Der Mond spiegelte sich in dem kleinen Bach, der leise dahin plätscherte. Sein silbernes Licht verfing sich in den hellblauen Blüten, die an seinem Ufer wuchsen und nun weit geöffnet waren, um mit ihrer Schönheit die Nachtfalter anzuziehen. Die Rufe der Vögel hallten durch den Wald, Flügel flatterten im Dickicht und Äste knackten. Der Wald pulsierte trotz der äußeren Ruhe von Leben.
Leben, das die Frau, die am Rande der Lichtung nahe des Baches stand, nicht zu berühren schien. Still stand sie da, den Blick hinter den geschlossenen Lidern in eine Ferne gerichtet, die nur sie sehen konnte, die Gedanken verloren an lange vergangene Ereignisse. Und doch waren ihre Sinne so präsent, dass sie den Hirsch bemerkte, kaum dass er auf die Lichtung getreten war. Dennoch ließ sie die Augen geschlossen, versuchte allein anhand der Bewegungen des Tieres sein Aussehen zu erahnen. Gemächlich schritt er über das Gras, langsam als wäre jeder einzelne Schritt bedacht. Sie hielt inne, fokussierte sich noch mehr auf das, was nun geschah. Der Hirsch graste nicht, wie es ein anderes Tier vielleicht getan hätte, stattdessen kam er zielbewusst näher. Sie konnte seine mächtige Präsenz spüren, als er neben ihr stehen blieb. Sie hörte die Luft, die seinen Nüstern entwich, das leise Scharren der Hufe, als er neben ihr stehen blieb. Erst jetzt öffnete sie die Augen und blickte in die Seinen. Wissen. Es strahlte ihr entgegen. Tiefes, uraltes Wissen, gesammelt in den langen Jahren der Vergangenheit. Er blickte sie nur an und sie ihn. Es war so viel mehr hinter den Schleiern seiner Seele als ein Tier. Sie. Ihr Wissen, ihre Hand, deren Schatten sie immer noch auf seinem Fell spürte. Sie, deren Namen sie acht Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte.
„Hat sie dich geschickt?“, fragte sie leise und in dem Bewusstsein, das das Tier sie verstand.
Der Hirsch senkte den Kopf, sie spürte fast wie sein Geweih ihren Arm entlang strich. Dann setze er sich in Bewegung. Sie folgte ihm, langsam und bedacht, nicht so schnell wie sie es in jüngeren Jahren getan hätte. Für einen Moment hielt er am Bach an, doch kaum dass sich sein Spiegelbild gezeigt hatte, schritt das Tier schon wieder fort.
„Es ist zu unruhig, nicht war?“, murmelte sie mehr zu sich selbst.
Sie folgte dem Hirsch bis zu einer Quelle. Hier war das Wasser ruhig und nicht aufgeschäumt wie am Bach. Stattdessen Stille.
Die Frau straffte die Schultern, dann trat sie so nah an die Quelle, bis sich ihr Bild im Wasser spiegelte. Für einen Moment meinte sie etwas wie ein Kräuseln in der Luft zu spüren, wie ein zweites Bild, das sich über ihre Wahrnehmung schob, doch dann geschah nichts weiter.
„Natürlich.“ Sie seufzte. Manchmal vergaß die Frau, dass sie kein kleines Kind mehr war, das unüberlegt in die Welt hinausstürzte, sondern Schutzmechanismen um sich errichtete.
Sie blickte zu dem Hirsch.
„Kennst du den Schlüssel?“, fragte sie ihn leise und schüttelte noch im gleichen Moment den Kopf. Sie mochte ihn geschickt haben, aber dennoch blieb ein Tier ein Tier. Doch dieses Tier hatte sie gefunden, ihr allein durch seine Anwesenheit eine Botschaft überbracht, die nur sie verstehen konnte. Und wenn…Sie beugte sich über das Wasser, tauchte den Finger hinein und sprach gleichzeitig ihren eigenen Namen aus.
Sogleich wechselte das Bild. Die Wolken wichen einem Vorhang, die Wiese einem Teppich und sie selbst, sie selbst wurde zu ihr. Neun Jahre.
„Sinamet“, meinte ihr Gegenüber und schwieg. „Du siehst müde aus.“
„Ich bin müde“, gab Sinamet ohne ein Zögern zu, „Ihr seht ebenfalls müde aus, Majestät.“ Das letzte Wort fügte sie erst nach einem Moment des Innehaltens hinzu. Dennoch war es ihr wichtig, ebenso wie die Anrede. So als müsste sie sich selbst von einer Wahrheit überzeugen, die ihr Herz immer wieder vergessen wollte.
Die Frau, die ihr aus dem Teich entgegenblickte, zog eine Augenbraue hoch. Vermutlich dachten sie gerade dasselbe: Es war einfacher gewesen, als ihre Majestät Schedela noch ein Kind gewesen war. Jetzt dagegen war sie eine Königin, die von dem Mann, an den sie gebunden war, vom Hof verbannt worden war. Königin. Hinter der Fassade sah Sinamet immer noch das Kind, das sie einst gewesen war, doch von Jahr zu Jahr wurde es schwieriger. Schmerz zeigte sich nun, wo einst Freude regiert hatte, Verbissenheit hatte Leichtigkeit ersetzt, Unnachgiebigkeit die Fähigkeit zu vergeben.
Sinamet musterte die Königin, die ihr die Tochter gewesen war, die sie selbst nie geboren hatte.
Schedela saß auf einem eindrucksvollen Stuhl, deren Armlehnen springende Löwen zeigten. Filigrane mit Silber bestickte Vorhänge in verschiedenen Blautönen bewegten sich hinter ihr im Wind. Mehr war in dem Bild, das sich im Wasser abzeichnete, nicht zu erkennen. Wo mochte sie sein? Es war kein Feldlager, so viel war sicher. Ob sie diese Kulisse mit Absicht gewählt hatte, um Sinamets mütterliches Herz zu beruhigen, ihr zu zeigen, dass ihrem Schützling keiner Gefahr drohte? Oder gar, damit sie keine Informationen über ihren Aufenthaltsort aus dem Bild ablesen konnte? Was es auch sein mochte, allein die Tatsache, dass Schedela den Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, beunruhigte sie mehr, als sie es zuzugeben gewillt war.
Dennoch stellte sie keine Fragen, sondern verharrte in dem Bild, das sich ihr darbot. Die Königin trug eine beeindruckende Robe, die sicherlich nicht zum Reiten geeignet war. Lagen aus rotem Stoff in verschiedenen Tönen waren übereinander drapiert, raschelten bei jeder Bewegung und legten sich gleich Wellen neu um ihren Körper. Über der Hüfte war das Kleid gerafft und ging in eine einzige Schicht roten Stoffes über, die mit Goldstickereien und Perlen verziert war. An das Schultern ging das Kleid in ein dünnes Gestell über, das wiederum mit Perlen besetzt war und um Schedelas Hals gewunden war. Nur die Krone, die sie trug, wollte nicht zu dem extravaganten Erscheinungsbild passen. Ein schlichter Ring aus Eisen war zwischen den schwarzen Haaren, die zu einer komplizierten Hochsteckfrisur gesteckt waren, zu erkennen. Eisen. Kein Gold. Man erzählte sich, dass die Königin ihn solange tragen würde, bis die Krone, die ihr vorenthalten wurde, wieder die ihre war. Und als Sinamet ihr nun in die Augen blickte, glaubte sie diesem Gerücht. In dem schmalen Gesicht, das manch einer als zu zart und schwach empfinden würde, fand sie eine Stärke und Unerbittlichkeit, das sie zurückschrecken ließ.
„Ihr seht ebenfalls müde aus, Majestät“, wiederholte sie leise.
Die Königin, die sich den Thronnamen Tikwalas gegeben hatte, senkte leicht den Kopf.
„Krieg, Sinamet“, meinte sie, „ermüdet.“
„Dann solltet Ihr ihn nicht führen“, erwiderte ihre ehemalige Erzieherin.
Ihre Augen blitzten. „Dann sollte der König mir mein Recht nicht vorenthalten.“ Oh ja, dachte Sinamet, streiten hatte Schedela schon immer gut gekonnt. Nur wo sie damals noch mit Stöckern gespielt hatte, verschob sie jetzt Armeen auf dem Spielfeld der Macht.
Die Königin Tikwalas seufzte kurz darauf. „Ich habe nicht nach dir verlangt, um mit dir über Recht und Unrecht zu streiten.“ Verlangt. Auch über dieses Wort ging Sinamet kommentarlos hinweg.
„Natürlich nicht“, entgegnete sie leise. Natürlich würde Schedela nie über den Schmerz sprechen, verursacht durch den König, der sie verbannt hatte, kaum dass sein Vorgänger auf dem Thron tot war. Neun Jahre. Einst war sie des Nachts zu ihrer Erzieherin gekommen, wenn ein Albtraum sie gequält hatte, doch die Zeit hatte Vertrauen geraubt.
„Ich habe dich geschickt, damit du zum König gehst und ihm eine Nachricht für mich überbringt.“ Nichts hätte für Sinamet unerwarteter sein können. Nichts riskanter.
Sie blickte die Königin an.
„Ich wurde vom Hof verbannt, Majestät, ebenso wie…“ Sie schluckte das ‚Ihr’ herunter. „…so viele.“
„Ich weiß, Sinamet“, entgegnete sie schlicht.
Ihre Erzieherin schüttelte den Kopf. „Ich wurde verbannt, Majestät“, wiederholte sie, „unter Androhung des Todes. Ich habe nicht acht Jahre Menschen gemieden, um jetzt in einem Moment all den Frieden aufzugeben, den ich mir erarbeitet habe.“
Erneut blitzten ihre Augen. „Frieden, Sinamet, ist ein Luxus, den sich nur die Wenigsten leisten können.“ Schedelas Augen waren grau. Grau wie die Gewitterwolken, die sich kurz vor dem Regen am Himmel zusammenzogen.
„Verzeiht mir, Schedela“, spezifizierte Sinamet sich, „doch ich war nie gewillt, zwischen Euch und ihm zu entscheiden, sondern bemüht zu verhandeln.“
„Verhandlungen, die geniale Ergebnisse erbracht haben, wie man sieht.“ Spott. Er schmerzte mehr, als Sinamet gedacht hätte. Vielleicht tat es ihrem Gegenüber leid, doch Schedela war schon immer zu stolz gewesen, um Fehler zuzugeben.
„Ich habe Fehler gemacht, gewiss“, entgegnete Sinamet und blickte ‚ihrem’ Mädchen ohne zurückzuweichen in die Augen, „aber Neutralität zu wahren ist keiner davon gewesen.“
Die Königin legte die Hände übereinander. Es war eine der ersten, größeren Bewegungen, die sie während des Gesprächs ausgeführt hatte. Ansonsten saß sie fast regungslos in dem Stuhl mit den springenden Löwen.
„Neutralität“, fuhr sie fort, „ist ehrenhaft. Doch bringst du niemanden etwas, wenn du deine Zeit im Grenzwald vergeudest.“
„Ich vergeude meine Zeit nicht.“ Nun wurde auch Sinamets Stimme schärfer. „Ich studiere die Wunder und Herrlichkeit der Natur.“ Erst jetzt nahm sie wahr, dass der Hirsch, der sie hierhergeführt hatte, verschwunden war. Dieses Gespräch vereinnahmte alle ihre Sinne und Kapazitäten. Kein gutes Zeichen.
„Das mag eine gute Beschäftigung sein“, gab Schedela zu, „doch nutzt sie den Toten und Sterbenden dieses Krieges nicht.“ Diplomatie war nie Schedelas herausragenste Fähigkeit gewesen, doch jetzt hörte Sinamet ihren Vater aus ihren Worten heraus. Und diese Worte trafen sie mehr, als sie erwartet hätte, sprachen Vorwürfe aus, die sie sich schon lange selber machte.
„Es ist nicht fair, mir die Schuld an den Toten zu geben“, protestierte sie schwach. Sie war so müde und wollte nur noch zurück in ihre Hütte. Nur ein winzig kleiner Teil von ihr forderte sie auf zu bleiben, wieder gut zu machen, wo sie damals versagt hatte, herauszufinden, was Schedela wollte.
Die Königin neigte den Kopf. „Nein und ich gebe sie dir nicht, sondern dem König, der mir meine Krone vorenthält.“ Und Ihr habt diese Toten wissentlich in Kauf genommen, dachte Sinamet, doch würde sie es nie wagen, sie auch auszusprechen. Sie mochte die Frau vor sich erzogen haben, aber Schedela war eine Königin mit ihrem ganzen Wesen. „Wir können die vergangenen Opfer des Krieges nicht rückgängig machen, aber gemeinsam können wir die zukünftigen verhindern.“
Im Wissen, das sie verloren hatte, schloss Sinamet kurz die Augen.
„Und wie stellt Ihr Euch das vor?“
Schedela lächelte leicht. „Du wirst zum König gehen und ihn überzeugen, sich mit mir zu treffen.“
„Warum ich?“ Nun stellte sie diese Frage doch. „Jeder Eurer Offiziere wird ebenso vor den König vorgelassen werden.“
„Ja, sie würden vorgelassen werden“, gab Schedela zu, „Aber er würde Ihnen nie zuhören.“ Sie sah ihre alte Erzieherin an und Sinamet erschauderte unter ihrem starken, unnachgiebigen Blick. „Nur dir wird er zuhören.“
Der Rest von Widerstand kapitulierte. Letztendlich war es diese simple, logische Wahrheit, die Sinamet überzeugte. Der König würde ihr zuhören wie keinem Anderen.
„Nur weil er mir zuhört, heißt das weder, dass er Euren Argumenten zugänglicher sein wird, noch dass er mich wieder gehen lässt“, gab sie zu bedenken.
„Ich weiß“, bestätigte Schedela. „Deshalb ist es wichtig, dass du dir Verbündete und Helfer in der Stadt suchst.“
„Verbündete?“ Sinamet zog die Augenbrauen hoch.
„Cherew“, schlug die Königin Tikwalas vor. „Es gibt keinen besseren Kämpfer in…“
„Nein“, unterbrach Sinamet sie mit einer Endgültigkeit, die sich nur selten in ihrer Stimme fand. „Ich werde mich an die Herrin Malkat halten.“
Schedela musterte sie, dann nickte sie kurz. „In Ordnung. Solange du deine Aufgabe erfüllst, hast du freie Verfügung.“
„Majestät“, bewusst wählte Sinamet den Titel, „Was soll ich ihm sagen?“
Die Königin hielt inne, wandte den Kopf nach links und rechts, als ob sie überprüfe, ob sie wirklich allein war. Ihr Gesicht kam näher, als sie sich auf ihrer Seite über das Wasser beugte. Leise flüsterte sie ihrer alten Erzieherin die Worte zu, deren Gewichtigkeit dieser sofort bewusst war. Sie seufzte. Es würde eine schwierige Aufgabe sein, aber es war Zeit, dass die Toten ruhen und die Lebenden ihr Leben leben konnten. „Nur diese Nacht“, wiederholte Schedela, „Solange bis Ketarias endgültig stirbt. Dann erwarte ich dich und meinen Bruder. Den Ort lasse ich dir rechtzeitig zukommen.“ Für einen kurzen Moment hielt sie inne, wohlmöglich erinnerte auch sie sich soeben an die Zeit zurück, wo alles noch viel unkomplizierter gewesen war und Schedela nicht mehr als ein Kind gewesen war, das durch die Gänge jagte. „Viel Erfolg! Pass auf dich auf.“ Ihre Stimme wurde leiser.
Das Bild verblasste bereits, als Sinamet sich noch einmal herüber beugte.
„Schedela?“ Sinamet wandte sich noch einmal um. „Warum jetzt? Was hat Euch dazu gebracht, jetzt mit den Verhandlungen zu beginnen.“
„Die Wahrheit.“
Schauer liefen ihr über den Rücken.