Schedmasal zügelte seinen Hengst. Das Tier schnaubte leise, als er ihm abwesend den Hals tätschelte.
„Man hat ihn gesehen?“
„Ja, Majestät“, bestätigte der Jäger eilig. „Vor wenigen Minuten.“
Aus den Trümmern seiner Seele erhob sich ein Schmetterling, der ihm mit jedem Flügelschlag zuflüsterte, dass nun doch noch alles gut werden würde, dass er sein Versagen wieder gut machen konnte. Der Wind des Zweifels fuhr durch seine Flügel, brachte ihn zum Taumeln und zum Kämpfen. Joresch. Sein Name war der Siegesschrei, der die Zweifel verjagte und nur noch jenen einen Weg, nach dem er siegen musste, übrig ließ.
„Worauf warten wir dann noch!“ Er trieb sein Pferd, das aufmerksam die Ohren zu ihm drehte, an.
Begeistert folgten die Jäger ihm und trieben die Pferde durchs Unterholz. Es war lange her, dass sie ihren König so lebendig gesehen hatten. Über ihnen beherrschte Ketarias den Nachthimmel. Sein bläuliches Licht tanzte durch die Baumgipfel und ließ die Gesichter der Reiter bleich schimmern.
Der König sah nach oben, erblickte die helle Scheibe, die für ihn Hoffnung bedeutete. Hoffnung, die mit jeder verstreichenden Minute, versiegte. Hoffnung. Ein Wort, das ihm zuvor nichts bedeutet hatte, war jetzt der Ankerpunkt seines Lebens. Hoffnung war es, die ihn immer schneller reiten und auf die Pfotenabdrücke im Matsch starren ließ.
Das Dickicht wurde immer undurchdringlicher, die Pferde langsamer, egal wie sehr sie diese antrieben. Hinter sich hörte Schedmasal das Fluchen der Jäger und Soldaten, wenn sich ihre Kleidung in den dornigen Ranken verfing, die hier an den Bäumen emporwuchsen.
Ein weißer Schatten blitzte zwischen den Bäumen auf. Es war eine undeutliche, schnelle Bewegung, doch Schedmasal war sich sicher, Liowir erblickt zu haben. Der König der Tiere. Acht Jahre der Jagd, acht Jahre der unerfüllten Sehnsucht.
Schedmasal parierte sein Pferd durch und schwang sich aus dem Sattel.
„Ihr bleibt hier.“
Ohne ein weiteres Wort schritt er zwischen die Bäume, suchte sich seinen Weg zwischen Blaubeerbüsche und Brennesseldickichte. Irgendjemand seiner Männer fluchte leise über seine Unverantwortlichkeit, aber auch das hielt Schedmasal nicht zurück.
Fast erschien es ihm, als würde er schweben. Schweben auf jenen Erinnerungen, die nun wieder zum Vorschein kamen. Schweben auf dem Gedanken, dass er dem Sieg noch nie so nahe gewesen war. Schweben auf dem Gedanken, dass sein Sohn nur ein paar Schritte entfernt war.
Wiederum erblickte er das weiße Tier. Es stand in der Ferne auf einer Erhebung, hatte ihm den Kopf zugewandt und wirkte, als ob es ihn mustern würde. Ketarias verlieh dem Fell des Wolfes einen blauen Schimmer und zugleich eine wunderschöne Eleganz. Dann wandte sich der Wolf um und verschwand aus Schedmasals Blickfeld.
„Nein!“ Er lief ihm nach, dem fernen Schatten seiner Träume. Wie von selbst sprang er über Äste, wich Bäumen aus und erreichte endlich den Hügel, wo er an Ruinen vorbeilief. Es ging steil nach unten, der Laubwald wich den Nadelbäumen und weit unten erblickte er den Schatten eines Wolfes, der leichtfüßig über den Waldboden lief.
Schedmasal lief auf die Lichtung und stockte, als er den Wolf erblickte, der vor ihm stand und ihm den Kopf zudrehte. Die Muskeln zeichneten sich unter seinem Fell ab, sowie er einen Schritt vorwärts machte. Noch nie war der König einem solchen Tier so nahe gewesen. Pfotenabdrücke zeigten sich im weichen Schlamm, doch das weiße Fell war weder von Schmutz noch von Wunden gezeichnet. Weiß schimmerte es im Lichte Ketarias’.
Einen Schritt trat Schedmasal vor. Zuvor war er in Eile gewesen, jetzt dagegen erschien es ihm falsch, die über der Lichtung liegende Ruhe durch eine vorschnelle Bewegung zu zerstören. Der Wolf bewegte sich nicht.
„Hast du auf mich gewartet?“, fragte er Liowir leise. „Man sagt, dass du einmal im Jahr einer Person eine Gabe gewährst.“
Noch einen Schritt. Blaue Augen, die ihn anstarrten.
Ein dritter. Seine Beine zitterten ein wenig, nun, wo er dem Wolf direkt gegenüber stand und seine mächtigen Fänge sehen konnte. Die Ohren des Tieres zuckten leicht, als würde er lauschen und seine Rute bewegte sich mit einer einzigen, schnellen Bewegung, bevor sie wieder ruhte.
„Weißt du, ich glaube, dass ich gehofft habe, Antworten zu finden.“ Der König hob langsam die Hand. Es war eine merkwürdig friedvolle Atmosphäre, die sie umgab. In der Ferne zwitscherten die Vögel, doch für ihn war es kaum zu vernehmen. Wasser blubberte, als er den Fuß ein Stück bewegte und Kieselsteine knirschten. Stille. Stille in seiner Umgebung und Stille in seinen Gedanken. Die Hektik der letzten Tage, Gedanken von Hass, Schuld und Trauer wurden von jenem tiefen Frieden überdeckt, der sein Herz ruhig werden ließ. Sein ganzes Sehnen war in letzter Zeit auf diesen einen Augenblick ausgerichtet gewesen, aber jetzt wagte er es kaum, die Hand zu heben und sie auf den Kopf des Tieres zu legen. Er hatte keine Angst vor dem Wolf, dessen Maul sich direkt unter seiner Hand befand, nur Furcht, dass etwas oder jemand diesen Moment zerstören würde. Ein Moment, der für ihn Sinn hatte. Ein Moment, der weder aus Fragen noch aus Antworten bestand. Nur aus dem tiefen Wissen, dass es richtig war, was er hier tat. Seine Fingerspitzen berührten die ersten feinen, weißen Haare. Fast ging etwas wie Elektrizität aus dieser Bewegung aus, die ihm zeigte, dass diese Begegnung real und nicht nur ein Ausdruck seines tiefsten Wunsches war. Der Wolf rührte sich nicht, als seine Hand vollends auf seinem Kopf lag.
Schedmasal hatte jede Menge Geschichten über Liowir gehört, doch niemand hatte ihm sagen können, wie der König der Tiere die Wünsche erfüllte. Nun jedoch glaube er zu wissen, dass es in den Gedanken begann. Ein leichter Druck wurde auf seine Gedanken ausgeübt, sanft und fordernd zugleich, als würde jemand Einlass begehren. Er zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann ließ er seine Schutzfeste fallen.
Mondstrahlen spiegelten sein Gesicht in dem Wassertümpel am Rande der Lichtung und tauchten die Szene in ein bizzares, bläuliches Licht. Vereinzelte Strahlen tasteten sich gleich Fingern auch zwischen die Bäume und berührten die einsame Gestalt, die dort stand.
Finger waren es auch, die nun vorsichtig in Schedmasals Gedanken eindrangen. Sie rührten seine Gedanken nicht an, sondern begannen vorsichtig Bilder zu formen. Zunächst waren es einzelne Fäden, doch wurden diese zunehmend dichter bis sie sich zu einem Bild seines Sohnes formten. Joresch. Das Flüstern seines Namens war die einzige Rührung, die Schedmsal sich zugestand. Szenen bildeten sich. Er sah seinen Sohn als Säugling in den Armen seiner Mutter, als kleinen Jungen, der vor seinem Vater ihm Sattel saß, als Kleinkind, das seine ersten Schritte machte. Woher? Es waren nicht seine Erinnerungen, dessen war er sich gewiss. Der Wind des Zweifels wehte durch den Frieden seiner Seele, wirbelte die Ruhe auf und ließ ihn seine eigenen Finger ausstrecken. Vorsichtig bewegte er sie vor, schlängelte sich durch die aufgespannten Fäden zu dem Geist dahinter. Etwas Animalisches war zu spüren, ein tierischer Geist, der sein Eindringen spürte und warnend aufjaulte. Der zweite Geist, den er verspürte, war nicht so schnell. Die Bilder zerplatzten, als er ruckartig gegen die Gedankenfestung anstürmte und die Person rasch die Art ihres Geistes zu verschleiern versuchte. Nicht schnell genug.
Ruckartig zog Schedmasal die Hand zurück.