Als sie aufwachte, waren ihre Wangen nass von Tränen. Sie wusste nicht mehr, was sie geträumt hatte, aber sie wusste, dass es ein schöner Traum gewesen war und wünschte sich zurückzukehren, denn hier bestand Sinamets Welt nur aus Schmerz. Mit geschlossenen Augen lag sie da, keuchte und stöhnte. Ihr Rücken brannte wie Feuer, sodass sie versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Endlich gelang es ihr, die verquollenen Augen zu öffnen. Sie lag in Bauchlage auf einem Wolfspelz und war nackt. Dass sie nicht fror, musste an dem prasselnden Feuer liegen, das sie hinter sich hörte.
In diesem Moment hörte sie schwere Schritte und jemand beugte sich über sie.
„Du bist erwacht!“ Cherew. Sinamet schloss vor Erschöpfung und Scham die Augen. Was hatte er hier zu suchen?
Sie versuchte zu sprechen, doch mehr als ein Krächzten wollte ihr nicht gelingen.
„Hier.“ Er hob ihren Kopf an und flösste ihr Wasser ein, das kühl und erfrischend durch ihre Kehle rann.
„Welchen Tag h…“ Sie brach ab.
„Ketariastod“, antwortete er.
Zu ihrem körperlicher Schmerz gesellte sich nun ein seelischer dazu. Heute war die letzte Nacht der ihr gesetzten Frist.
„Ich muss, ich brauch.“ Er kniete sich neben sie, sodass sie sein Gesicht sehen konnte.
„Du musst dich erholen und gesund werden, Sinamet.“
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hasste es zu versagen.
„Ich kann nicht.“ Sie zischte vor Schmerz auf, als sie seine Hand auf ihrem Rücken spürte.
„Du hast großes Glück gehabt, Sinamet.“
„Glück?“, ächzte sie.
Sanft strich er ihr über die Wange.
„Glaubst du wirklich, dass du eine richtige Auspeitschung überlebt hättest?“
„Richtig?“ Wenn es nicht so geschmerzt hätte, hätte sie aufgelacht. Cherew war unmöglich.
„Klar. Ich habe Luavrak bestochen, dass er eine saubere Geißel ohne Eisenkugeln verwendet und nicht zu hart zuschlägt. Außerdem warst du nicht unwesentlich mit Havitschak-Kraut betäubt. Ohne wären die Schmerzen deutlich schlimmer.“
„Havitschak?“ Sie kannte das Kraut. Gewöhnlich hatte es einen scharfen, auffälligen Geschmack.
„Ich wette, dass das auf Befehl des Königs geschah.“ Er sah auf sie herab. Der Wein. Der süße, intensive Sommerwein musste den Geschmack überdeckt haben. „Er wollte dich nicht töten, sondern ein politisches Mahnmal setzen. Er schätzt dich, Sinamet.“
Sein politisches Gespür besaß Cherew immer noch. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Wollte jenen Ziehsohn vergessen, der nun nur noch ein König war.
„Wo sind wir?“ Sie war froh darüber, dass ihr immerhin ihre Stimme wieder gehorchte. „Die Waldhütte.“ Er sagte es mit einer beiläufigen Gleichgültigkeit, doch Sinamet zuckte zusammen. Sie wusste genau, was er damit sagen wollte.
„Was ist geschehen?“ Sie hob die Stimme. „Und was tust du hier?“
„Du bist ohnmächtig geworden, hast gefiebert. Nachdem die Strafe vollendet war, hat man dich aus dem Palast geworfen und heimlich bei einem Heiler im Hafen untergebracht. Als dein Zustand stabil war, habe ich dich hierher gebracht.
„Cherew.“ Sie versuchte sich auf die Seite zu drehen, brach aber ab, als sich der Schmerz gleich Dornen in ihren Körper bohrte. „Warum bist du hier?“
Er begann auf und ab zu laufen, wie immer, wenn er das Gefühl hatte, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben.
„Nun, ich habe einer holden Jungfrau das Leben gerettet.“
„Cherew“, stöhnte Sinamet. „Hör gefälligst auf damit.“ Früher hatte sie darüber gelacht, doch mittlerweile verstand sie nicht mehr, was sie damals an seinem Humor gefunden hatte.
„Es widerstrebt mir, einer Frau die Rettung des Königreiches zu überlassen.“ Er lächelte dabei und meinte es nicht ernst, doch Sinamet spürte dennoch, dass der Zorn in ihr erwachte.
„Die Wahrheit, Cherew“, knurrte sie.
Seine Schritte wurden schneller, rastloser.
„Es ist…“ Sein Blick senkte sich. „Ich hatte nicht geglaubt, dass ich dich jemals wieder sehe.“
„Sag bloß, dass du mich vermisst hast“, stichelte sie bissig.
Er ging nicht darauf ein und fast war sie froh darüber. Früher hatte sie ihn verstanden, jetzt hatte sie das Gefühl, ihn nicht zu kennen.
„Ich…Ich habe mich geschämt, Sinamet. Damals als du dem König gegenübergetreten bist. Du warst so mutig, so stark und ich selbst.“ Er wurde leiser. „Ich habe mich gefürchtet.“
„Ich habe mich ebenfalls gefürchtet“, gab sie unumwunden zu.
„Ja“, entgegnete er, „Doch du hast die Angst überwunden, während ich wie ein Feigling geschwiegen habe. Trotz…“ Er stocke, biss sich auf die Unterlippe und starrte sie an. „Trotz alldem was hier, was zwischen uns vorgefallen ist.“ Natürlich musste er darauf zurückkommen. Ihre Zurückweisung hatte er nie wirklich vergessen. Doch wo er sie vor Jahren scherzhaft damit aufgezogen hatte, zeigte er ihr nun nur noch den Schmerz.
Sie seufzte. „Cherew“, meinte sie sanft. „Es ist Vergangenheit.“
Hastig nickte er. „Vergangenheit, natürlich.“ Er senkte den Blick.
„Cherew“, bat sie sie ihn, „Lass es uns vergessen, ja? Lass uns einfach versuchen, diesen Krieg zu beenden.“
Ein Lächeln strich über sein Gesicht. „Du bist immer noch die Alte, Sinamet.“ Sinamet horchte in sich hinein. War sie noch die Frau von damals? Wenn sie jetzt zurückblickte, erschien ihr das jüngere Selbst wie ein Kind, das noch nichts von der Welt verstanden gehabt hatte. Erst jetzt - Ende Fünfzig - hatte sie das Gefühl, sich selbst zu verstehen.
„Nein“, widersprach sie ihm, ebenfalls mit einem Lächeln. „Die Sinamet von damals wäre zurückgeschreckt, die jetzige würde niemals aufgeben.“
Cherew hatte sich von ihr abgewandt und sie hörte, wie er Holzscheite in das Feuer nachlegte.
„Wahrlich“, meinte er, als er erneut neben ihrem Bett stand, „Das wirst du nicht.“
Für einen Moment starrte er aus dem Fenster, das sich gegenüber ihres Bettes auftat und von dem sich die Lichtstrahlen des Mondes gleich tastenden Fingern einen Weg über den Boden suchten.
Ohne sie anzublicken, erwiderte er: „Und bei allem Respekt, dein Plan einfach vor dem König aufzutauchen, ist ganz ein Teil deiner Identität. Offenherzig, ehrlich, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Ich würde ihn fast dumm nennen.“
„Du!“ Drohend wollte sie ihm die Hand entgegen halten, doch dann erinnerte sie ihr Körper mit unbarmherziger Grausamkeit an ihre Wunden und sie sank in die Kissen zurück. „Cherew“, stöhnte sie, „Mach, dass es aufhört.“
„Das“ erklärte er mit einem selbstgefälligen Grinsen, „ist nur die Konsequenz deiner Handlung.“ Wieder einmal kam jeder Zorn, den sie nur bei ihm empfand, in ihr hoch. Sie konnte ihm nicht böse sein, nicht wirklich zumindest. Er machte sich Sorgen um sie, das verstand sie, nur würde er das nie zugeben.
„Jetzt sag mir doch endlich, wie du es getan hättest!“, knurrte Sinamet ungeduldig.
„Ich würde mir eine Gelegenheit suchen, wo der König alleine ist und keine neugierigen Zuschauer dich und ihn stören könnten.“
Sinamet verdrehte die Augen. „Was meinst du, was ich versucht habe und weshalb ich dich um Hilfe gefragt habe? Die Bewachung des Palastes ist unvergleichlich gut.“
Wieder schenkte er ihr dieses unglaubliche Grinsen. Er hatte bereits einen Plan entworfen und genoss es, sie zappeln zu lassen.
„Ich weiß. Schließlich beruht die Bewachung auf meinen Plänen und…“
„..genau deshalb hätte ich dich gebraucht, Cherew. Ich wollte den König unbemerkt sprechen, doch ohne jemanden, der alle Kniffe und Ecken des Palastes kennt, war das unmöglich.“
Cherew zuckte zurück und sie las das Schuldbewusstsein auf seinem Gesicht. Sein Hund kroch an seine Seite und leckte ihm die Hand ab.
„Außerdem“, fuhr sie fort, ohne darauf zu achten, „habe ich den König alleine sprechen können, nachdem er mich hat unter Bewachung stellen lassen. Zugehört hat er mir dennoch nicht.“
„Sinamet? Welcher Tag ist heute?“ Nun war die Unbeschwertheit aus seiner Stimme gewichen, stattdessen hatte er einen geschäftsmäßigen Ton aufgelegt.
Wiederum seufzte sie. „Cherew, du musst mir deinen Wert nicht beweisen. Ich kenne dich besser als jede andere Person.“ Sie kannte seine Strategien. Er hatte ihr nie Blumen gebracht, sondern wirklich außergewöhnliche Ideen gehabt, mit denen er gehofft hatte, ihre Zuneigung zu erlangen.
Fast verletzt blickte er zu ihr hinab. „Ich meine es wirklich ernst, Sinamet. Welcher Tag ist heute?“
„Der 19. des Monats. Ketariastod“, antwortete sie. „Heute ist der Tag, den Schedela mir als Frist gesetzt hat. Heute stirbt Ketarias für dieses Jahr und weicht seiner Zwillingsschwester Nomikat. Für eine Stunde werden sich ihre Bahnen kreuzen.“
„Ja!“ Mit einem Lächeln beobachtete sie die weitläufige Handbewegung, die er ausführte und seine aufgeregten Schritte. „Und was pflegt König Schedmasal an diesem Tag zu tun?“
„Ich weiß es nicht, Cherew“, gab sie zu, „Ich habe die letzten Jahre im Wald gelebt, ohne viel von der Außenwelt zu erfahren.“
Für einen Moment hielt Cherew in seinen schnellen Schritten inne. „Er jagt. Jedes Jahr bricht er am heutigen Tag auf, um Liowir, den König der Tiere zu jagen.“
„Den weißen Wolf“, flüsterte Sinamet. Sie spürte wie die Cherews Erregung auf sie überging. Sie blickte ihn an. „Der Legende nach gewährt er demjenigen, der ihn fängt, ein Geschenk.“
Er nickte. „Und wir wissen beide, welches Geschenk er zu erhalten hofft.“
„Wenn es uns gelingt, ihn von den anderen zu trennen und zu einem Ort zu führen, an dem Schedela wartet…“ Aufgeregt wollte sie sich im Bett aufsetzen, bis der Schmerz sie wieder zurück zwang. „Das könnte funktionieren.“
„Das Problem ist“, meinte er mit einem Schulterzucken, „Dass wir nicht gewährleisten können, dass Liowir auftaucht.“
Sein Hund begann zu winseln und lief schwanzwedelnd zu ihrem Lager, um ihr die herabhängende rechte Hand abzulecken. Sie hob ihre Hand und kraulte Tariak die Ohren.
Eine Idee reifte in ihren Gedanken heran.
„Schedelas Ehemann ist ein Illusionsmagier. Ich glaube nicht, dass es allzu schwer ist, die Illusion eines weißen Wolfes zu erschaffen.“
„Ich wusste nicht einmal, dass sie geheiratet hat“, meinte er nachdenklich.
„Seit Beginn des Krieges. Ich hatte danach für einige Zeit noch Kontakt zu ihr. Es ist einer ihrer Generäle.“
Er lachte auf. „Und Schedmasals Strategen haben sich die ganze Zeit Sorgen über eine politische Heirat gemacht.“
„Er soll ein sehr guter Stratege und General sein“, meinte sie, lächelte jedoch ebenfalls. „Es ist klug von ihr, ihn an sich zu binden.“
„Doch bringt er keine Massen an Truppen in die Ehe.“
„Nein“, entgegnete sie, „Doch vielleicht war es auch nie Schedelas Wille, diesen Krieg zu gewinnen.“
„Vielleicht.“ Cherew zuckte mit den Schultern. „Wenn wir Schedela und Schedmasal aufeinander treffen lassen, werden wir es erfahren.“
„Heute Nacht.“
„Heute Nacht“, bestätigte er.
Seltsam zufrieden und glücklich darüber endlich einen Plan zu haben, legte Sinamet den Kopf auf ihr Kissen und schloss für einen Moment die Augen.
„Wir müssen Schedela informieren, damit sie ein Portal nutzen kann“, murmelte sie schläfrig.
„Wie?“ Sie spürte, wie er sich über sie beugte.
„Ihr Hirsch wird dich finden.“
„Gut.“
Cherew hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann wandte er sich ab und verließ die Hütte.
Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.