Sie alle standen um den Tisch herum, beratschlagten und urteilten über etwas, über jemanden, den sie nicht verstanden. Sinamet stand an der Wand des Raumes, unbeachtet von den großen Generälen und Adeligen, die sich um Schedmasal drängten. Sie redeten auf ihn ein, sprachen von Ruhm und Rache und verstanden doch nicht, über was sie redeten. Der König sah so verloren aus, wie er zwischen ihnen stand, die Arme auf den Tisch mit der Landkarte gestützt, als könne dieser ihn jenen Halt geben, den er verloren hatte.
„Majestät“, erhob so eben einer von diesen Stiefelleckern die Stimme, „Dieser Bericht kommt von einem zuverlässigen Späher! Eure…“ Er brach ab, wagte es nicht ihren Namen oder ihre ehemalige Stellung in den Mund zu nehmen. „Die Verräterin sammelt Truppen um sich!“
„Dies ist wahr“, stimmte ein anderer zu. „Und Euer Rivale, König Stawla von Resof hat ihr öffentlich Zuflucht geboten.“
Sinamet konnte ein leichtes Aufschnauben nicht verhindern. Stawla würde Schedela vor den Brautaltar zerren, kaum dass sie die Grenze überschritten hatte und danach einen Krieg mit Schedmasal beginnen, um die Krone über dieses Land zu erringen. Für andere mochte die Macht von Resof ein erstrebenswertes Ziel sein, doch Sinamet kannte Schedela und wusste, dass sie nie auf dieses Angebot eingehen würde. Sicherlich würde sie politische Allianzen eingehen, aber niemals ihren Kampf in die Hände eines anderen legen. Nein. Schedela würde stur bleiben.
Doch war nicht genau das der Punkt? Sie war es die ihr Mädchen besser als jeden anderen kannte, während diese ordensgeschmückten Affen dies nicht taten.
„Wenn sie ihn in die Hände Stawlas übergibt, hätte dieser Euch in der Hand, Majestät“, meinte ein älterer Würdenträger.
„Ja, es ist unbestreitbar, dass Schedela ihn nicht freigeben wird.“
„Und wenn ein anderer sie besiegt und ihn als Geisel nimmt, was dann? Man stelle ihn sich in den Händen von Lovoriv oder Flagunt vor.“
„Joresch! Verdammt.“ Es genügten diese beiden Worte, um die Ratgeber zum Schweigen zu bringen. Der König – er war wirklich der König – beugte sich über die Karte und die Berichte, die auf Zetteln über den Tisch verteilt waren.
„Dies widerspricht sich“, stellte er mit einer simplen Feststellung fest. „Schedela wird niemals zu Stawlas gehen, einfach, weil sie ihm nie trauen konnte und es auch nie wird.“ Immerhin das hatte er verstanden, wenn auch sonst nicht viel. Sie erinnerte sich an all die Stunden, wo er ihren Vorträgen noch gelauscht hatte. Es erschien ihr Ewigkeiten her zu sein.
„Aber ihre Truppen.“ Er zeigte auf die Karte. „Wer würde ihr Truppen stellen? Der Westen stand uns schon immer nicht sonderlich loyal gegenüber.“
Namen wurden hineingerufen, kurz darauf widersprachen sie einander und riefen noch mehr durcheinander.
Sinamet blickte zu Cherew, der neben ihr stand. Sein Blick war auf die versammelte Gruppe gerichtet, wie stets ruhte seine Hand auf dem Knauf seiner Waffe.
„Es ist falsch“, flüsterte sie ihm zu, „Sie reden über Schedela, als wäre sie für sie gestorben.“
Cherew drehte seinen Oberkörper ein wenig zu ihr.
„Sie haben Schedela schon lange zu Grabe getragen“, bekannte er, nur um sie kurz darauf wieder anzublicken. „Hör auf damit, Sinamet. Es bewirkt nur Schaden.“
„Ich habe ihr die Treue geschworen“, beharrte Sinamet, „Und ihrem Vater habe ich versprochen, sie zu beschützen.“
„Sinamet…“, flüsterte er. Sie ignorierte ihn und verspürte nichts als Zorn, während sie in die Mitte des Raumes trat.
„Meine Herren“, begann sie knapp, „Ich habe diese Frau, über die ihr heute zu urteilen versucht, erzogen.“ Sie neigte den Kopf vor dem König. „Ist es mir erlaubt zu sprechen?“
Er nickte, wenn auch unwillig.
„Ihr seid der Meinung, dass Schedela diese Tat begangen hat, doch für mich ergibt das nicht den geringsten Sinn. Sie hat kein Motiv, keinen Grund.“
„Keinen Grund?“, fragte einer dieser unerträglichen Jungspunde, mit denen Schedmasal sich in letzter Zeit so liebend gerne umgeben hatte – bevor er sie verbannt hatte.
„Nur eine Krone, für die viele schon schlimmere Verbrechen begangen haben“, höhnte er.
„Eine Krone, die ihr dem Recht nach zustände“, beharrte Sinamet und trat vor.
„Hör auf!“, zischte Cherew in ihrem Rücken, aber sie ignorierte es.
Der Jüngling warf einen unsicheren Blick zu seinem König, der ihn jedoch nicht erwiderte, weshalb er fort fuhr: „Der Junge war der Thronerbe. Wenn die Verräterin ihn und danach seine Majestät aus dem Weg geräumt hätte, so stünde ihr der Weg vollends frei.“
„Sie hätte nie…“
„Sie hätte“, fiel er ihr ins Wort, „Oder könnt Ihr mir sagen, wo der Junge hingekommen ist?“ Natürlich konnte sie es nicht, doch allein diese Aussage ließ sie auf eine Stufe mit Schedela wirken.
„Nein, doch war es nicht die Königin“, entgegnete sie schwach.
Schedmasal wirbelte zu ihr herum.
„Die verbannte Königin“, korrigierte er sie mit eiskalter Stimme, ganz der König.
Sie verstand nicht, woher ihr Zorn kam. Vermutlich hervorgerufen durch jenes Unverständnis, weshalb es zu dieser kruden Situation gekommen war.
„Dieser Fall muss vor ein unabhängiges Gericht gebracht werden“, forderte sie. Cherew stöhnte im Hintergrund auf. Sie trat noch einen Schritt vor. „Es muss Gerechtigkeit geben.“
„Wollt Ihr damit sagen, dass es bei mir keine Gerechtigkeit geben kann?“, fragte der König. Nun tat niemand mehr, als ob er sich mit der Karte oder taktischen Überlegungen beschäftigen würde. Stattdessen standen sie alle ihr gegenüber, eine vereinte Front.
Die Vernunft sagte ihr, als sie seine vom Zorn entbrannte Mine sah, dass sie nun zurücktreten sollte. Aber ihr Gerechtigkeitssinn gewann den Konflikt und ließ sie ihm in die Augen sehen.
„Ich kenne Euch, Majestät und ich kenne auch…Schedela.“ Sie sprach ihren Namen aus, jenen Namen, den sie alle seit dem Vorfall mieden, zwang sie sich mit der Realität zu konfrontieren.
„Was geschehen ist, ist unverzeihbar schrecklich und es tut mir sehr leid. Doch es ist unserer Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden und…“
„Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Sinamet.“ Sie zuckte zusammen. Schedmasal achtete das Gesprächsprotokoll normalerweise strikt. Dass er sie nun unterbrach, war ein schlechtes Zeichen. Aber sie konnte nicht zurück. Sie war eine Mutter, die ihr Kind verteidigte.
„Nein“, antwortete sie, „Ich glaube, dass Euer Gerechtigkeitssinn durch den Schmerz getrübt ist.“
Lautes Rufen aus den hinteren Reihen, Empörungsschreie. Doch es waren nur sie und er, die sich in diesem Moment gegenüberstanden. Er trat so nah an sie heran, dass sie das schale Bier in seinem Atem riechen konnte.
„Ich habe Euch bisher beschützt, Sinamet, auch wenn einige Stimmen mich warnten, dass ihr der Verräterin zu nahe standet.“
„Ihr Name, Majestät, ist Schedela.“
Er schüttelte den Kopf und für einen winzigen Augenblick sah sie sein verletztes Inneres.
„Ich kenne ihren Namen“, entgegnete er.
„Nein, Majestät“, meinte sie. „Ihr habt ihren Namen, ihr Sein mit dieser Tragödie überschrieben und weigert Euch sie wahrzunehmen als der, wer sie ist: Ein Mensch, der so etwas nie getan hätte.“ Stumm hörte er ihr zu und sie begann Hoffnung zu schöpfen. „Ich werde Euch helfen, diesen Fall zu untersuchen und die Wahrheit ans Licht verstehen.“
Wieder schwieg er, dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ihr versteht nicht, Sinamet. In dem nächsten Prozess wird nicht sie als Verräterin, sondern Ihr selbst vor Gericht stehen.“ Die letzten Worte hatte er laut und deutlich ausgesprochen. Höhnisches Gelächter. Feixen. Sein Rücken, der sich ihr zuwandte. Tränen auf ihren Wangen.
„Ergreift sie. Behandelt sie gut.“ Niemand schritt ein, als zwei Soldaten vorschritten und ihre Arme umfassten.
„Majestät“, rief sie ihm zu.
Noch einmal wandte er sich ihr zu.
„Ich danke dir für deinen Dienst.“
Seine Augen wandten sich um. Zwischen ihnen Cherew. Sie sah ihn an, während die Wächter sie davon zogen, doch er wich ihrem Blick aus und sah zu Boden. Er, der ihr ewige Treue und Schutz geschworen hatte, schwieg. Kein einziges Mal sah er auf, als sie der Tür immer näher kam, beachtete sie, seine beste Freundin, nicht. Schmerz. Warum nur? Versagt.