halt geben würden, den sie benötigten. Schon als Kinder hatten sie sich in schwierigen Zeiten aneinander geklammert, während sie in den glücklichen allzu oft aufeinander eingedroschen hatten.
Aber nun lehnte Schedela den Kopf an die Brust ihres größeren Bruders und barg ihr Gesicht an seiner Uniform. Allein diese Handlung zeigte Sinamet wie schwer die Prinzessin mit dem Sterben ihres Vaters zu kämpfen hatte.
Hinter Sinamet öffnete sich die Tür. Der Lockenkopf von Joresch erschien, hinter ihm folgte seine Mutter Malkat. Der siebenjährige Junge ließ die Hand seiner Mutter los und trat langsam zu seinem Vater. Schedmasal strich seinem Sohn über den Kopf und nahm ihn an die Hand. Er war ein hübsches, lebhaftes Kind mit einer ausgeprägten Fantasie, das seinen Großvater stets mit Stolz erfüllt hatte. Für Sinamet war es immer noch unbegreiflich, dass der Junge, den sie einst erzogen hatte, nun selbst ein Kind hatte.
„Großvater“, flüsterte Joresch laut, „Du siehst müde aus.“
Schedela schluchzte auf.
„Müde, mein Junge. Ja, das bin ich“, krächzte König Jekar, bevor er erneut in einen Hustenanfall ausbrach.
Einer der Ärzte wollte an das Bett treten, doch Schedmasal hielt ihn zurück. „Lasst meinen Vater in Ruhe.“
Der Arzt protestierte, doch nach einigen harschen Worten des Königssohns trat er zurück in die andere Ecke des Zimmers.
„Joresch.“ Jekars Stimme war noch immer laut und durchdringend. Es war sein Körper, der ihm zunehmend den Dienst versagte, nicht seine Stimme oder gar sein Wille. „Behalte mich in guter Erinnerung, Junge und werde ein guter, fairer Mann. Komm her.“
Joresch drehte sich um, sah zunächst zu seiner Mutter, die ein wenig abseits der Gruppe stand, dann zu seinem Vater, der ihn sanft vorwärts schob.
Sinamet konnte ihn nicht länger sehen, weil sein Vater und seine Tante den schmalen Körper verdeckten, aber sie wusste, dass König Jekar ihm leise weitere Ratschläge erteilen würde.
Nach wenigen Minuten trat der Junge zurück.
„Erzieht ihn gut, Malkat“, meinte Jekar zu seiner Schwiegertochter, „Passt auf ihn auf und fördert seine Stärken.“
„Das werde ich tun“, entgegnete die junge Frau mit zitternder Stimme und erwies ihm mit einer Verbeugung, die er gewiss nicht sehen konnte, Ehre.
„Und jetzt lasst mich und meine Kinder allein.“ Sinamet folgte Malkat und Joresch nach draußen. Als auch der letzte Höfling verschwunden war, schloss Schedmasal die Tür zum Sterbezimmer. Nur einen letzten Blick erhaschte sie auf das schmale Gesicht Schedelas und das Bett des Kranken, dann war ihr auch diese Sicht verwehrt.
Sie blickte den Röcken Malkats hinterher, die soeben an der Ecke des Flures verschwand, schenkte dem Arzt, der vor der Tür stehen blieb, ein Schulterzucken und nickte den beiden engsten und ältesten Ratgebern Jekars zu, die es ebenfalls vorzogen zu warten. Sie alle, egal ob sie gingen oder blieben, wussten von der unabdingbaren Nachricht, die kommen würde. Vielleicht fürchtete Sinamet sie sogar. Jekar war ein beständiger, verlässlicher Monarch gewesen. Kein perfekter König – im Konflikt mit dem Nachtbarland Lovinov war er viel zu vorsichtig gewesen, was zu vielen Toten geführt hatte – doch einer, bei dem sie gewusst hatte, was zu erwarten war. Aber jetzt wusste sie nicht, was auf sie zukommen würde. Schedela und Schedmasal waren jung, idealistisch, stur und manchmal viel zu spontan. Die gemeinsame Regentschaft der beiden, die Jekar in seinen letzten gesunden Tagen bekannt gegeben hatte, würde einige Konflikte überstehen müssen, bis wirklich Stabilität herrschen konnte. Eine Doppelregentschaft hatte es zuvor noch nie gegeben und es war ein ungewöhnlicher Schritt von Jekar gewesen, die Krone seinen beiden Kindern zu überlassen, doch es war ein konsequenter und vermutlich der beste. Sinamet kannte ihre beiden Schützlinge und sie wusste, dass keiner von ihnen eine Zurückweisung akzeptieren würde – vor allem nicht, wenn es um so ein essentielles Recht wie das um den Thron ging.
Sinamet war erleichtert, als sie Cherew erblickte, der soeben auf das Krankenzimmer zukam. Als er sie erblickte, nickte er freundlich und gesellte sich zu ihr.
„Es geht zu Ende, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte sie mit einem Seufzer, „er wird sterben.“
„Wie geht es ihnen?“, fragte er leise. Ihnen. Manchmal vergaß sie, dass Cherew die Königskinder nicht weniger als sie jahrelang behütet und versorgt hatte. Zunächst ein einfacher Wächter ihrer Leibwache, was eine hohe Ehre war, hatte er sich in den Jahren hochgearbeitet und war nun Anführer ihrer Garde. Es war eine andere Art der Pflicht, als Sinamet selbst sie ausübte und ausgeübt hatte, aber das Schicksal der Thronerben band sie aneinander.
„Sie trauern“, bekannte sie.
„Aber wie lange?“ Sie wusste, dass er nun wieder in politische Erwägungen verfiel. Nicht, dass sie selbst sich viel damit beschäftigt hätte, aber sie kannte Cherew, genauso wie sie die beiden Kinder im Inneren des Raumes kannte. Sie schwieg und ließ ihn reden.
„Es wird nicht leicht sein, eine starke Regierung zu formen. Die letzten Jahre waren…Nun Jedar pflegte, einige Probleme zu ignorieren, doch wuchsen diese an und werden seinen Kindern einen schwierigen Start verschaffen.“ Er sprach leise, sodass niemand sie hören konnte, dennoch sah Sinamet sich besorgt um. Panik zu verbreiten, würde jetzt niemandem helfen.
„Sie werden es schaffen“, entgegnete sie, „Sie werden es schaffen.“
Cherew blieb ihr eine Antwort schuldig.
Als die Tür sich wieder öffnete, ging die Sonne soeben unter. Goldene und rote Lichtstrahlen fielen in den Gang, ergossen sich über den Fliesen und schenkten den weiß verputzen Wänden einen goldroten Schimmer.
Die Gestalten von Schedmasal und Schedela warfen große Schatten an die Wände. Ihrer beiden Gesichter waren von Trauer verzerrt, doch zugleich zeugte die aufrechte Haltung von einer inneren Stärke, die Sinamet überraschte. Konnten Menschen stark und schwach zugleich sein? Oder war es eben diese Schwäche, die ihnen die Kraft verlieh, die sie jetzt so sehr auszeichnete?
Nun stand jeder für sich alleine. Schedmasal und Schedela. Doch konnte Sinamet eine stillschweigende Einheit zwischen ihnen spüren, die sie mehr als alles andere beruhigte.
Cherew sank auf die Knie, neigte den Kopf vor den beiden Menschen, mit denen er Jahre zuvor über die Wiesen getobt war. Sinamet folgte seinem Beispiel und senkte den Blick. Rund um sie herum raschelte die Kleidung, als der Hofstaat sich vor jenen zu Boden warf, die in Zukunft über ihr Schicksal entscheiden würden.
„Erhebt euch!“ Sie hatten beide zugleich gesprochen.
Sinamet hob den Blick, sah zu ihren Schützlingen hinauf, die ihre Dienste nun nicht länger benötigten. Sie empfand diesen Moment als berührend, kraftvoll und ermutigend. Zugleich jedoch schmerzte er, weil es die beiden Kinder aus ihrer Verantwortung entließ und ihr etwas zeigte, was sie lange nicht hatte wahrnehmen wollen: Sie waren erwachsen. Vergessen, das wusste sie, würde sie diesen Moment nie.
Sie richtete sich auf, strich ihr Kleid mit den Händen glatt und starrte auf die Wand neben Schedela. Vielleicht weil sie es nicht wagte, ihre Kinder anzusehen.
„Wir danken euch.“ Schedmasals Stimme war heiser. „Gemäß dem Wunsch meines Vaters soll er in den Hallen seiner Vorväter zur Ruhe gebettet und die Trauerzeit von einem Mondlauf eingehalten werden. Den Beginn der Totenwache werden ich und meine Schwester gemeinsam übernehmen, die Mitteltage der Trauerzeit sie und die Endtage ich übernehmen.“ Er stockte. „Die genauen Abläufe werden wir miteinander abstimmen und dem Hof mitteilen lassen.“ Sie sah die Erschöpfung in seinem Gesicht, die seine Stimme zum Ende hin langsamer und leiser werden ließ. Leider war Malkat momentan nirgends zu erblicken, denn Schedmasal würde seine Ehefrau in der nächsten Zeit besonders brauchen.
Schedela bemerkte die Schwäche ihres Bruders, ergriff das Wort und erteilte Anweisungen, den Leichnam den Riten gemäß vorzubereiten, die Nachricht zu verbreiten und die sieben Zeichen der Trauer über dem Palast anzubringen. Dann entließ sie den versammelten Hofstaat. Cherew legte Sinamet kurz die Hand auf die Schulter, dann winkte er seine Männer zusammen und formierte die Leibwache der Majestäten.
Schedmasal wechselte einige kurze Worte mit seiner Schwester, bevor er geschützt von seiner Leibwache, den Gang verließ und in Richtung seines Wohnturmes ging. Schedela blieb stehen. Höflinge verneigten sich vor ihr, verließen den Ort des Todes und ließen sie allein zurück. Noch würde es dauern bis die ersten Todeswahrerinnen erscheinen würden, um den Körper für die letzte Reise vorzubereiten. Nur Schedela, sie und ihre Leibwächter standen in dem Gang.
Schedela hob den Blick, richtete ihn auf ihre Erzieherin und trat auf sie zu.
„Ich…ich habe.“ Sie brach ab, doch wusste Sinamet, dass sie die Königin nun nicht unterbrechen durfte. „Ich habe viel von Euch verlangt, Sinamet und ich kann verstehen, wenn Ihr Euch in Euren wohlverdienten Ruhestand zurückziehen wollt, doch…“ Es war ungewöhnlich, dass Schedela sie siezte. Sinamet stand im Rang unter ihr und auch in der Gesellschaft anderer hatte die nunmehrige Königin sie selten gesiezt. Es zeugte davon, wie wichtig ihr dieser Moment war. „…ich bitte Euch, bei mir zu bleiben und mir weiterhin zu dienen.“
Sinamet sank in einen Knicks, ohne sich etwas anzumerken.
„Es wäre mir eine Ehre, Majestät“, erwiderte sie.
Als Sinamet sich wieder aufrichtete, glänzten Tränen in ihren Augen.
„Immer.“